Wladimir Kramnik. Carsten Hensel

Wladimir Kramnik - Carsten Hensel


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zeigt sich die große Stärke der ehemaligen UdSSR im Bereich der Talentförderung. Kinder, die Freude und gute Anlagen in einer Disziplin zeigten, fanden schon in jungen Jahren Strukturen mit Betreuern und Trainern vor, die sich für ihre weitere Ausbildung engagierten.

      Selbstverständlich war das gewaltige Schachtalent des Wladimir Kramnik früh erkennbar. Die weiteren Entwicklungsschritte folgten in ungeheuerem Tempo. Als Siebenjähriger zählte er bereits zu den Spielern der sogenannten ersten Kategorie, und mit acht Jahren gewann der dunkelhaarige Junge die Erwachsenenmeisterschaft von Tuapse. Das war 1984. Dabei holte er sagenhafte neun Punkte aus neun Partien. Nie mehr danach gelang ihm eine 100-prozentige Ausbeute in einem Turnier. Deshalb sagt Kramnik noch heute mit einem Schmunzeln, dass diese Leistung das beste Resultat seiner Schachkarriere gewesen sei.

      Schach war Nationalsport in der ehemaligen Sowjetunion, und in nahezu jedem Haushalt wurde es gespielt. In einer Stadt mit rund 60.000 Einwohnern im zarten Alter von nur acht Jahren die Stadtmeisterschaft, noch dazu in dieser Weise, vor allen anderen Größen zu gewinnen, macht auch heute noch sprachlos. Die Nachricht ging wie eine Schockwelle durch das Städtchen. Fortan war das Wunderkind Wladimir Kramnik eine lokale Berühmtheit und die Bewohner Tuapses mächtig stolz auf ihren genialen Sohn.

      Der hoch aufgeschossene Junge – im Erwachsenenalter sollten es stolze 1,95 Meter werden – war trotz allem zu dieser Zeit nur wenig in der Schachtheorie bewandert. In ein paar gängigen Systemen kannte er sich lediglich hinsichtlich der ersten fünf bis acht Züge aus. Dennoch erlaubte ihm sein bereits erkennbares, außergewöhnliches Positionsgefühl eine gute Entwicklung aus der Eröffnung heraus. In den kleinen Händen Wladimirs begannen seine Figuren kraftvoll zusammenzuarbeiten.

      Hin und wieder waren in seinen Partieanlagen schon klare Pläne ersichtlich. Diese herausragenden Fähigkeiten in kindlichem Alter wurden natürlich von einigen Experten der Region erkannt, nicht erst seit seinem ersten Erfolg gegen einen Großmeister. Mit zehn Jahren besiegte er im Rahmen einer Simultanveranstaltung den konsternierten Alexander Panchenko, eine bekannte Schachgröße der Region.

      Dem Staunen folgte weitere Unterstützung. Mit den Meisterspielern Orest Awerkin und Alexei Ossatschuk wurden Wladimir erstmals zwei Trainer von Rang zur Verfügung gestellt. Mit elf Jahren galt Kramnik als Meisterkandidat und war schon einer der führenden Spieler der Region Krasnodar, einem Gebiet von immerhin mehr als fünf Millionen Menschen.

      Im Jahr 1986 schlug er als Zehnjähriger mit Vadim Zaitsew erstmals einen Meisterspieler in einer seriösen Turnierpartie. Für so junge Spieler war dies im Sowjetschach ein höchst seltenes Ereignis. Danach waren für Wladimir Partieerfolge gegen hochkarätige Gegner keine Seltenheit mehr.

      

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      Allen Legenden und Trainern zum Trotz, die wichtigste Person für die Entwicklung seines Talentes war bis zum zwölften Lebensjahr sein Vater. Doch es kam der Punkt, an dem die familiäre und regionale Förderung ihre Grenzen fand. Dass Wladimir dennoch ohne jegliche Verzögerungen und Einbrüche die nächsten Schritte machen konnte, war einem Zufall und einer einzigen Person zu verdanken. Kramniks Vater arbeitete an einer Auftragsarbeit, einer Wandmalerei, im örtlichen Postgebäude und kam so mit dem Chef der Behörde, Zahar Avetisian, ins Gespräch. Sie unterhielten sich lange über Wladimir.

      Zahar Avetisian verfügte als Postchef über sämtliche Telefonnummern des Landes. Ohne dass Vater Kramnik etwas davon wusste, rief er Michail Botwinnik in Moskau an. Der Ex-Weltmeister war eine Institution und unterhielt die berühmte Botwinnik-Schachschule, eine Eliteförderung für die allerbesten Talente in der Sowjetunion. Natürlich erreichten Botwinnik und seine Mitarbeiter Tag für Tag unzählige Anfragen dieser Art, aber wirklich nur die Allerbesten der Besten bekamen eine Chance. Doch muss Avetisian, selbst ein passionierter Schachliebhaber, wohl sehr überzeugend gewesen sein. Sie einigten sich darauf, dass er Botwinnik einige Partien Kramniks schicken sollte.

      Dies geschah, Botwinnik sichtete das Material und erkannte in Partieanlage und Spielführung des kleinen Kramnik sofort dessen einzigartiges Potenzial. So war es kein Wunder, dass nur wenige Wochen nach dem alles entscheidenden Anruf des Postchefs die Familie eine Einladung nach Moskau erreichte. Ein sechswöchiges Probetraining schloss sich dort an. Wolodja oder Wlad – wie ihn seine Freunde liebevoll nennen – bestand auch diesen Test und war gerade einmal zwölf Jahre, als er 1987 in die Botwinnik-Schachschule zu Moskau aufgenommen wurde.

      Zweifellos waren diese Ereignisse im Jahr 1987 von entscheidender Bedeutung für den Verlauf der weiteren Karriere. Wenn er jedoch heute daran und an seine eigenen Kinder denkt, hat Wladimir gemischte Gefühle: »Es ist schön, so früh Bestätigung zu bekommen, und das motiviert ungemein. Aber eine normale Kindheit hatte ich nicht. Alles drehte sich um Schach. Für andere Dinge, einfach nur spielen, wie es für Kinder und Jugendliche normal ist, hatte ich keine Zeit. Jeden Tag studierte oder trainierte ich mehrere Stunden. Wenn kein Training anstand, reiste ich von Turnier zu Turnier.«

      Michail Botwinnik traf ich Anfang 1992 im italienischen Reggio Emilia beim Frühstück. Er interessierte sich dafür, dass wir die Dortmunder Schachtage zu einem Weltturnier entwickeln wollten. Wir unterhielten uns ein wenig über seine Moskauer Schachschule. Botwinnik, der bis weit in die 1980er Jahre seine Schüler noch selbst unterrichtete, wurde bei diesem Thema redselig. Als wir auf seine Schützlinge zu sprechen kamen, bezeichnete er Kramnik als das größte Talent. Es war das erste Mal, dass ich diesen Namen hörte. Jürgen Grastat, ehemaliger Dortmunder Turnierdirektor, sorgte in der Folge dafür, dass Kramnik zum A-Open der Dortmunder Schachtage 1992 eingeladen wurde. Es war eines der bestbesetzten offenen Turniere aller Zeiten, welches Kramnik zur großen Überraschung auch gleich mit einem geteilten ersten Platz gewann.

      Botwinnik hatte zu dieser Zeit schon erhebliche Probleme hinsichtlich seiner Sehkraft und seines Gehörs. Er schien mir ein sehr bescheidener Mensch, der gleichzeitig wissbegierig war und uns in dem halbstündigen Gespräch viele Fragen stellte. Ich traf ihn nie wieder, Michail Botwinnik starb am 5. Mai 1995 in Moskau.

      Übrigens feierten wir nach dem Turnier in Reggio Emilia mit dem damals 23-jährigen indischen Super-Großmeister und Weltmeisterschaftskandidaten Viswanathan Anand dessen Gesamtsieg. Anand war zu dieser Zeit noch unverheiratet und an der Seite von Albert Toby, der ihn in vielen Angelegenheiten unterstützte. Zu dieser Zeit ging es im Profischach noch ziemlich familiär und persönlich zu.

      Jürgen Grastat und ich besuchten anschließend noch eine Diskothek im Zentrum von Reggio Emilia. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und die Tanzfläche von Bodyguards geräumt. Es erschien Grace Jones in einem pelzartigen Outfit. Die Sängerin und Schauspielerin war damals auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. So führte sich die Popikone auch auf. Sie hielt zwei oder drei Solotänzchen ab, und als sie nicht mehr genügend Aufmerksamkeit erregte, zog sie beleidigt wieder ab. Die italienische Jugend durfte weitertanzen.

      Wladimir begann schon während des Jahres 1987 sein Ausnahmetalent und die Sicht Botwinniks weiter zu bestätigen. Mit nur zwölf Jahren gewann er die U16-Meisterschaft der UdSSR im aserbaidschanischen Baku durch einen Sieg in der allerletzten Partie gegen Sergei Schilow. Er befand sich in einer »Must-Win-Situation« und löste die Aufgabe bravourös. Dem blitzsauberen Schwarzsieg ging ein beeindruckendes Damenopfer voraus. Schon als Kind zeigte sich eine einzigartige Fähigkeit. Kramnik ist in der Lage, in den wirklich entscheidenden, allerletzten Momenten eines Wettbewerbs seine Kräfte zu bündeln, um wie auf Bestellung zuzuschlagen. Diese Stärke spielte er auch in seiner späteren Karriere in wirklich wichtigen Situationen wiederholt aus, und sie ermöglichte ihm gar zwei Titelverteidigungen im Rahmen seiner WMKämpfe.

      1989 führte ihn eine seiner ersten Auslandsreisen nach Aguadilla (Puerto Rico). Dort belegte er bei der U14-WM den zweiten Platz hinter dem Bulgaren Wesselin Topalow. Mit nur 15 Jahren gewann er 1990 die russische Meisterschaft in Kuibyschew. Es war das Jahr, in dem der aktuelle Schachweltmeister Magnus Carlsen aus Norwegen das Licht der Welt erblickte. 1991 holte sich Wladimir den geteilten ersten Platz beim Turnier junger sowjetischer Meister in Cherson. Im gleichen Jahr gewann er die Junioren-Weltmeisterschaft im brasilianischen Guarapuava mit neun Punkten aus elf Partien. Bei sieben Siegen und vier Remis blieb er dabei ungeschlagen.

      Die


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