Die Geisterkutsche. Heiterer Roman. Karl Friedrich Kurz

Die Geisterkutsche. Heiterer Roman - Karl Friedrich Kurz


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      „Großer Gott — nein! Nein, für mich war es etwas Unaufschiebbares. Es ist Nacht. Ich sehe dein Gesicht nicht. Ich erkenne deine Gestalt nicht. Doch ich fühle deine gute Nähe. Du bist wieder mein kleiner, tapferer Ritter.“

      Ergriffen von unbändigem Verlangen beugt er sich vor und küßt sie. Er meint, das sei der Gipfel seines Lebens. Er meint, es sei der Abschluß seines Erdendaseins.

      In befremdender Starrheit überläßt sie sich ihm. Mit keiner Bewegung wehrt sie sich gegen seinen Sturm; aber sie erwidert nicht seine Küsse. Verwirrt fragt er: „Weinst du, Rita? Weine nicht …“

      In kindlicher Unbeholfenheit hascht sie nach seinen beiden Händen, nach seinen fieberheißen, flatternden Händen, preßt sie gegen ihr Herz und flüstert: „Achte nicht darauf. Nein, das sind keine Tränen, mein liebes Äpfelchen. Es sind ungesprochene Worte. Laß uns wieder zurückkehren, zu den Häusern, zu den Menschen, zur Wirklichkeit.“

      Dumpf, bebend vor Erregung sagt er: „Zu den Menschen? Gibt es denn für mich noch Menschen nach dieser seligen Stunde? Nein, Rita. Nur wir beide sind noch auf der Welt, nur wir beide, und dort oben der Mond, der unseren Weg beleuchtet. Laß uns jetzt auf dieser Straße weitergehen, immer weiter, bis wir uns in der Nacht verlieren. Laß uns alles vergessen, was dort hinter der Brücke liegt. Und wo der Weg zu Ende geht, wollen wir gemeinsam sterben.“ Ja, da fängt dieser Mann noch einmal an zu glühn und wird wieder zum wilden Knaben, der mit seinen Händen die Sterne vom Himmel holen möchte.

      Und sie lauscht in glücklichem Erstaunen dem Ausbruch. „Genau so warst du früher“, ruft sie zwischen Lachen und Weinen, „so hitzig und maßlos. Jetzt bist du wieder mein liebes Feuerkügelchen. Du wärest wohl imstande, eine Dummheit anzustellen. Bedenke aber, ich habe schon ein paar Silberfäden im Haar, und du, Hänschen, hast eine Frau.“

      Als er darauf finster schweigt, sagt sie noch: „Wir sind ja toll, alle beide.“

      „Sag ein Wort, Rita, nur ein kleines Wort, und ich ziehe mit dir hinaus, nach Sumatra, oder wohin du willst“, stöhnt er.

      Und das trifft. Ja, das trifft eine Stelle in ihr, die schwach ist. Ihn mit sich nehmen in ihren sonnigen Garten, das war doch ihr geheimer Gedanke. Ihre Stimme zittert; aber sie muß fragen: „Würdest du so viel wagen, Lieber?“

      Doch nun zaudert er, nur einen Pulsschlag lang. Er schrickt wohl selber zurück vor dem gewagten Sprung. Dann ruft er laut und in finsterer Entschlossenheit: „Alles wage ich für dich und unser Glück!“

      Aber sein Zaudern entging ihr nicht. Und sein Versprechen klingt nicht ganz echt. Nie zuvor hat sie an seinem Wort gezweifelt. Im Schreck preßt sie ihre Hände auf die Brust. Mit einem Ruck steht sie still.

      „Was ist denn, Rita, was?“ fragt er.

      „Nichts, nichts … Waren da Stimmen im Wald?“ Sie lauschen. Und sie hörten keine Stimmen im Wald.

      Nur der Zauber war gebrochen. Er zerbrach wohl nicht ganz, der mächtige Zauber, der die Märchenprinzessin aus ihrem Palmengarten in den rauhen Norden lockte. Nur sein Wunderglanz verblaßte ein wenig.

      Die Prinzessin sagt jetzt ruhig: „Nein, mein liebes Äpfelchen, wir wollen nicht in die Nacht hinausgehen und miteinander sterben. Und es würde dir nicht leicht fallen, dein früheres Leben aufzugeben, um ein neues zu beginnen. Die Heimat läßt dich nicht mehr los.“

      „Rita, du willst mich ein zweites Mal verlassen!“ ruft er verbittert.

      „Was kann ich dagegen tun?“ fragt sie klagend.

      „Sag, Lieber, was kann ich tun?“

      „Und wenn es schon ein Abschied sein muß, so schenk mir eine Nacht.“

      „Herr im Himmel …“, ruft sie.

      „Wir treffen uns morgen abend.“

      „Unmöglich! Wo denn? Wie?“

      „Ich hole dich in meinem Wagen ab, wenn es dunkel ist …“

      „Nein, bist du bei Sinnen? Hier, wo dich jedes Kind kennt! Man müßte uns entdecken. Und dann: welche Schande! Und wie würde es dir schaden!“

      Er verbessert sich: „Wir fahren in eine große Stadt, wo uns niemand kennt.“

      „Kannst du das? Kannst du für eine Nacht verschwinden?“

      „Wie bist du grausam, Rita!“ ruft er. „Wie bist du hart. Reiß mir das Herz aus der Brust oder schenk mir die Nacht — nur eine einzige Nacht.“ Angesteckt von seiner Verrücktheit sagt sie schnell: „Ja, ja!“ Und sie schmiegt sich an ihn und schließt die Augen. „Oh, Lieber, ich gehörte dir in tausend Nächten“, flüstert sie.

      „Rita!“ jubelt er.

      „Gehörte ich denn nicht dir von Anfang an? Aber gibt es ein Plätzchen auf der weiten Welt für uns zwei arme, verirrte Kinder?“

      Plötzlich kommt ihm ein guter Gedanke. „Morgen ist im Schwanen Maskenball. Morgen ist Freinacht. Morgen wird alles außer Rand und Band sein. Keiner wird uns beachten. Wir werden zwei Narren sein unter hundert anderen Narren.“

      So kam es. Der Märchenschimmer verblaßte. Übrig blieb das rote Abenteuer. „Ja, ja“, sagte Rita abermals. Damit waren beide bereit, die Pforte ihres Paradiesgärtleins hinter sich zu schließen. Beide waren reif zum ewigsüßen Sündenfall.

      „Alles werde ich ordnen!“ rief er begeistert.

      „Verlaß dich auf mich, Rita.“

      Der Plan mit dem Maskenball gefällt ihr. „Du mußt Danielsens Kleid tragen; er ließ es sich von der Hauptstadt kommen. Dann wird man dich für Danielsen halten, denn er ist ungefähr von deiner Gestalt.“

      „Für wen wird man mich halten?“ fragt der Doktor mißtrauisch. „Danielsen — was ist denn das?“

      „Mein Verwalter, ein Däne. Ich nahm ihn auf die Reise mit. Ein prächtiger Mensch.“

      „Du bist verliebt in ihn“, sagte er hastig und finster.

      „Ich?“ lacht sie. „Stände ich dann jetzt hier? Dummes Hänschen!“

      „Dann ist er in dich verliebt“, behauptet der Doktor eigensinnig. „Gesteh es nur.“

      „Möglich. Ja, ich glaube, daß er mich heimlich liebt, Äpfelchen. Doch er ist so schüchtern, daß er es mir nie offenbaren wird.“

      „Zur Hölle mit dem ganzen Mann Danielsen und seiner heimlichen Liebe!“

      „Du wirst morgen seine Tracht anziehen, Hänschen. Das geht fein. Übrigens weiß kein Mensch im Städtchen, wer ich bin. Ins Fremdenbuch trug ich den Namen unserer Pflanzung ein.“

      „Großartig! Dann wären wir vollkommen sicher nach allen Seiten hin!“ ruft er eifrig.

      Ja, es sei wirklich ein glänzender Einfall, meinen sie beide. „Aber jetzt laß uns umkehren“, bittet Rita.

      „Wenn es doch sein muß“, seufzt er und nickt. „Send mir das Dänenkostüm nach Endingen. Bei mir zu Hause darf ich natürlich nichts verraten.“

      „Nein, das darfst du wohl nicht“, bestätigt sie mit leisem Spott.

      „Nein, wir müssen vorsichtig sein.“

      „Wir werden sehr vorsichtig und vernünftig sein, Äpfelchen.“

      „Du erinnerst dich noch an das kleine Waldhaus an der Landstraße? Es steht heute noch ebenso verlassen wie ehemals.“

      „Morgen früh schick ich Danielsen selber hin. Er ist zuverlässig.“

      „Alles ganz ausgezeichnet!“ frohlockt er. „Abends fahr ich dann vorbei und kann mich im Wagen umziehen.“

      Da wird Rita ängstlich: „Und dein Kutscher?“

      „Ho, Martin! Martin, dieses Schaf und Murmeltier


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