Sein und Wohnen. Florian Rötzer

Sein und Wohnen - Florian Rötzer


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herrscht, die Menschen sich also bis etwa zum dritten Lebensjahr nicht konkret an ihre Vergangenheit erinnern können, ist das Dasein im Uterus zumindest ein jedem in der Vorstellung nachvollziehbares Bild eines behüteten und geschützten Lebens, für Frauen sowieso, in deren Körper ihre Kinder nach dem gewollten oder zufälligen Einnisten als Mitbewohner heranwachsen. Das Leben beginnt als ein Zusammenleben, als eine vorübergehende Wohngemeinschaft, die in der Regel mit der Entbindung oder dem Zur-Welt-Kommen auf andere Weise fortgesetzt wird. Auch wenn wir keine persönlichen Erinnerungen an das Leben in der Gebärmutter haben, so gibt es doch eine Grundstimmung des Aufgehobenseins, die unser Leben und unsere Suche nach einer Wohnung prägt, selbst wenn es sich dabei nur um ein Bild handelt, das uns eine Erfahrung suggeriert, die wir auch anderweitig von Wohnungen als geschützten Lebensräumen haben.

      Wir wachsen in der Gebärmutter, einem von außen abgetrennten und weitgehend geschützten Bereich, auf. Hier ist es weich und warm, die Umwelt, also der Uterus als Wohnung, passt sich den Bewegungen und der Größe des heranwachsenden und reifenden Kindes an und hält die Umweltbedingungen weitgehend konstant, sofern auch das Leben der Mutter in einigermaßen normalen Bahnen abläuft. Über die Nabelschnur mit der Plazenta verbunden, ist das Kind an den Blutkreislauf angeschlossen und erhält kontinuierlich Sauerstoff und Nährstoffe. Atmen muss der Fötus daher noch nicht, das entstehende Kohlendioxid wird daher nicht über die Lunge, sondern über die Nabelschnur abgegeben. Kot entsteht durch diese Ernährung über das Blut nicht, die Ausscheidung erfolgt ebenfalls über die Nabelschnur, und der nach Ausbildung der Nieren wenig konzentrierte Urin wird nach Verarbeitung und Resorption im Darm ins Fruchtwasser ausgeschieden und wieder getrunken.

      Schwerelos schwebt der Fötus im Fruchtwasser der Höhle. Erst wenn das Gehirn heranwächst, die Ohren und die Augen ausgebildet sind und der Fötus Bewegungsfähigkeit erlangt, erfährt er sich selbst und die Welt. Dann prägen sich erste Erfahrungen ein, auch traumatischer Art. Wir wissen aber nur, dass ein Fötus etwa ab dem sechsten Monat zu hören beginnt (und auch die Stimme der Mutter wiedererkennt), ab dem siebten Monaten riechen und kurz darauf auch sehen kann. Dann ist er auch in der Lage, das Fruchtwasser zu schlucken oder sich durch Nuckeln mit dem Daumen im Mund zu beruhigen und damit auf das Stillen vorzubereiten. Das Innere der Fruchtblase und das Fruchtwasser sind weitgehend steril, noch befinden sich auf und im Leib des Kindes nur wenige Mitbewohner der uterinen Mikrobiota wie Gardnerella vaginalis, Enterobacter, Streptococcus agalactiae oder andere Bakterien. Gänzlich gesichert ist der Uterus nicht, denn bakterielle Infektionen können zu Früh- oder Fehlgeburten führen. Mit der Geburt siedeln sich aber massenhaft Bakterien, Viren und Pilze als Parasiten, Symbionten und Gäste an, die den Körper als Wohnung oder Lebensraum besetzen.

      In der ersten Wohnung ist es eng, warm, dunkel und gedämpft, die Geräusche des mütterlichen Körpers dürften nur in Ausnahmefällen, wenn sie aus dem Gewohnten herausfallen, zu hören sein, von außen dringen manche Geräusche, immer wieder die Stimme der Mutter, aber auch die anderer Bekannter und Fremder, Musik oder Gemurmel ein – wie in einer Wohnung durch geschlossene Fenster und Türen. Manchmal wird es auch laut, durchzuckt ein erster Schreck vor dem, was unerkannt und unbekannt da draußen ist, das Kind, was aber schnell wieder im schläfrigen Sein vergeht. Wenn die Mutter geht und sich bewegt, schwingt und schwimmt der Fötus im Fruchtwasser mit, was auch verhindert, dass es in der Wohnung zu eng wird. Stürze und Stöße werden von der straff gespannten Gebärmutterwand und dem Fruchtwasser gemildert. Angst empfindet es dabei nur, wenn diese wirklich hart und auch für die Mutter schmerzhaft sind. Vermutlich kennt das Kind in der Gebärmutter wohl noch nicht den Unterschied von innen und außen, ist eins mit dem mütterlichen Körper – so stellen wir uns das immerhin vor.

      Mit Sigmund Freud lässt sich das intrauterine Leben als eine der Urfantasien bezeichnen, die sich bei allen Menschen finden, unabhängig von wirklich erlebten Erfahrungen. Es wäre der Ursprung des Lebens im »primären Narzissmus«, in dem es noch keine Beziehung zu einem oder etwas Anderem gibt, eine Trennung noch nicht stattgefunden hat, der Fötus eins mit seinem Körper und der Umwelt ist, ein Zustand, der im Schlaf reproduziert wird, in den die Menschen immer wieder heimkehren, bis sie schließlich diese dem intrauterinen Leben ähnliche Urwohnung der »Heim-lichkeit« verlassen und in die Welt fallen.

      Ohne Schlaf, der täglichen Wiederholung des verlorenen intrauterinen Daseins im Schutz der Gebärmutter, und mit möglichst weitgehendem Rückzug von der Außenwelt werden die Menschen krank und wirr. Die wie immer auch rudimentäre Rückkehr zur ersten Wohnung durch den Schlaf ist offenbar für Menschen, aber auch für viele Tiere lebensnotwendig und damit existentiell. Der intrauterine Zustand kann auch künstlich simuliert werden, etwa durch von der Umwelt abgeschottete »Floating-Tanks«, in denen der Mensch allen Sinnesreizen entzogen und schwerelos auf der Oberfläche von körperwarmem, also thermoneutralem Wasser, dessen Dichte durch Zugabe von Salzen erhöht wird, treibt und sich der empfundene Unterschied von Körper und Umwelt auflöst. Folge ist eine vermehrte Ausschüttung von Endorphinen und ein gelöstes, entspanntes Empfinden, das wahrscheinlich auch dem Gefühl des Fötus gleicht, der im Floating-Tank des Uterus heranwächst.

      Das Kind schwebt in der Flüssigkeit und an der Nabelschur hängend wie ein Astronaut in einem Raumanzug, sozusagen als eine mobile Ein-Mann-Station im Weltall. Die erste Wohnung ist eine Höhle, man könnte auch sagen, ein Verließ, das erste Wohnen eine Gefangenschaft in einer weitgehend vor dem Außen abgeschirmten Wohnung. Dieses Urbild des Wohnens, an das wir uns nicht wirklich erinnern, sondern das wir nur imaginieren können, ist mit der Situation des Eingeschlossenseins in einem Kerker ein paradoxes Phantasma.

      Schließlich kann auch eine Wohnung, die vor dem Außen schützt und in die man sich zurückzieht, in ein Gefängnis umkippen, aus dem man nicht mehr herauskommt. Die Angst, eingeschlossen zu sein und unbedingt nach draußen zu wollen, könnten auch Föten entwickeln, die am Ende der Schwangerschaft immer weniger Platz im Uterus finden und entsprechend in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind. Sie schweben dann nicht mehr, auch wenn sie sich noch ein wenig drehen können, und stoßen mit ihren Bewegungen nun gegen die Rippen, was ihnen und der Mutter Schmerzen bereiten kann. Zum Schluss wird es immer enger, die Bewegungen können nur noch langsam erfolgen, das Kind ist im Regelfall bereits kopfüber in die Startposition im Geburtskanal eingequetscht. Für Mutter und Kind ist das Zusammenwohnen im Körper der Mutter beendet, die Wehen setzen ein, vermutlich entscheidend von Signalen des Kindes ausgelöst, dem es nicht nur zu eng wird, sondern das zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr genug Sauerstoff und Nahrung erhält. Dann setzt eine hormonelle und mit den Wehen verbundene, mechanische Kaskade ein: Der Schleimpfropf, mit dem der Muttermund verschlossen war, löst sich auf, die Fruchtblase springt und dann wird das Kind durch die Wehen mit dem Kopf voran durch den Geburtskanal aus dem Becken teils unter großen Schmerzen der Mutter herausgeschoben oder schiebt sich, womöglich in Panik und Angst, mit Hilfe der Wehen heraus. Die symbolische körperliche Trennung von der Mutter erfolgt durch das Kappen der Nabelschnur, die Abnabelung oder eigentliche Entbindung, womit das zur Welt gekommene Kind, oft verzweifelt oder auch erleichtert schreiend, unwiederbringlich auszieht und zu einem Individuum wird, das aber weiterhin noch vollständig von äußerer Hilfe abhängig ist.

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