Die Geisterkutsche. Heiterer Roman. Karl Friedrich Kurz

Die Geisterkutsche. Heiterer Roman - Karl Friedrich Kurz


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ist noch ungefähr alles so wie damals, als du mit mir über den Bach sprangst, als du mich in deinen Armen von Stein zu Stein trugst und ich noch zwei schwarze Zöpfe hatte, die nach Heckenrosen dufteten.“

      „Rita, Rita“, stöhnt er. „Schweig. Sei gnädig!“

      „Gewiß handelte ich töricht. Vergib, Lieber, deinem kleinen, dummen Mädchen, das sich so wenig auskennt in den Irrgängen des Lebens.“

      „Und das alles sagst du mir heute!“ ruft er heftig. „Warum quälst du mich? Bis heute hatte ich die Blumen von einem Grab …“

      „Ich konnte es dir nicht vorher verraten, Lieber. Ich wollte nicht deine Zukunft gefährden. Nach der unseligen Tat meiner Mutter.“

      „Daran bist du unschuldig.“

      „Ich weiß, ich weiß. Doch wir kamen ins Gerede. Du wärest treu zu mir gestanden. Dennoch — ich war so schrecklich arm. Gewiß, vieles wäre dennoch möglich gewesen. Mir fehlte nur Mut und Entschlossenheit, ich wagte nicht den Kampf aufzunehmen. Ja, so war ich — und so bin ich leider noch heute, verzagt und schwach der Wirklichkeit gegenüber.“

      „Du wagtest aber die weite Reise hierher“, meint er zweifelnd.

      „Die Reise wagte ich. Doch ich kam zu spät, viel zu spät. Es kann daraus nur ein Abschiednehmen werden. Ein paar Stunden bleiben uns …“

      Unter einem heftigen Schmerz duckt er sich.

      „Nein, nein! Das meinst du wohl nicht! Das wäre wenig und ungeheuer viel. Ein paar Stunden, Rita? Gütiger Gott — wie sollten wir nachher weiterleben und die Trennung ertragen?“

      „Wir werden schwer daran tragen“, gesteht sie mutlos. „Ich handelte töricht … Aber es war alle die Jahre eine Sehnsucht in mir, ein unstillbares Verlangen. Heute muß ich erkennen, daß mein Wunsch unerfüllbar ist.“ Sie besinnt sich und sagt dann ohne Scheu: „Denk an eine Blumenknospe, die es nicht verhindern kann, sondern aufbrechen muß. Ja, so war es. Die Blumenknospe weiß nicht, was mit ihr geschieht. Sie öffnet sich der Sonne. Nein, du begreifst das wohl nicht.“

      „Sei sicher, ich verstehe, wie du es meinst, die Blumenknospe und alles. Und wenn ich dich so reden höre, Rita, muß ich alles vergessen, was hinter mir liegt, und ich meine, du habest mich nie verlassen. Ja, ich denke genau so wie du. Erst in diesem Augenblicke wird mir klar, daß mein Leben nichts war und nichts sein konnte ohne dich. Nur in dir allein liegt für mich Erfüllung.“

      Mit Tränen in der Stimme wiederholt sie: „Keine Erfüllung. Kein Glück. In tausend Nächten fragte ich, was ich tun könnte, doch ich fand weder Mittel noch Weg. Mag es uns nun wieder neuen Schmerz bereiten, dennoch war es gut, daß ich zu dir kam. So konnte ich dir endlich alles sagen. Und ich durfte deine guten Worte hören. Wir wissen hinfort beide, daß wir uns nicht ganz verloren haben.“

      Er legt den Arm um ihre Schultern, und so schritten sie in die Nacht hinaus, mit gesenkten Köpfen, und jedes dachte seine eigenen Gedanken.

      „Woher kamst du, Rita?“ fragt er.

      „Weit dort unten lebte ich, auf Sumatra, in einem Ort, der Mangala heißt.“

      „Und von Mangala fuhrst du hierher?“

      „Zuerst war ich in Italien und dann in Paris. Ich fürchtete mich vor dem nordischen Winter.“

      „Wie ein Märchen klingt das. Mangala? Ich kann es noch nicht fassen — du kamst wirklich zu mir, Rita?“

      „Und kam also zu spät.“

      Darauf schweigen sie wieder.

      „Mangala?“ fragt er. „Sumatra? Darum bist du so gelb und fremdländisch in deinem Gesicht … Mangala …“

      „Die vielen, vielen Jahre unter jenem Gluthimmel blieben nicht spurlos. Das Leben ist dort so ganz anders als hier.“

      Darauf sagt er: „Du gingst von mir ohne ein Wort. Du verschwandest spurlos in der Nacht. Du hast mir nie geschrieben …“

      „Lieber Gott, das kam doch so schnell, so völlig unerwartet, und ich war so verstört. Mit meinem Vater stand es noch schlimmer. Daß meine Mutter ihn betrog, hat er nie überwinden können. Wir gleichen dem Efeu — wir sterben, wo wir uns festklammern. Mein Vater floh mit mir.“

      „Nach Sumatra?“

      „Er hatte einen Bruder dort unten, einen Pflanzer. Damit begann für uns beide ein neues Leben.“

      Eng umschlungen schritten sie dahin. Sie hatten kein Ziel. Aber sie schritten auf den alten Wegen, durch die Gärten ihrer Jugend. So kamen sie zur neuen Brücke.

      Und sie schritten über die Brücke, auf der Straße der großen Ebene zu. Der Doktor ergriff Ritas Hand und sagte dumpf: „Dämmerig, gerade und eben wie diese Straße, so lag mein Leben vor mir. Ein Leben ohne Höhen und Tiefen. Ich nahm es ohne Murren hin, als mein Geschick. Ich war nicht unglücklich, nicht einmal unzufrieden. Längst vergaß ich, daß es anders hätte sein können …“

      Rita dreht sich um und sucht in der vom schwachen Mondschein mit Silberstift gezeichneten Landschaft. „Wuchsen nicht hier einst Bäume?“ fragt sie. „Waren es nicht Buchen und mächtige dunkle Ulmen? Ein finsterer Wald schien es mir. Unser Wald.“

      „Unser Wald — auch er mußte fallen. Auch das ist Entwicklung. Es ist der gewöhnliche Lauf der Dinge. Für uns aber entwickelt sich alles so seltsam, und der gewöhnlichen Dinge Lauf wird uns schmerzhaft … Ja, und hier an dieser Stelle sollst du auch noch dieses erfahren, Rita: In unsern Wald floh ich damals. Bei Tage suchte ich unsere Zeichen in der Rinde der Bäume, und nachts tastete ich mich von Stamm zu Stamm und flüsterte deinen Namen. Ja, Rita, ich rief nach dir. Nicht viel mehr als ein Knabe war ich, doch ich litt wie ein Mann.“

      Über der fernen Ebene liegt die Dunkelheit wie ein dickes, braunes Tuch. Die Straße schimmert fahl daraus auf — ein zerfließender Strich durch bleiche Unfaßbarkeit.

      „Armes, liebes Äpfelchen“, murmelt Rita. „Du riefst nach mir, und ich hörte dich nicht. Ja, ich ahnte nicht, daß du so schwer daran trugst.“

      Vorwurfsvoll sagt er: „Wenn du mir wenigstens geschrieben hättest. Auf ein Wort von dir hoffte ich, auf ein kleines Zeichen. Dann hätte ich auf dich gewartet bis zu meiner letzten Stunde, oder ich wäre dir gefolgt bis ans Ende der Welt. Dein Schweigen veränderte meine Zukunft, und es erdrosselte meine Seele.“

      „Ich schrieb dir, Lieber!“ ruft sie. „Oh, ich schrieb dir viele Briefe, viele lange Briefe. Alles, alles gestand ich dir.“

      „Kein einziger kam in meine Hände“, sagt er ungläubig.

      „Nein, ich sandte sie nicht ab. Weil ich wußte, daß du auf mich gewartet hättest oder mir gefolgt wärst. Ich meinte, das dürfe nicht sein. Oh, ich hätte sie dennoch absenden sollen, meine Briefe. Erst jetzt verstehe ich, daß alles nur Schwäche und Feigheit war. Aber so wartete ich von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr. Worauf ich wartete, weiß ich nicht. Aber dann starb mein Onkel. Er war unverheiratet. Die Pflanzung fiel auf meinen Vater. Im letzten Winter starb mein Vater. Jetzt bin ich allein.“

      „Jetzt bist du frei?“

      „Ganz frei.“

      „Und reich …“

      „Und reich, ja. Ich versteh zwar nicht viel von Geld und solchen Dingen. Doch ich glaube, ich kann mir alles kaufen, was ich wünsche — bis auf das Glück.“

      „Und“, fragt er bang, „was wirst du nun tun?“

      „Wie?“ fragt sie erstaunt. „Ich kehre zurück nach Mangala. Was könnte ich denn anders tun? Übermorgen fahre ich nach Holland, nach Rotterdam. Am Montag geht mein Schiff.“

      „Ist das so bestimmt?“ fragt er in einem Ton, worin heiße Angst zittert.

      „So bestimmte ich es.“

      „Muß es denn sein, liebe


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