Wladimir Kramnik. Carsten Hensel
Manchmal, so Kramnik, nehme eine Partie einen unerwarteten Verlauf und Schönheit beginne zu entstehen. Schach könne man deshalb auch in einem bestimmten Maß mit der Kunstform des Tanzes vergleichen. Gegen jemanden zu spielen, der viel schwächer ist als man selbst, sei extrem unbefriedigend. Eigene Stärke könne sich nur in der Präsenz eines starken Gegners entwickeln.
Aus dieser Aussage geht auch ein großer Respekt für die Konkurrenz und deren Leistungen hervor. Diese Anerkennung ist im Übrigen ein markanter Charakterzug des 14. Schachweltmeisters. Er mag im krassen Widerspruch zur Denkweise der Mehrheit anderer Elite-Großmeister stehen, deren vornehmliches Ziel es ist, zu gewinnen. Aber Wladimir glaubt, dass sie alle, bewusst oder unbewusst, in Wirklichkeit Schönheit auf dem Brett kreieren möchten. »Ich respektiere jeden Topspieler. Jeder von ihnen ist wie ein Universum. Seine gesamte Persönlichkeit, sein Charisma und die vielen Jahre konzentrierter Vorbereitung fließen ein in sein Spiel. Sein Blick auf die Welt, die Art, wie er Schach sieht, all das kommt zusammen in seinem Schachstil. Mein Stil ist mein Stil, aber daneben können Millionen andere existieren, die zum gleichen Resultat führen.«
Kramnik geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er das Publikum miteinbezieht: »Es ist schwer in Worte zu fassen. Jede einzelne Partie ist umgeben von einer bestimmten Aura: Je wichtiger die Partie ist, umso höher ist die Spannung, und desto stärker ist diese Aura. Ich erinnere mich an meinen WM-Kampf gegen Garri Kasparow. In der entscheidenden Phase überwog eine enorme Spannung. In Russland sagen wir: Du kannst die Luft mit einem Messer schneiden. Da war kein Geräusch, kein lautes Atmen, kein Husten. Die gleiche Erfahrung machte ich in der 14. Partie gegen Lékó oder im Tiebreak gegen Topalow. Normalerweise bin ich so eingetaucht in diese Partien, dass ich gar nichts mehr mitbekomme. Aber in den Momenten, in denen ich ein wenig entspanne, habe ich diese Stille physisch gespürt. Wir waren in einem großen Spielsaal, und ich fühlte diese enorme Spannung überall, auch und ganz besonders im Publikum. Sie war greifbar. So etwas geschieht immer dann, wenn die Leute ganz tief berührt sind. Ich kann im Nachhinein nie genau sagen, wann diese Aura am stärksten während einer Partie präsent war, aber meine Leute beschrieben mir in diesen Fällen das gleiche Phänomen: Du hast eine unglaubliche Spannung in diesem oder jenem Moment produziert. Genau diese Momente sind für mich eine starke Motivation, alles zu geben. Das gelingt mir nicht immer. Aber wenn, dann erschaffe ich wahre Schönheit!«
Schach ist für Kramnik also definitiv kein Krieg. Während der Partie beschäftigt ihn die Schaffung schöner und intensiver Situationen innerhalb der Mikrostruktur des Spiels. Die Vorstellung, dass sich auf dem Brett zwei Armeen gegenüberstehen, würde ihn wahrscheinlich während einer Partie eher stören. Das Drama der einzelnen Figuren ist ihm vor und nach den Partien durchaus bewusst, niemals aber während des Spiels selbst.
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Wladimirs Stil ist sehr mit der Freude am Spiel verknüpft. Er möchte schön spielen. Schönheit erschließt sich dabei für ihn eher in der Tiefe des Prozesses Schach und weniger in einem extraordinären Geschehen: »Als Kind wäre ich gern Maler geworden, und später habe ich diesen Wunsch in mein Spiel integriert. Ich möchte kreativ sein. Auf diese Weise kann ich tiefer als gewöhnlich in die Feinheiten einer Stellung eindringen.«
Das Publikum ist für Kramnik ein weiterer wichtiger Faktor. Wenn Hunderte Menschen in den Spielsaal strömen und Millionen Schachspieler seine Partien im Internet verfolgen, ist das eine große Quelle der Befriedigung für ihn. Natürlich kann nicht jeder Schachliebhaber ganz tief in eine Partie mit all ihren Nuancen eindringen. Wenn es um Tiefe und Verständnis geht, hilft auch ein analysierendes Schachprogramm oftmals nur wenig. Kramnik findet dies jedoch nicht weiter tragisch: »Je mehr Menschen das Konzert eines Musikers besuchen, desto intensiver wird die Vorstellung auf jeden Einzelnen wirken. Wenn ich in einem Konzert bin, dann weiß ich, dass ich nur eine gewisse Tiefe beim Hören der Musik erreichen kann. Aber zu fühlen, dass die Perfektion noch um einiges tiefer liegt, als mein subjektives Erleben mir erlaubt zu realisieren, hat mich immer schon fasziniert.«
Wladimir Kramniks Lieblingsfarbe ist Blau, und wenn es ans Essen geht, liebt er das Dessert ganz besonders. Er mag doppelte Espressos, hin und wieder ein gutes Glas Rotwein und nach besonders großen Anstrengungen auch mal ein Gläschen schottischen Single-Malt-Whisky. Zu viel Alkohol soll es nicht mehr sein, seitdem im Jahr 2005 eine rheumatische Erkrankung diagnostiziert wurde, die chronisch ist und eine gewisse Enthaltsamkeit erfordert.
Kramnik ist Literaturliebhaber. Zu seinen Lieblingswerken zählen Siddharta von Hermann Hesse, dessen Schaffen er in den vergangenen Jahren für sich entdeckt hat, Der Meister und Margarita von Michail Bulgakow, Farm der Tiere von George Orwell und Generation P von Wiktor Pelewin. Er sieht sich gern Filme von Stanley Kubrick und Miloš Forman an, obwohl er im Allgemeinen lieber gute Bücher liest, als Filme zu schauen. Einfach weil es nach seiner Meinung mehr gute Bücher als Filme gibt. Als Schauspieler favorisiert er Robert De Niro, als Schauspielerin Inna Tschurikowa.
Musikalisch ist er universell interessiert, wendet sich jedoch mehr und mehr der klassischen Musik zu. Sein Lieblingskomponist ist Johann Sebastian Bach. Wladimir ist sehr gut befreundet mit einigen Virtuosen, unter anderem Vadim Repin, über den Yehudi Menuhin einst sagte: »Er ist einfach der beste und perfekteste Violinist, den ich jemals hören durfte.« Im Bereich der Malerei hat er eine Affinität für den Impressionismus und liebt die Gemälde des italienischen Malers Amedeo Clemente Modigliani.
Karpow’s Best Games war das Schachbuch, das den größten Einfluss auf ihn als Kind hatte. Aus einem einfachen Grund: In der ehemaligen Sowjetunion war es ziemlich lange Zeit das einzige Buch, welches ihm zur Verfügung stand. Als seine Lieblingsspieler benennt er in chronologischer Folge: Emanuel Lasker, Alexander Aljechin, Bobby Fischer und Garri Kasparow.
Als wichtigste Charaktereigenschaft eines Menschen sieht Kramnik seine Integrität. Wladimir Kramnik ist verheiratet mit Marie-Laure Kramnik, gebürtige Germon. Die ehemalige Journalistin der großen Pariser Tageszeitung Le Figaro lernte er im Rahmen eines Interviews im Jahr 2003 kennen. Marie-Laure und Wladimir heirateten 2007 in der russisch-orthodoxen Kirche zu Paris und sind stolze Eltern zweier Kinder: Daria und Vadim. Die Familie lebt im schweizerischen Genf.
KRAMNIK, WLADIMIR – TOPALOW, WESSELIN
Monaco 16.3.2003, Blindschach, Bedenkzeit 25 Minuten + 10 Sekunden pro Zug
1. e4 c5 2. Sf3 e6 3. d4 cxd4 4. Sxd4 Sc6 5. Sc3 d6 6. Le3 Sf6 7. f4 a6 8. Df3 Dc7 9. 0-0-0 Ld7 10. Sb3 Tc8 11. Kb1 b5 12. Ld3 Sb4 13. g4 Lc6 14. g5 Sd7 15. Df2 g6 16. Thf1 Lg7 17. f5 Se5 18. Lb6 Dd7 19. Le2 Db7 20. Sa5 Db8 21. f6 Lf8 22. a3 Sxc2 23. Kxc2 Lxe4+ 24. Kb3 La8 25. La7 Dc7 26. Db6 Dxb6 27. Lxb6 h6 28. Sxb5! Kd7 29. Ld4 Ld5+ 30. Ka4 axb5+ 31. Lxb5+ Lc6 32. Lxe5! Lxb5+ 33. Kxb5 Tc5+ 34. Kb6 Txe5 35. Tc1 Txa5 36. Tc7+! Kd8 37. Tfc1 Tc5 38. T1xc5 dxc5 39. Kc6!! Ld6 40. Kxd6 e5 41. Ta7 Kc8 42. Ta8+ Kb7 43. Txh8 1:0
Wladimir Kramnik:
»Diese Partie liebe ich sehr. Der Leser sollte wissen, dass wir sie blind und im Schnellschach gespielt haben. Jeder Spieler hatte nur 25 Minuten und zehn Sekunden Zeitgutschrift pro Zug für die komplette Partie. Das macht es natürlich viel schwieriger, Varianten zu kalkulieren.
Topalow spielte zu jener Zeit gegen e4 nur Sizilianisch und war damit sehr erfolgreich. Ich hatte zwar Initiative aus der Eröffnung, aber es ist in diesen Stellungstypen einfach, falsche Entscheidungen zu treffen, nicht nur in einer Blindpartie, sondern sogar im klassischen Schach. Ein erster wichtiger Moment war Topalows Springeropfer 22. … Sxc2. Nach 23. Kxc2 und 23. … Lxe4+ war mein König ein wenig verwundbar. Objektiv hätte Weiß besser stehen müssen, aber tatsächlich ist die Stellung nicht so einfach.
Schwarz hatte einen sehr starken Springer auf e5, der das Zentrum kontrollierte. Er wollte seine Türme auf der h-Linie aktivieren. Es gab keinen direkten Weg für Weiß, und Schwarz hatte potenziell gefährliches Gegenspiel. Ich tauschte die Damen, und danach spielte er h6, um seine Türme zu aktivieren. Wäre ihm das gelungen, wäre die Stellung sehr unklar geworden. Deshalb nahm ich auf b5, eine Entscheidung, die ich während der Partie – soweit in der kurzen Zeit und blind möglich – ernsthaft