Wladimir Kramnik. Carsten Hensel
Duellen musste er, trotz seines wenig ergebnisorientierten Naturells, oftmals bedingungslos auf Sieg spielen. Wenn es sein musste, war er ein gewaltiger Kämpfer. Prinzipiell ist Wladimirs Motivation jedoch eine ganz andere, denn für ihn ist Schach nicht in erster Linie Sport. Nicht umsonst hat sich sein Image als Bohemien und Künstler in einer breiten Öffentlichkeit etabliert.
Diesem Wesen entsprechend, verfügt er nicht über den höchsten Level an Energie in einem Wettkampf. Zumindest, wenn man ihn mit Weltmeistern wie Bobby Fischer oder Garri Kasparow vergleichen möchte. Wladimir ist auch nicht der Mensch, der sich unbedingt vermarkten oder vor einem großen Publikum exponieren muss. Im Gegenteil: Der Mann ist ziemlich prinzipiell in dem, was er tut, und dies soll doch bitte schön der Sache dienen. Diese Sache wiederum ist für ihn das Schachspiel, in dem er sich auf der endlosen Suche nach Wahrheit und Schönheit befindet.
Kramnik, für den Integrität und Treue die wichtigsten Eigenschaften sind, verfügt über eine gehörige Portion Emotionen. Etwas, das man dem freundlichen, auf den ersten Blick introvertiert wirkenden Russen überhaupt nicht zutraut. Für ihn standen nur in wenigen Ausnahmefällen die Ergebnisse, seine Siege und der damit verbundene materielle Gewinn im Vordergrund. Im Kern ging es ihm immer mehr um eine sehr persönliche Angelegenheit: in das Spiel einzutauchen, um dann und wann dessen unendliche Tiefe zu spüren.
Gerade weil Kramnik gar nicht so sehr auf Resultat spielte, können seine großen sportlichen Erfolge, mit drei erfolgreichen Weltmeisterschaftskämpfen als Highlights, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Hinsichtlich seiner rein schachspezifischen Fähigkeiten braucht er ohnehin den Vergleich mit keinem anderen Weltmeister oder Spitzenspieler der Schachgeschichte zu scheuen.
Viele Topgroßmeister, die mit Wladimir Kramnik trainierten, waren beeindruckt und einig, dass keiner von ihnen so viel aus einer Stellung »rausholen kann« wie Kramnik. Peter Swidler, ein russischer Top-Ten-Großmeister, der im Kramnik-Team bei der WM 2004 gegen Lékó sekundierte, drückte es so aus: »Was er alles in einer Stellung auf dem Brett sieht, ist unglaublich. Manchmal schon zu viel. Das kann im Wettkampf in bestimmten Situationen sogar hinderlich sein.«
Aus dieser einzigartigen Fähigkeit, dem besonders ausgeprägten Gespür für die Nuancen einer Schachstellung, schuf Kramnik – neben seinen triumphalen Erfolgen im Wettkampf – einen erheblichen Beitrag im Rahmen der schachtheoretischen Erweiterung vieler Eröffnungssysteme. Während seiner gesamten Karriere war er so etwas wie ein Trendsetter. Die versammelte Szene der Profispieler benutzt seine frischen Ideen in vielen Eröffnungssystemen, zum Beispiel in der Berliner Verteidigung, im Katalanen, den Sweschnikow-Systemen oder auch in der Russischen Verteidigung.
Dieser »Diebstahl« mag dem Laien unfair erscheinen, aber so geht es den kreativen Spielern seit jeher, und sie grämen sich nicht. Ihre Beiträge zur Weiterentwicklung des Spiels bleiben im historischen Sinne bestehen. Bei der Entwicklung der Schachtheorie war kein führender Spieler jemals produktiver und innovativer als Wladimir Kramnik.
Auf die Frage, ob er ein Genie sei, antwortete Kramnik dem deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel im Jahr 2004 eher bescheiden: »Ich bin ziemlich talentiert. Manchmal denke ich, ich hätte eine Stellung verstanden, doch zwei Jahre später erkenne ich, dass ich gar nichts verstanden habe. Das ist das Geheimnisvolle am Schach. Wirklich faszinierend. Man hat ein kleines Brett mit 64 Feldern, doch ist es manchmal so tief, dass nicht einmal zehn Kramniks wissen können, welcher Zug der beste ist. Man fühlt sich dann einfach nur verloren. Man spürt eine derartige Tiefe, es gibt einfach keinen Grund, den man erreichen kann.«
Auf der ewigen Suche nach der Wahrheit im Schach ist sich Wladimir Kramnik seines vorprogrammierten Scheiterns durchaus bewusst. Er kann nur versuchen einzutauchen, um dem »Grund« etwas näherzukommen. Frei nach Konfuzius wird er diesen Weg zeit seines Lebens gehen. Er ist seine Passion, sein Ziel, gibt ihm Antrieb und Befriedigung zugleich.
Wladimir drückt es so aus: »Wenn ich beginne, die unglaubliche Tiefe eines Schachspiels zu verstehen, stelle ich fest, dass bestimmte Regeln verschwimmen. Ich spüre auf einmal, dass ich hier ein bisschen mehr Raum schaffen muss und dort angreifen. Doch weshalb das so ist, weiß ich nicht genau. Nach Lehrbüchern zu spielen – das reicht nur für einen gewissen Grad. Vielleicht bis zum Meister, nicht aber zum Großmeister. Auf diesem Niveau muss man das Spiel erfühlen. Es kommt zu einem.«
Für Kramnik ist Schach eine äußerst komplexe Angelegenheit. Alles spielt eine Rolle. Und dazu gehören auch Emotionen. Wenn alles um ihn herum stimmt, wenn es ihm gut geht, ist er in kreativer Stimmung. Wenn ihn etwas stört oder er schlechte Laune hat, ist es für ihn schwer, schöpferisch zu sein: eine durchaus empfindsame Seite, die sich als Angriffsfläche für seine Gegner entpuppen sollte.
Im Rahmen seiner Profikarriere verstand er es zunächst sehr lange, seine Gefühle »zu verschleiern«. Nichts war der Realität jedoch so fern wie sein jahrelanges Image als der »Iceman« oder der »Fels«. Einige seiner Konkurrenten hatten dann auch irgendwann diese hochsensible Seite an Kramnik entdeckt. Zumindest bei WM-Kämpfen, da, wo die Luft in vielfacher Hinsicht sehr dünn wird, hat man versucht, ihn genau an dieser Stelle aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und wenn es seinen Gegnern gelang, ihn aus seiner seelischen Komfortzone zu holen, geschah das mit einiger Wirkung, wie seine sportliche Biografie zeigen wird.
Doch lassen wir Wladimir zunächst selbst zu Wort kommen. Wie er Schach sieht, was für ihn Kreativität, Schönheit und Tiefe bedeutet, machte er in einem Gespräch mit Ugo Dossi, dem renommierten deutschen Maler und Objektkünstler, sehr deutlich. Wir zeichneten dieses Gespräch auf. Während der Unterhaltung begründete Kramnik sehr überzeugend, warum Schach für ihn in erster Linie Kunst ist. Jeder große Spieler habe seinen eigenen Stil ebenso wie jeder Maler. Er sei überzeugt, dass Schach den Charakter des Spielers reflektiere. Wenn etwas wie Schach, Musik oder Malerei das Wesen eines Künstlers definiere, definiere es gleichzeitig den Spielstil der Person. Kramnik: »Nehmen wir Kasparow als ein Beispiel. Er ist wie ein Tsunami, der immer weiter ansteigt und danach strebt, seinen Gegner zu ertränken. Mein Weg ist ein anderer und der Weg Anands oder Karpows wiederum nicht vergleichbar. Eine ungeduldige Person wird wahrscheinlich einen Angriff starten, der nicht bis ins kleinste Detail durchdacht ist. Ab einem bestimmten Niveau kann man wirklich die Persönlichkeit eines Spielers erkennen. In der Kunst sehe ich das ähnlich.«
Wenn Wladimir über die Schönheit des Spiels zu sprechen beginnt, leuchten seine Augen. Natürlich sei, so Kramnik, Schönheit subjektiv. Sie könne zum Beispiel in einem sehr technischen, mathematischen Spiel gefunden werden. Das sei die Schönheit der Klarheit. Schönheit könne man gleichermaßen in der Präzision sehen. Dazu seien weder Feuerwerk noch großartige Fantasie nötig. Und dann wären da die Spiele, die technisch nicht perfekt seien, aber die in ihnen liegende Einbildungskraft sei voller Schönheit. Kramnik: »Ich glaube, dass jeder Schachspieler Schönheit empfindet, wenn er gegen alle Regeln und Erwartungen agiert und die Situation meistert.«
Beispiele für Kramniks These gibt es reihenweise, als ein hervorragendes sei hier seine Blindpartie gegen Topalow in Monaco 2003 erwähnt. Als ich ihn von der Partie abholte, war er ergriffen und murmelte immer wieder: »Solch eine Schönheit, diese unglaubliche Schönheit.« Dem indischen Superstar Viswanathan Anand ging es nicht anders. Beeindruckt gratulierte er aufrichtig: »Wladimir, da ist dir ein wahres Meisterwerk gelungen.«
In diesem Spiel entwickelte sich eine Serie von Zügen, die außergewöhnlich, erstaunlich und unorthodox waren. Zum Beispiel wanderte im Mittelspiel der König des Weltmeisters über das gesamte Brett. Etwas, das sehr selten passiert. Aber in dieser Situation funktionierte das Manöver perfekt, und der König drang tief in die gegnerische Verteidigung ein. Aus der Sichtweise eines Militärs war es so, als ob der General in der ersten Reihe mit dem blanken Bajonett auf den Feind losmarschiert. Kramnik opferte, Topalow gewann Material, und die Drohung von diesem Angriff war noch nicht akut zu sehen. Dennoch entfaltete die Attacke in nur zwei Zügen ihre volle Kraft. Kramnik: »Es gab keinen Weg für ihn, das zu verhindern. Er hatte das Material, den Raum und die Zeit, aber er konnte sich schon nicht mehr verteidigen. Es war eine unglaubliche Spielsituation, unerwartet und voller Schönheit.«
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