Sein und Wohnen. Florian Rötzer
sie heimlich durch das Schlüsselloch einer Tür andere beobachtet, die glauben, sich in einem geschützten, verborgenen Raum zu befinden? Solche komplizierten Beziehungen und Wahrnehmungsverhältnisse können erst gesetzt der Prämisse eines intimen Lebens in abgeschirmten Räumen zustande kommen. Das andere Extrem ist das obszöne, ungeschützte Wohnen in der Öffentlichkeit, wie dies der zu den Kynikern zählende Diogenes von Sinope auf der Suche nach einem einfachen Leben und im Aufstand gegen die Schamgesellschaft der in Häusern zurückgezogen Wohnenden praktiziert haben soll. Dagegen wird als Strafe ein Wohnen unter Beobachtung verhängt, etwa in Gefängnissen mit dem Ideal eines Panopticons, in welchem die Gefangenen keine Privatsphäre haben und auch nicht immer wissen sollen, ob sie gerade beobachtet werden. In einem Versuch, diese Ungeschütztheit noch einmal verstärkt als Mittel der Repression und Demütigung einzusetzen, haben US-Militärs und Geheimdienstmitarbeiter in Abu Ghraib Gefangene nackt traktiert oder Männer gezwungen, vor den Augen der Beobachter zu kopulieren. Mittlerweile dehnt sich das Panopticon auf den öffentlichen Raum aus und dringt auch tief in die privaten Räume vor, wenn Assistenten wie Alexa, Roboter, Computer, Fernsehgeräte, Smartphones oder andere Teile des Internets der Dinge von Hackern, Unternehmen oder Sicherheitsbehörden zu Spionagezwecken verwendet werden.
Scham entsteht, wenn jemand etwas Verpöntes macht und dabei von anderen oder auch nur seinem Gewissen, dem Freud’schen Über-Ich, beobachtet oder aufgedeckt wird. In der Wohnung, verborgen, von Wänden vor neugierigen Blicken geschützt, kann man dem nachgehen, was in der Öffentlichkeit Scham auslösen würde. Im geschützten Raum »entblößt« zu werden, ist eine besondere Verletzung der persönlichen Privatsphäre. Scham ist eine Folge des Selbstbewusstseins, was bedeutet, sich selbst als Anderen – also aus der Perspektive eines anderen –, als verkörpertes Subjekt wie im Spiegelbild sehen zu können und zu müssen. Das bringt einen Riss mit sich, weil man als Selbstbeobachter aus sich heraustritt und sich von sich selbst distanziert. Man wird sich ver-rückterweise selbst zu einem Fremden und erfährt damit, wie andere einen als verkörpertes Ich erblicken.
Sartre, der aus seinem existentiellen Ansatz heraus die Erfahrung der Existenz des Anderen entwickeln will, um nicht in einem widersinnigen Solipsismus zu landen, deutet diese Entfremdung so, dass man für sich und für andere letztlich zum Objekt werden kann. Wenn aber der Andere als Person erfahren wird, spielt sich eine ähnlich dramatische Begegnung ab wie die zwischen Herr und Knecht bei Hegel. Normalerweise erleben wir die Welt sinnlich von uns als Zentrum aus, sie gruppiert sich auf das wahrnehmende Subjekt hin oder organisiert sich räumlich perspektivisch von ihm aus. Man schaut aus seinen Augen heraus und auf Dinge und Körper und teilt die Welt dementsprechend mit sich als Zentrum in vorne und hinten, oben und unten, rechts und links ein. Dreht man seinen Körper und damit die Augen, dreht sich die Welt mit der Orientierung mit. Um diese egozentrische Orientierung nachzuvollziehen, also zu verstehen, was für einen anderen links oder rechts ist, muss sich dieser imaginativ an die räumliche Stelle des für ihn Anderen setzen. Das scheint normal zu sein, aber es gibt interessanterweise Ausnahmen, wie der Ethnologe Jürg Wassmann schreibt:
Die meisten Sprachen dieser Welt kennen beispielsweise keine Begriffe für links und rechts; Sprecher nicht-indogermanischer Sprachen sehen den Menschen oft nicht im Zentrum stehend, sondern als Teil der Umwelt an. Die westliche Vorstellung vom Menschen als Zentrum halten sie für anmaßend. Folglich orientieren sich diese Menschen nicht egozentrisch, sondern geozentrisch. Das heißt: Sie orientieren sich anhand von Fixpunkten »dort draußen«. […] Stellen Sie sich folgende Szene vor: Sie stehen vor einem Tisch, auf dem ein Pfeil liegt, der nach links zeigt. Sie werden nun dazu aufgefordert, sich um 180 Grad zu drehen. Jetzt stehen Sie vor einem zweiten Tisch, auf dem zwei Pfeile liegen: Einer zeigt nach links, der andere nach rechts. Ihre Aufgabe ist es nun, auf jenen Pfeil zu zeigen, der »ebenso« liegt, wie derjenige auf dem ersten Tisch. Ohne Zweifel würden Sie auf den linken Pfeil zeigen, denn Sie orientieren sich egozentrisch, haben also Ihr »links« mit dem eigenen Körper um 180 Grad mitgedreht. Ein Balinese aber, eine Tzeltal aus Mexiko, ein Inder aus Kerala, eine Yupno aus Papua-Neuguinea, ein Inselbewohner der Südsee oder ein Guugu Yimidhirr aus Australien würde auf den rechten Pfeil zeigen. Diese Menschen orientieren sich geozentrisch: unabhängig vom eigenen Körper.9
Möglicherweise ist die geozentrische Weltsicht, in der sich die Menschen von außen in der Welt verorten, weniger anfällig für den Kampf ums Überleben, den Sartre aus egozentrischer Sicht markiert. Der Auftritt eines blickenden Anderen bedroht die egozentrische Verortung. Sartre schreibt, dass sich durch ihn »eine Räumlichkeit entfaltet, die nicht meine Räumlichkeit ist, denn statt eine Gruppierung der Dinge auf mich zu sein, liegt eine vor mir fliehende Gerichtetheit vor«.10 Dadurch könne sich das Ich nicht mehr zum Mittelpunkt machen, es findet eine Dezentrierung, eine »innere Blutung« statt (Sartre thematisiert hier keine Gemeinsamkeit der sich Begegnenden, die durch Gesten der Höflichkeit oder Verführung entsteht). Im Kampf der Sich-Erblickenden, die sich wechselseitig zum Objekt machen können, was das Ausfließen des Seins, die Dezentrierung, verhindere, werde deutlich, dass Wahrnehmen erblicken sei und damit auch das Bewusstsein, erblickt zu werden und verletzlich zu sein.
Sartre will mit der Schüssellochszene eruieren, was es heißt, als heimlicher Beobachter erblickt zu werden, der davon ausgeht, beispielsweise als Eifersüchtiger, eine Szene von sich unbeobachtet Wähnenden zu sehen, aber selbst dem Blick der anderen verborgen ist. Das Bewusstsein des Beobachters ist unreflektiert, denn er sieht zwar die anderen, aber nicht sich selbst als Beobachter. Sobald er aber realisiert, dass er selbst gesehen wird, kommt Scham in ihm auf, weil er sich nun in das entfremdete Objekt innerhalb der Welt verwandelt, zu der er seinerseits als heimlicher Beobachter die im Raum Befindlichen machte. Der beobachtete Beobachter sieht sich selbst plötzlich als erblicktes Objekt und als Subjekt, das schamvoll seinem eigenen Sein entfliehen will, erkennt sich dabei aber als jenes, wobei durch diese Identifizierung von außen seine eigene Freiheit vernichtet wird, weil er sich nicht mehr als Herr der Situation erfährt: »Für den Anderen beuge ich mich über das Schlüsselloch, so wie jener Bau vom Wind gebeugt ist. So habe ich für den Anderen meine Transzendenz abgeworfen.«
Wir wollen nicht weiter Sartres Gedanken folgen, da es uns darum geht, welche Veränderungen des Selbstbewusstseins die Möglichkeit mit sich bringt, sich in einem vor Blicken geschützten Raum relativ sicher zu wähnen und dennoch schon aufgrund des Selbstbewusstseins zu wissen, beobachtet werden zu können, also beispielsweise dort heimlich fotografiert oder gefilmt zu werden. Man darf vermuten, dass die Menschen, welche die Bilderströme von Überwachungskameras beobachten, die mitunter auch bereits Gesichtserkennung ermöglichen, keine Scham empfinden. Das Sehen durch das Schlüsselloch ist professionell geworden, insbesondere wenn Kameras als logische Erweiterung im öffentlichen Raum die Beobachtung übernehmen, was Sartre noch nicht ahnen konnte. Wenn Bilder oder Videos, die dem öffentlichen Raum entstammen, an die Öffentlichkeit gelangen, stellt sich höchstens Wut ein. Wenn sie hingegen Szenen in Privaträumen darstellen, kommt Scham auf, deren notwendige Grundlage vermeintlich intime Räume sind, die den Blick von außen abwehren. Aber alle Räume haben die Eigenschaft, dass sie nicht völlig versiegelt werden können, sie müssen betretbar sein sowie Licht und Luft hereinlassen – sie sind verbunden mit dem Außen durch reale und virtuelle Öffnungen.
Bis vor Kurzem galt, dass der letzte geschützte Innenraum einer Person das Gehirn im Schädel sei. »Die Gedanken sind frei« war der Slogan seit der Aufklärung. Mit bildgebenden Techniken dringt man nun auch in diese intimen Innenräume ein, die sich durch elektrische Stromflüsse oder erhöhten Stoffwechsel verraten und womöglich die gehegten Gedanken offenbaren. Und dass man mit Mikrowellen durch Mauern sehen kann, ist auch keine Innovation mehr. Stirbt die Scham also aus oder verstärkt sie sich durch die zunehmende Öffentlichkeit des Privaten?
Erste Wohnung
Unser Leben beginnt in einer dunklen Höhle, der Gebärmutter, in der nach der Befruchtung und schließlich der Einnistung der Eizelle der Embryo von der Außenwelt weitgehend abgekapselt heranwächst. »Uterus« ist der Bauch, griechisch hystera, englisch womb. Das deutsche Wort »Gebärmutter« macht hingegen klarer, dass es sich um einen Raum handelt, einen Teil der Mutter, in dem sich mit oder ohne Zustimmung die befruchtete Eizelle einnistet, um einen neuen Organismus, der zuerst selbst nicht lebensfähig ist, geschützt heranwachsen zu lassen. Es handelt sich bei