Wladimir Kramnik. Carsten Hensel

Wladimir Kramnik - Carsten Hensel


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Schachverbands dennoch heiß diskutiert und löste teilweise heftige Kritik aus.

      In Russland gab es damals 40 Großmeister, und Kramnik war dieser Titel noch nicht einmal verliehen worden. Er hätte noch mehrere Jahre bei den Juniorenturnieren dieser Welt spielen können, und nun brachte er die komplette Hierarchie durcheinander. Erschwerend kam hinzu, dass durch den Zusammenbruch der Sowjetunion den Russen mit der Ukraine, Armenien oder Lettland neue, starke Gegner bei Olympiaden und Team-WMs erwachsen waren. Ein Abonnement auf Goldmedaillen gab es fortan nicht mehr.

      Kramnik durfte dennoch spielen und rechtfertigte das Vertrauen in einer Weise, dass selbst seine größten Kritiker Abbitte leisten mussten. Mit acht Siegen und einem Remis trug er an Brett vier wesentlich zum Mannschaftsgold der Russen bei. Am 25. Juni 1992, seinem 17. Geburtstag, wurde ihm das olympische Einzelgold für die beste Performance am vierten Brett verliehen. Sein Aufstieg in die erweiterte Weltspitze war so rasant, dass der FIDE keine Zeit blieb, ihm die Titel des Internationalen Meisters und des Großmeisters nacheinander zu verleihen. In Manila bekam er dann beide Titel gleichzeitig: ein Novum bis zum heutigen Tag.

      In diesen Monaten des Jahres 1992 wurde der Schachwelt auch außerhalb Russlands das immense Talent Kramniks sehr präsent. Er war unverbraucht, enorm kreativ und bereits ausgestattet mit überragender Technik. Er gehörte de facto schon zu dieser Zeit zu den besten zehn Schachspielern der Welt. Offiziell tauchte er in den Top Ten der FIDEWeltrangliste dann erstmals am 1. Januar 1993 auf, und zwar gleich an Position sechs. Bis November 2014, als er nach einem kleinen Tief kurzzeitig auf Platz elf abrutschte, sollte er in den folgenden 22 Jahren den erlauchten Kreis der zehn Spitzenspieler nicht mehr verlassen.

      Was Wladimir noch fehlte, war eigentlich nur die direkte Auseinandersetzung mit den absoluten Spitzenspielern. Bei Topturnieren und Schachweltmeisterschaften dauerhaft zu bestehen, sich dann weiterzuentwickeln, um irgendwann das volle Potenzial auszuschöpfen: Das war Kramniks Berufung, wenn auch die volle Entfaltung seiner Möglichkeiten noch einige Jahre auf sich warten lassen sollte.

      Schon Ende 1992 intensivierten sich seine Kontakte zu Deutschland. Neben der fortan regelmäßigen Teilnahme an den Dortmunder Schachtagen verpflichtete ihn der Schachbundesligist Empor Berlin. Dort stieg er schnell zur Nummer eins auf und blieb im ersten Jahr bei acht Bundesligawettkämpfen ungeschlagen.

      

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      1993 war auch das Jahr, in dem er erste Matcherfahrungen sammelte. In Cannes gewann er mit 4,5:1,5 leicht ein Duell gegen den französischen Spitzenspieler Joël Lautier. Mit dem gleichen Ergebnis besiegte er den Spanier Miguel Illescas. Mit Auxerre wurde er französischer Meister. In den Superturnieren von Dortmund und Belgrad belegte er jeweils ungeschlagen den zweiten Platz. Das Turnier in Madrid gewann er geteilt mit Wesselin Topalow und Viswanathan Anand. Nichts schien ihn mehr aufhalten zu können. In diesem Jahr besuchte ich die Turniere in Linares, Madrid, Tilburg und Groningen. Immer besser lernte ich die Szene und auch Wladimir Kramnik persönlich kennen.

      Zwischenzeitlich hatte sich der Weltmeister Garri Kasparow endgültig mit der FIDE überworfen und die Spaltung herbeigeführt. Er besiegte in London den Engländer Nigel Short mit 12,5:7,5. Der Weltverband FIDE hatte ihm zwar den Titel entzogen, aber jedermann respektierte den Russen weiterhin als den wahren Schachweltmeister. Unter der aus Anlass ihres WM-Kampfes gegründeten »Professional Chess Association« – kurz PCA – veranstalteten Kasparow und Short mit Unterstützung des Titelsponsors Intel zunächst erfolgreich ihren eigenen Weltmeisterschaftszyklus.

      1994 gelang Kramnik der erste Sieg in einer Turnierpartie gegen Garri Kasparow in Linares. Es war ein erster Meilenstein in Richtung London 2000, dem WM-Kampf der beiden russischen Spitzenspieler. In der Szene begann man bereits zu diskutieren: Würde sein außergewöhnliches Potenzial ihn bis zum WM-Titel führen? Die erste Partie gegen den Weltmeister zu gewinnen, noch dazu in einem so wichtigen Turnier, verlieh Kramnik ungeheures Selbstvertrauen. Fortan ließ er sich von Kasparow, im Gegensatz zu allen anderen Spitzenspielern, nicht mehr beeindrucken. Er sollte in der Zukunft zu Kasparows Nemesis werden. Einst würde er ihm den Titel abnehmen und bei Beendigung der Kasparow’schen Karriere gegen ihn eine positive Bilanz im seriösen, klassischen Schach vorweisen.

      Beim Intel Grand Prix der PCA 1994 in Moskau, Paris, New York und London spielte Kramnik alles in Grund und Boden. Er gewann in New York und gleichzeitig auch die Gesamtwertung dieses hoch dotierten Wettbewerbs im Schnellschach, bevor die PCA ein Jahr später in die Brüche ging.

      Der Besuch der Schacholympiade 1994 in Moskau im Hotel Kosmos bleibt unvergessen, aber nicht nur in positiver Hinsicht. Dass Russland mit einem weiteren Klasseergebnis Kramniks (acht Punkte aus elf Partien) erneut Olympiasieger wurde, sei am Rande bemerkt. Die Anarchie in Moskau war unter der Präsidentschaft Jelzins immer noch allgegenwärtig. Überfälle vor dem Hotel Kosmos auf dem Weg zur Metro waren beinahe an der Tagesordnung. Vom Hotelzimmer waren in der Nacht ständig Schüsse zu hören. Für die Sicherheit konnte der Kreml offensichtlich nicht garantieren, dafür musste man schon selbst sorgen.

      Anatoli Karpow und Garri Kasparow waren zu dieser Zeit sehr in die Schachpolitik involviert. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an die legendäre Einladung Anatoli Karpows. Man war einfach froh, ein wenig Abwechslung vom hermetisch abgeriegelten Hotel Kosmos zu bekommen. Bei minus 30 Grad warteten wir auf einen Bus, der etwa 50 Leute in eine kleine Moskauer Diskothek am Rande der City brachte. Die Diskothek war von etwa 30 Sicherheitsleuten komplett mit halbautomatischen Waffen gesichert. Auf dem Dach des Gebäudes befand sich zusätzlich eine Einheit, die im Ernstfall ein Maschinengewehr bedienen würde. Ein wenig mulmig war uns allen, aber wir wurden dafür entschädigt. Karpow – der damals erfolglos versuchte, den Franzosen Bachar Kouatly als FIDE-Präsidenten durchzudrücken – ließ sich nicht lumpen. Für unsere kleine Gesellschaft gab es kiloweise Kaviar, den feinsten Champagner und akrobatische Vorführungen des Moskauer Staatszirkus.

      Wie Moskau damals »tickte«, lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen. Der normale Eintrittspreis für das Bolschoi-Theater betrug rund 100 Rubel, was einem Gegenwert von drei, vier US-Dollar entsprach. Kaufen konnte man Karten auf normalem Weg jedoch nicht, denn die Vorstellungen waren offiziell immer ausverkauft. Irgendwann habe ich einfach auf dem Schwarzmarkt die verlangten 120 Dollar gegeben. Als ich dann in dieses weltberühmte Theater kam – es wurde wie üblich Schwanensee zur Musik von Tschaikowski aufgeführt –, sah ich den krassen Gegensatz eines ausverkauften Hauses mit seinen fast 2.000 Plätzen. Höchstens 300 Zuschauer waren tatsächlich anwesend. Ich habe hinterher erfahren, dass gewisse Organisationen die kompletten Kartenkontingente für die gesamte Saison aufkauften, um diese dann schwarz an die Meistbietenden zu vermarkten. Wenn niemand bezahlte, blieb die Vorstellung eben leer. Der Durchschnittsrusse hatte selbstredend zu dieser Zeit überhaupt keine Möglichkeit mehr, sein Bolschoi zu besuchen.

      

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      Beide Schach-Organisationen – PCA wie FIDE – begannen 1994 mit einem neuen WM-Zyklus. Kramnik stieg als Weltranglistendritter mit einem Sieg bei den von der FIDE organisierten Kandidatenwettkämpfen ein. Im holländischen Wijk aan Zee gewann er mühelos gegen den für Israel antretenden Großmeister Leonid Judassin mit 4,5:1,5. Bis dahin lief alles wie geschmiert, dann folgten zwei Niederlagen, die den 19-Jährigen wie Hammerschläge trafen.

      Zunächst verlor er im Viertelfinale der PCA-WM mit 1,5:4,5 gegen seinen Landsmann Gata Kamsky und gleich danach bei der konkurrierenden FIDE mit 3,5:4,5 gegen Boris Gelfand, der damals noch für Weißrussland startete. Wladimir galt in beiden Wettkämpfen als klarer Favorit. Naturgemäß fehlte dem jungen Kramnik noch einiges an Erfahrung in diesen Wettkämpfen, aber es gab auch noch andere Gründe für das Scheitern. Einer war sein Lebenswandel, denn dieser war zu jener Zeit alles andere als professionell.

      Mitte der 1990er Jahre lernte Wladimir den deutschen Metallhändler Josef Resch kennen. Resch, der in der ehemaligen Sowjetunion groß geworden war und nach einem Studium der Betriebswirtschaft in Deutschland wieder in Moskau lebte, sprach natürlich fließend Russisch. Er kannte die Mentalität der Leute und gewann das Vertrauen Kramniks. Wladimir besaß einerseits mit seinen 20 Jahren die intellektuelle Reife und Bildung


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