Geist Gottes - Quelle des Lebens. Heinrich Christian Rust
leuchtet? Warum sind da so viele Wolken?
Alle diese Gedanken gehen mir an diesem sommerlichen Morgen in meinem Arbeitszimmer durch den Kopf und durch das Herz. Von glorreichen Erinnerungen an Momente, in denen ich die Herrlichkeit Gottes erfahren habe, falle ich in die dunklen Löcher der Ohnmacht, der Streitigkeiten. Ich sehe die Enttäuschten, die nicht mehr hoffen wollen und sich in eine Innerlichkeit und Individualisierung ihres Glaubens zurückziehen. Mal gluckse ich vor Freude an dem frischen Sprudeln der Gnadenbewegungen Gottes und dann wieder verdurste ich innerlich bei dem Anblick der offensichtlichen geistlichen Dürre in unserem Land und in dem alten Europa. Brauchen wir ein neues Pfingsten, eine neue Ausgießung des Heiligen Geistes? „Ja! Komm, Heiliger Geist! Belebe uns neu! Öffne die Quellen des Lebens für dieses dürre Land!“ Ich weine, ich bete, ich schweige.
„Kannst du schwimmen?“ Immer wieder kommt mir diese Frage in den Sinn, so als würde sie der Geist Gottes selbst in mein Herz geben. „Natürlich kann ich schwimmen, das kann doch jedes kleine Kind! Aber zurzeit sitze ich hier in meinem Schreibtischsessel, schaue aus dem Fenster und schwelge in alten Zeiten und gräme mich angesichts der vielen ungelösten Fragen, lieber Herr!“
„Kannst du schwimmen, so wie der Prophet Hesekiel?“ Ich werde hellhörig. Was ist das? Eine Frage von Gott? Musste dieser alttestamentliche Prophet denn irgendwann einmal schwimmen? Was hat das mit meinen so großen und schwerwiegenden Fragen zu tun? Ich schlage in der Bibel nach und stoße auf einen Text, der mich bis heute nicht mehr loslässt. Ein Text, der mich letztlich auch entscheidend motiviert hat, dieses Buch zu schreiben. Ich lese Hesekiel 47,1–12:
Dann führte mich der Mann noch einmal zum Eingang des Tempelgebäudes, der nach Osten lag. Dort sah ich Wasser unter der Schwelle hervorquellen. Erst floss es an der Vorderseite des Tempels entlang in südlicher Richtung, dann am Altar vorbei nach Osten. Der Mann verließ mit mir den Tempelbezirk durch das Nordtor des äußeren Vorhofs, und wir gingen an der Außenmauer entlang bis zum Osttor. Ich sah, wie das Wasser an der Südseite des Torgebäudes hervorkam. Wir folgten dem Wasserlauf in östlicher Richtung; nachdem der Mann mit seiner Messlatte 500 Meter ausgemessen hatte, ließ er mich an dieser Stelle durch das Wasser gehen. Es war nur knöcheltief. Wieder maß er 500 Meter aus, und jetzt reichte es mir schon bis an die Knie. Nach weiteren 500 Metern stand ich bis zur Hüfte im Wasser. Ein letztes Mal folgte ich dem Mann 500 Meter, und nun war das Wasser zu einem tiefen Fluss geworden, durch den ich nicht mehr gehen konnte. Man konnte nur noch hindurchschwimmen. Der Mann fragte mich: „Hast du das gesehen, sterblicher Mensch?“
Dann brachte er mich wieder ans Ufer zurück. Ich sah, dass auf beiden Seiten des Flusses sehr viele Bäume standen. Der Mann sagte zu mir: „Dieser Fluss fließt weiter nach Osten in das Gebiet oberhalb der Jordanebene, dann durchquert er die Ebene und mündet schließlich ins Tote Meer. Dort verwandelt er das Salzwasser in gesundes Süßwasser. Wohin der Fluss kommt, da wird es bald wieder Tiere in großer Zahl und viele Fische geben. Ja, durch ihn wird das Wasser des Toten Meeres gesund, so dass es darin von Tieren wimmelt. Am Ufer des Meeres leben dann Fischer, von En-Gedi bis En-Eglajim breiten sie ihre Netze zum Trocknen aus. Fische aller Art wird es wieder dort geben, so zahlreich wie im Mittelmeer. Nur in den Sümpfen und Teichen rund um das Tote Meer wird kein Süßwasser sein. Aus ihnen soll auch in Zukunft Salz gewonnen werden. An beiden Ufern des Flusses wachsen alle Arten von Obstbäumen. Ihre Blätter verwelken nie, und sie tragen für immer reiche Frucht. Denn der Fluss, der ihren Wurzeln Wasser gibt, kommt aus dem Heiligtum. Monat für Monat bringen sie neue, wohlschmeckende Früchte hervor, und ihre Blätter heilen die Menschen von ihren Krankheiten.
Dieser Fluss steht für das Leben, für die heilbringende Gegenwart Gottes. Er entspringt in der Herrlichkeit Gottes – im Tempel, wo nach alttestamentlichen Vorstellungen Gottes Schechina (dt. Ruhe, Wohnung, Geist, Herrlichkeit) wohnt. Die Schechina ist keine Eigenschaft Gottes, sondern seine strahlende und heilende Gegenwart (2Mo 40,35). Sie lässt sich nicht einsperren, auch nicht in einen neuen Tempel23. Doch dieses Leben, dieser Fluss der Heiligkeit, der Fruchtbarkeit, der Liebe und Gnade Gottes kann nicht in den starren Formen des Lebens, in Tempeln und Wohnungen festgehalten werden. Die heilende Gegenwart Gottes lässt diese Schechina unter der Tür hervorquellen. Sie fließt an einen Ort, wo man es nicht für möglich hält: dieser Lebensfluss fließt zu den dürren und versalzenen Orten, um sie fruchtbar zu machen. Der Prophet geht erstaunt diesem Fluss nach. Behutsam wird er geleitet durch einen Boten Gottes. Zunächst hat er noch Boden unter den Füßen; er hat die Kontrolle, kann messen und ermessen. Dann aber wird es patschig und das Lebenswasser steigt bis zu den Knöcheln, bis zur Hüfte und schließlich verliert er den Boden unter den Füßen. In diesem heilenden Fluss des Lebens kann man nur noch schwimmen (V. 9). Der Prophet wird mitgetragen, geradezu mitgerissen von dieser Bewegung. Heilung geschieht und ständig neue Frucht entsteht am Ufer dieses Flusses. Selbst die alten Salzpfützen der Vergangenheit werden noch dem Leben dienen.
Es ist nahe liegend, diesen Fluss, diese Quelle des Lebens mit dem Geist Gottes in Verbindung zu bringen. Gott selbst wird im AT als die Quelle des Lebens (Ps 36,10) oder als lebendige Quelle (Jer 2,13; 17,13) bezeichnet. Aus Jahwe selbst fließen Lebenskräfte zum Segen der ganzen Schöpfung (Ps 65,10). Nach dem Zeugnis des NT empfangen Menschen aus dieser Quelle „Gnade um Gnade“ (Joh 1,16; LU). Jesus spricht von der neuen Geburt durch „Wasser und Geist“ (Joh 3,5; LU). Er ist es, der mit dem Heiligen Geist „tauft“ (Joh 1,33). Der Geist wird „ausgegossen“ (Joel 3,1; Apg 2,17; LU). Der Strom des Lebens begegnet uns auch in der Sicht der Vollendung. Johannes sieht ihn als Fluss, der hervorquillt aus dem Thron Gottes und des Lammes, glänzend wie ein Kristall (Offb 22,1). Wo der Geist Gottes wirkt, entsteht Frucht (Joh 15,5; Gal 5,22f). Der „Baum des Lebens“ (1Mo 2,9; LU) taucht am Ende der Geschichte wieder als „Holz des Lebens“ auf, das in der vom Himmel herabkommenden Stadt Jerusalem stehen soll und viele Früchte zur Heilung der Nationen trägt (Offb 22,2–3). Der Geist lädt gemeinsam mit der Gemeinde in die heilende Gottesgemeinschaft ein. „Der Geist und die Braut sagen: ‚Komm!‘ Und wer das hört, soll auch rufen: ‚Komm!‘. Wer durstig ist, der soll kommen. Jedem, der es haben möchte, wird Gott das Wasser des Lebens schenken“ (Offb 22,17).
Der Geist Gottes tritt auf den Plan, der durch alle Zeiten hindurch fließt wie ein Strom des Lebens, der seine Schöpfung in die große Mission Gottes ruft. Seit Pfingsten ist er ausgegossen in die Herzen der Menschen (Röm 5,5). Er will weiterfließen zur Transformation, zur Veränderung und Heilung der vertrockneten Landschaften und der Nationen. Dieser Strom ist nicht aufzuhalten, auch nicht durch die neuen Tempelmauern der menschlichen Vernunft, der kirchlichen Erstarrung oder des Hochmutes der Menschen. Wer sich in diesen Strom hineinbegibt, der verliert schnell den Boden unter den Füßen, er muss schwimmen.
Meine Fragen, die mich an diesem sommerlichen Morgen in dem Wolkenmeer der Ohnmacht und Hoffnungsarmut versenken wollten, haben durch die Frage Gottes an mich nun eine andere Richtung bekommen. „Kannst du schwimmen?“ – „Ich weiß es nicht, mein Herr, aber ich will mich gern von diesem Strom des Lebens, diesem Geist des Lebens neu erfassen lassen!“ Die Wolken sind noch da, aber ich weiß um den Glanz und um die Schönheit des ewigen, fließenden Lichtes Gottes. Mein Tag wird hell.
Diese bewusst erfahrene Einladung des Geistes Gottes, mich ganz neu auf den tragenden und fließenden Lebensstrom einzulassen, hat nicht nur meine Gedanken erhellt, sondern sie hat mich auch ermutigt, mich mit der Quelle und den Strömungen neu zu befassen und den Erstarrungen des Lebens nicht zu viel Aufmerksamkeit zu geben. Dieses Buch soll nicht einen klagenden und lamentierenden Unterton haben, sondern ich hoffe, dass es mir gelingt, die strahlenden Kristallfarben dieser Quelle des Lebens zu beschreiben. Das wird im Rahmen eines Sachbuches nur sehr schwer möglich sein, und so mute ich meiner Leserschaft immer wieder Geschichten des Lebens zu, die komplizierte theologische Zusammenhänge häufig klarer entfalten können als viele theologische Spitzfindigkeiten. Die Vorstellung vom kristallenen Lebensstrom wird uns dabei immer wieder begleiten, gleichsam wie ein Hintergrund für die theologischen Skizzen, die zu einer missionalen Pneumatologie beitragen sollen. Es ist nicht nur eine Vorstellung, sondern eine realistische Erfahrung, dass dieser Geist in mein Herz ausgegossen ist und mich immer neu ergreifen will. Hier und da komme ich in meinen Gedanken, meinen Argumentationslinien ins Schwimmen; manchmal fehlen mir die Worte und die Metaphern und Bilder überlagern sich. Das liegt wohl in der Natur der Sache bzw. des Geistes.