Geist Gottes - Quelle des Lebens. Heinrich Christian Rust
ganze Volk, ja das ganze Land, ergreifen würde (Jes 32,15; 44,3; Hes 36,25–27). Die Ruach Gottes wird in der messianischen Zeit nicht nur für Israel, sondern für die gesamte Schöpfung erwartet. Der Geist Gottes würde eine neue prophetische Zeit einleiten, in der eine breite prophetische Salbung über alle Menschen ausgegossen würde. „In späterer Zeit will ich, der Herr, alle Menschen mit meinem Geist erfüllen. Eure Söhne und Töchter werden aus göttlicher Eingebung reden, die alten Männer werden bedeutungsvolle Träume haben und die jungen Männer Visionen; ja, sogar euren Sklaven und Sklavinnen gebe ich in jenen Tagen meinen Geist“ (Joel 3,1f). Petrus zitiert dieses Joelwort in seiner Pfingstpredigt (Apg 2,17) und bestätigt damit den Anbruch der neuen pneumatologisch geprägten Zeit. Aus der Wirkung des Geistes geht ein neues Gottesvolk hervor, ein Volk, das vom Geist Gottes geleitet ist und in einer prophetischen Existenz lebt. Die Zeit, in welcher der Geist Gottes nur auf einzelne Führungspersonen beschränkt sein würde, hat mit dem Pfingstereignis ein Ende gefunden.
Schon in den vorchristlich geprägten prophetischen Äußerungen wird die Wirksamkeit des Geistes deutlich, welcher diese mächtige Ausgießung an den Geisttäufer knüpfen würde (Lk 1,15.44.67; 2,25). Alle vier Evangelien berichten von der Wirksamkeit Johannes des Täufers, der als der größte unter den Menschen in der vorchristlichen Zeit gesehen wird (Lk 7,28). „Das Große an Johannes war sein einzigartiges Vorrecht, den Weg für den Christus vorzubereiten; kein anderer Prophet hatte je einen solch hohen Auftrag erhalten. Er konnte jedoch nur bis zur ‚Schwelle des Himmelreiches‘, welches mit Jesus anbrach, treten. Jesu Nachfolger sind noch bevorzugter (größer); sie waren Zeugen vom Anbruch des Gottesreiches durch Jesus Christus. Von denen aber, die zum Zeitalter der Verheißung gehörten, war Johannes der Größte; die, welche zum Zeitalter der Erfüllung gehörten, sind noch bevorzugter.“58
c.Der Messias als Träger des Geistes
Über die künftige Wirksamkeit des Geistes tauchen in den alttestamentlichen Verheißungen zwei kooperierende Aussagen auf. Zum einen wird die Ausgießung des Geistes aus der Höhe durch den Übermittler, den Messias (Geistträger) betont. Zum anderen wird dieser Geist ausgegossen auf alles Fleisch, in die Herzen der Menschen (Joel 3,1f; Hes 36,25–27). Erwartet wird eine Geistausgießung, die sich nicht nur auf einzelne Menschen, nicht nur auf einzelne Gruppen beschränkt, sondern die sozial überschreitend ist. Der Geistträger wird zum Geisttäufer. Im Zeugnis des NT laufen diese beiden Verheißungslinien zusammen in der Person von Jesus von Nazareth. Er wird als der Messias, der Geistträger und auch der Geisttäufer bezeugt.59 Jesus wurde nicht nur vom Geist Gottes gezeugt, eingesetzt und in seiner Verkündigung und seinem Wirken als ein vom Geist Gottes Bevollmächtigter gesehen. Er ist es auch, der die Verheißung der Ausgießung des Geistes erst ermöglicht. „Die Macht Gottes, Gott als Stifter des Lebens, Geist als die größte Macht, das alles bleibt jetzt nicht mehr ‚hinter‘ den Dingen, bleibt nicht transzendent und nur erahnbar, sondern diese Macht tritt sozusagen an diesem einen Punkt in den Vordergrund, in Jesus Christus.“60
Matthäus und Lukas bezeugen, dass Joseph die Mutter Jesu vor der Geburt nicht „erkannte“, also keine menschliche Zeugung stattfand (Mt 1,18; Lk 1,34f). Maria erfährt vom göttlichen Boten: „Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft Gottes wird sich an dir zeigen. Darum wird dieses Kind auch heilig sein und Sohn Gottes genannt werden“ (Lk 1,35). Matthäus bezeugt, dass Maria „schwanger war von dem Heiligen Geist“ (Mt 1,18; LU). Die Evangelisten begründen nicht, warum Jesus in dieser Weise empfangen werden sollte. Es entspricht aber der im AT mehrfach getroffenen Aussage, dass Gott schon „im Mutterleib“ handelt (Jes 44,24ff; 49,1ff; Jer 1,5; Hiob 31,15). Die Zeugung Jesu ist etwas Einmaliges. Die Tatsache, dass nur zwei Evangelisten die jungfräuliche Zeugung Jesu erwähnen, sollte uns nicht zu der Annahme führen, dass es sich hierbei um eine eigenwillige Interpretation handle. Vielmehr ist diese Art der Zeugung ein erstes Indiz für die himmlische Heimat des Messias. Es betont die Wahrheit, dass Jesus von Gott ausgegangen ist; die Geburt Jesu geschah nicht, weil zwei Menschen auf dieser Erde es wollten, sondern weil es Gottes Wille war und die Zeit Gottes erfüllt war. Die Empfängnis Jesu durch den Geist bezeugt den Anbruch einer neuen Wirklichkeit. Der Geist Gottes ist hier der Initiator.
Das ganze Leben Jesu, sein Tod und seine Auferstehung geschahen in der Kraft des Geistes. Das Geschehen am Kreuz Jesu ist nur in der Kraft des Geistes möglich gewesen. „Erfüllt von Gottes ewigem Geist, hat er sich selbst für uns als fehlerloses Opfer Gott dargebracht“ (Hebr 9,14). Durch den Geist wurde er als Sohn Gottes in der Auferstehung bestätigt (griech. orizo = bestimmen, bestellen zu etwas). „Durch die Kraft des Heiligen Geistes wurde er von den Toten auferweckt, und so bestätigte Gott ihn als seinen Sohn“ (Röm 1,4). In der Taufe stellt sich Jesus solidarisch unter die Sündenlast der Welt, die er trägt (Joh 1,29). Dass seine Taufe von Gott angenommen wurde, wird bezeugt durch das wahrnehmbare Herabkommen des Geistes auf Jesus. Alle drei Synoptiker berichten, dass sich bei der Taufe Jesu „der Himmel öffnete“ (Mt 2,16; Mk 1,10; Lk 3,21).61 Als der Geist Gottes wie in Gestalt einer Taube herabkam (evtl. als Symbol der Sanftheit und des Friedens oder auch der Unscheinbarkeit des natürlichen Lebens) und auf Jesus blieb, geschah die göttliche Anrede: „Dies ist mein geliebter Sohn, der meine ganze Freude ist“ (Mt 3,17). Die Salbung mit dem Geist bei der Taufe befähigte Jesus, seine messianische Sendung auszuführen (Lk 4,18f). Jesus wurde nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums durch diesen erkennbaren Geistempfang bei seiner Taufe von dem Täufer Johannes als der zukünftige Geisttäufer identifiziert. „Und Johannes berichtete weiter: ‚Ich sah den Geist Gottes wie eine Taube vom Himmel herabkommen und bei ihm bleiben. Wer er ist, wusste ich vorher noch nicht‘, wiederholte Johannes, ‚aber Gott, der mir den Auftrag gab, mit Wasser zu taufen, sagte zu mir: ‚Du wirst sehen, wie der Geist auf einen Menschen herabkommt und bei ihm bleibt. Dann weißt du, dass er es ist, der mit dem Heiligen Geist tauft‘“ (Joh 1,32f).
Weiterhin bezeugen die Schriften des NT die Präsenz und Initiation des Gottesgeistes in der Versuchung, die Jesus erfährt. Alle drei Synoptiker betonen, dass Jesus durch den Geist in die Wüste geführt wurde. Lukas fügt noch hinzu, dass Jesus selber „erfüllt mit dem Heiligen Geist“ war (Lk 4,1). Nach dieser massiven Versuchung wartete Satan auf andere Gelegenheiten (Lk 4,13), um Jesus von seinem messianischen Weg abzubringen. Jesus tat aber in der Vollmacht und Salbung des Geistes seinen messianischen Dienst und verkündigte den Anbruch des neuen Zeitalters, den Anbruch des Königreiches Gottes (Lk 4,18). Er verkündigte nicht nur durch Worte, sondern tat auch viele Wunder; er heilte Menschen und trieb Dämonen aus. Hierin erweist er sich als der angekündigte Messias (Jes 61,1f). Die Dämonenaustreibungen geschehen durch den Geist Gottes. Jesus sagt: „Wenn ich aber die Dämonen durch den Geist Gottes austreibe, so beginnt Gottes neue Welt jetzt – mitten unter euch!“ (Mt 12,28). Jesus erweist sich als der Stärkere, der „den Starken“ bindet und ihm seine Beute nimmt (vgl. Mk 3,27). Der messianische Geistträger ging entschlossen seinen Weg, bis nach Gethsemane, bis Golgatha. Der Geist Gottes stärkte Jesus und teilte mit ihm die Todesstunde und kraft des Geistes wurde er zu neuem Leben auferweckt (Hebr 9,14; Röm 1,4).
Der Tod und die Auferstehung Jesu machten es nun möglich, dass der Geist Gottes auch auf seine Jünger und Nachfolger ausgegossen wurde. Immer wieder hatte Jesus auf die Bedeutung des Geistes hingewiesen, wenn er die neue angebrochene Wirklichkeit des Reiches Gottes erklärte. Dem fragenden Nikodemus bezeugt er, dass ein Mensch nur durch eine neue Geburt durch „Wasser und Geist“ in das Reich Gottes eingehen kann (Joh 3,5). Im Gespräch mit der Frau am Jakobsbrunnen erklärt er: „Es kommt die Zeit – ja, sie ist schon da –, in der die Menschen den Vater überall anbeten werden, weil sie von seinem Geist und seiner Wahrheit erfüllt sind. Von diesen Menschen will der Vater angebetet werden. Denn Gott ist Geist. Und wer Gott anbeten will, muss von seinem Geist erfüllt sein und in seiner Wahrheit leben“ (Joh 4,23f). Einem Menschen, der den Heiligen Geist empfangen hat, wird verheißen, dass die Kraft des Geistes gleich wie „Ströme lebendigen Wassers“ von dessen Leib fließen werden (Joh 7,37–39; LU). Nach Lk 11,13 verspricht Jesus denen, die darum bitten, den göttlichen Geist. Auch in Verfolgungszeiten würde der Geist Gottes den Jüngern beistehen (Mk 13,10f). Am deutlichsten finden wir die Verheißung der bevorstehenden Ausgießung des Geistes bei dem Evangelisten Johannes.