Die mechanischen Katzen. Miriam Rieger
Ein Blick reichte um zu erkennen, dass er sich innerhalb dieser Abgrenzung befand. Das imposante Tor hinter dem Gefährt schloss sich wie von Geisterhand. Bender hatte bereits von solchen Apparaturen gehört: Ein komplizierter Mechanismus aus ineinander verflochtenen Zahnrädern sorgte dafür, dass Muskelkraft nicht mehr vonnöten war, um die Tür zu bewegen. Es war jedoch das erste Mal, dass Bender derartiges mit eigenen Augen sah, und er fragte sich, wieso man so viel Geld und Aufwand in eine Tür stecken mochte. Die Antwort gab er sich im nächsten Augenblick selbst: Für den Eigentümer würde Geld in dieser Größenordnung kaum eine Rolle spielen.
Bender wandte sich um. Ein Park umgab ein zweistöckiges Haus, das im Inneren vermutlich Platz für zwanzig Zimmer, Ballsaal inklusive, bot. Sämtliche Bäume und Sträucher, die den Weg säumten, waren akkurat gestutzt, kein Blatt und kein Stiel waren dem Lauf der Natur überlassen worden. Die Blumen auf den Beeten waren so angeordnet, dass sie ein komplexes Muster aus Zahnrädern ergaben. Wer auch immer hier residierte, musste eine Schwäche für Technik haben und ein Pedant sein. Beides wäre kein Problem gewesen, wenn nicht der sichtliche Wunsch des Eigentümers, mit seinem Geld zu protzen, Bender abgeschreckt hätte.
„Folgen Sie mir. Sie werden bereits erwartet.“
Ohne sich umzublicken, schritt der Fahrer auf das Haus zu. Bender folgte ihm über eine mit Statuen gesäumte Marmortreppe in das Innere des Hauses. Die Empfangshalle bestätigte den nach außen getragenen Reichtum des Gastgebers. Benders Abscheu focht einen Kampf mit seiner Neugier, der mit einem Remis sein vorläufiges Ende fand, als der Gastgeber auftauchte.
Mortimer Bender hatte in seinem Leben, das um einiges länger war, als es sein Äußeres vermuten ließ, schon viel erlebt, so dass es schwierig war, ihn zu überraschen. Dieser Tag jedoch schien alles daran zu setzen, genau dies zu schaffen. Das Auftauchen des Ungetüms war bereits ein guter erster Schritt gewesen. Der Gastgeber toppte dies.
„Herr Hellthal“, entfuhr es Bender, doch sogleich hatte er sich wieder in der Gewalt und glättete seine Züge. Dennoch umspielte ein schmallippiges Lächeln das Gesicht Hellthals. Dass sein Gastgeber ein an Geld und Macht reicher Mann und es gewohnt war, dass die Menschen nach seiner Pfeife tanzten, war Bender schon seit dem Auftauchen der Straßenlokomotive bewusst gewesen. Doch Hellthal – das war noch eine Nummer größer als erwartet. Was die Frage, warum er ausgerechnet Bender hatte kommen lassen, noch interessanter erschienen ließ.
„Ich sehe, Sie kennen mich. Damit rechnete ich.“ Es war eine Feststellung. In der gesamten Region gab es vermutlich niemanden, der noch nichts von Edgar Hellthal gehört hatte. Dabei war er vom Aussehen her eine eher unscheinbare Persönlichkeit. Von der Natur mit einer kleinen, schmalen Statur gesegnet, trug Hellthal Schuhe mit höheren Absätzen, vermutlich um die geringe Körpergröße wettzumachen. Dennoch war er immer noch kleiner als Bender, der sich selbst als nur durchschnittlich groß bezeichnete. Graumelierte, perfekt gekämmte Haare schmiegten sich um Hellthals Kopf und offenbarten Geheimratsecken. Er hatte strenge, ebenmäßige Gesichtszüge und einen Blick, der verriet, dass er, wenn schon nicht körperlich, so doch hierarchisch auf andere hinabzusehen pflegte.
„Was wissen Sie über mein Unternehmen?“ Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen taxierte Hellthal Bender.
Was andere ebenfalls wissen, war Benders erster Gedanke, den er nicht aussprach. Eine präzisere Antwort wäre wünschenswert, hätte er sicher zu Recht zu hören bekommen.
„Sie führen eines der wichtigsten Unternehmen in Traunstein und Umgebung“, begann Bender. Es klang, als schmierte er seinem Gegenüber Honig um den Mund, doch entsprach es lediglich der Wahrheit. Es gab nur ein weiteres Unternehmen, das ähnlich erfolgreich war: das Luftschiffimperium des Freiherrn von Hohenheim, das seinen Sitz in Berchtesgaden im benachbarten Landkreis hatte. Doch hielt es Bender für klüger, den Namen des Mannes, der in Sachen Macht und Einfluss Hellthals Konkurrent war, nicht in diesem Anwesen zu nennen, wenn es nicht sein musste.
„Sie entwickeln und verkaufen alles, was sich mit Zahnrädern machen lässt.“
„Ihre Beschreibung könnte konkreter ausfallen, aber da sie im Kern der Wahrheit entspricht, werde ich sie stehen lassen.“
Wie in Gedanken versunken schritt Hellthal durch den Empfangsraum, ließ dabei seine Absätze auf dem Marmorboden klappern und blieb vor einem offenen Kamin stehen, der so blitzte, dass er bestimmt noch nie ein Feuer gesehen hatte. Die Rauchentwicklung im Empfangsraum wäre vermutlich auch katastrophal geworden, da der Kamin dreiseitig offen ein gutes Stück in den Raum hineinragte.
„Ich entwickle gerade eine exklusive Produktreihe“, erzählte Hellthal wie beiläufig, doch Bender fiel auf, dass der Millionär aus dem Augenwinkel genau seine Reaktion beobachtete. Was auch immer er erwartete: bestimmt nicht den scheinbar desinteressierten Gesichtsausdruck, hinter dem Bender seine Neugierde versteckte. Dass die Produktreihe exklusiv war, fand er dabei weniger spannend als die Tatsache, dass Hellthal sich die Zeit nahm, ihm davon zu erzählen.
„Es ist eine Katze.“
Einen Augenblick hatte Bender eine echte Katze vor Augen, die Hellthal eine tote Maus vor die auf Hochglanz polierten Lederschuhe legte und ein Lob erwartete. Doch dann fiel sein Blick auf den Kaminsims, und da wusste Bender, warum sein Gastgeber sich ausgerechnet diesen Ort zum vorgeblichen Sinnieren ausgesucht hatte.
Dort saß eine bronzefarbene Katze, deren Innenleben aus Zahnrädern, Schrauben und Uhren bestand. Eine Uhr saß direkt auf der Stirn, knapp oberhalb der Augen. Die Katze hatte seitlich angedeutete Schnurrbarthaare, doch hatte der Produktentwickler Nase und Maul für überflüssig empfunden. Ein Metallrohr, das aussah, als könnte es nach Belieben verkürzt oder verlängert werden, verband Kopf und den restlichen Körper. Weitere drei Uhren zierten diesen. Eine tickte auf der Brust und eine weitere kleine prangte auf der hinteren Pfote. Bei jedem anderen hätte Bender humoristische Hintergründe dafür vermutet, dass die dritte Uhr ausgerechnet seitlich am Hintern ihren Platz gefunden hatte, doch es war davon auszugehen, dass Hellthals Sinn für Humor so ausgeprägt war wie die Bescheidenheit des Anwesens. Der Katzenschwanz bestand aus etwa zehn einzelnen Stücken, die durch Bolzen zusammengehalten wurden, und sich nach oben hin zusammenkrümmten. Von einem Zahnrad, das am Hals befestigt war, hing eine Schnur herab. Scharfe Krallen an den Pfoten rundeten das Bild ab.
Bei dieser Katze gingen Eleganz und perfekt funktionierende Technik Pfote in Pfote, doch was wollte Hellthal mit ihr? Dieser Mann hatte noch nie etwas ohne guten Grund entwickelt.
Der Gastgeber ließ Bender das mechanische Tier begutachten, ehe er weitersprach: „Sie haben die Ehre, den Prototypen meiner neuesten Kreation zu bewundern.“
Mochte es als undankbar gelten, doch Bender empfand es kaum als Ehre. Vielmehr beschäftigte ihn die Frage, welche Erwartungen Hellthal an ihn hatte. Er verschränkte die Arme. „Herr Hellthal, Sie haben gewiss nicht nach mir schicken lassen, weil ich bei einem Gewinnspiel, von dem nur Sie etwas wissen, einen Rundgang mit persönlicher Führung gewonnen habe. Meine Zeit ist im Vergleich zu Ihrer sicher nicht so knapp bemessen, aber ich möchte Sie dennoch bitten, zum Punkt zu kommen.“
Hellthal warf ihm einen Blick zu, bei dem die meisten Menschen den ihren gesenkt hätten. Nicht so Bender. Ohne zu blinzeln hielt er stand, bis Hellthal sich dem Kaminsims zuwandte und die mechanische Katze herunterhob.
„Die Produktreihe umfasst momentan drei Katzen. Doch kam es zu einem unvorhergesehenen Zwischenfall.“ Hellthal legte eine Pause ein, doch Bender tat ihm nicht den Gefallen, nachzuhaken.
„Eine der Katzen befindet sich in meinem Besitz. Es handelt sich um diese. Die beiden anderen wurden gestohlen.“
Es fehlte lediglich ein mit seinen Initialen besticktes Spitzentaschentuch zur Benetzung der Stirn und ein theatralischer Ohnmachtsanfall, um die Dramatik der Szenerie zu untermauern.
„Brachten Sie den Diebstahl bereits bei der Polizei zur Anzeige?“, fragte Bender nur.
Hellthal lächelte dünn. „Ja, doch gibt es bis heute keine Resultate. Protokolle und Fotografien liegen vermutlich en masse in Ordnern, fein säuberlich beschriftet und archiviert. Aber was hilft mir das? Deswegen kommen Sie ins