Sein und Wohnen. Florian Rötzer
dem Bau der Wohnung geht ein Schnitt durch die Welt
Der Gang, menschheitsgeschichtlich vielmehr der Wurf ins Offene war für die Vorfahren des Menschen wahrscheinlich nur durch den Bau erster »Festungen« möglich, die das Offene zumindest teilweise ausschlossen und unterbrachen. Einer der ersten »Bauten« wurde von Forschern in der Bruniquel-Höhle in Frankreich gefunden – und zwar mit mehr als 300 Metern vom Eingang relativ tief in dieser Halle und damit in absoluter Dunkelheit.5 Mit abgebrochenen, etwa gleich langen Stalagmiten errichteten hier vor mehr als 170 000 Jahren vermutlich Neandertaler zwei kreisförmige Gebilde in der Höhle. Bei allen fand man auch Spuren von Feuer auf den aufgeschichteten Stalagmiten und verbrannten Knochen. Die Stalagmiten-Mauern sind innen und außen durch Steine gestützt.
Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass die ringförmigen Aufschichtungen eine Zusammenarbeit und Planung erforderlich machten und damit Zeichen einer sozialen Organisation sind. Seltsam ist, dass sich die Feuerstellen nicht auf dem Boden des umbauten Raumes befanden, sondern auf den Stalagmiten-Wällen. Das könnte darauf hindeuten, dass mit der Erfindung des Feuers nicht nur der Verzehr von Fleisch erleichtert und Fleisch durch Räuchern haltbar gemacht wurde, sondern auch, dass Feuer zumal in der Nacht oder in dunklen Räumen einen Schutzraum schuf. Es hielt Raubtiere und Insekten ab, erhellte kreisförmig die Umgebung und sorgte für Wärme.
Höhlen waren aber – das muss gegenüber dem verbreiteten Glauben festgehalten werden – keine Wohnungen für den frühen Menschen. Sie dienten vermutlich rituellen Handlungen. In geschützten Höhlen wie denen von Lascaux oder Altamira sind auch die frühen Bilder bewahrt, die Menschen womöglich auch auf anderen, aber vergänglicheren Oberflächen geritzt und gemalt hatten. Aus späteren Zeiten kennt man heute keine Bauten innerhalb von Höhlen mehr, egal wie häufig besucht letztere waren. Der Zweck der kreisförmigen Aufschichtungen in der Bruniquel-Höhle ist nicht offensichtlich, aber sie machen klar, dass auch die frühen Menschen innerhalb einer Höhle einen umbauten, geometrisch gestalteten, wenn auch nicht überdachten Raum schufen, der vermutlich Sicherheit versprach und als magischer Kreis gewirkt haben könnte, eine Vorform des umbauten Raums einer Wohnung.
Eine der ersten Behausungen fand man in einem 300 000 Jahre alten Jagdlager bei Schöningen an einem Seeufer von wahrscheinlich nomadisch lebenden Menschen (Homo heidelbergensis beziehungsweise Homo erectus, aus dem sich der Neandertaler entwickelte), die mit Speeren Jagd vornehmlich auf Wildpferde machten. Die Grundrisse der vermutlich temporären Hütten waren kreisförmig, markiert durch Steine und große Knochen. Über den Aufbau der Hütten ist nichts bekannt. Man geht davon aus, dass es sich um Holzgerüste handelte, die mit Zweigen, Schilf oder Fellen abgedeckt waren. Im Gegensatz zu den Höhlen, die auch wilde Tiere beherbergten, immer im Dunklen lagen und in die Unterwelt reichten, handelte es sich bei den von Menschen selbst errichteten Behausungen um wahrhaftige Wohnstätten – ein Mikrokosmos, ein erster mit gefundenen und bearbeiteten Materialien hergestellter künstlicher Raum von gewaltiger Wirkung. Mit der ersten Behausung, der ersten Wohnung, entstand Ordnung in der räumlichen Welt, eine Aufteilung zwischen innen und außen, die zwar die Struktur des Lebens als von der Umwelt durch eine Membran abgeschiedene Zelle oder Wohnung wiederholt und fortsetzt, aber doch etwas grundsätzlich Neues schafft: einen Raum im Raum, der vom Menschen als Bewohner kontrolliert wird – oder zumindest die Suggestion der Kontrolle über den Binnenraum suggeriert, aber auch teilweise einlöst.
Mit der Wohnung, so durchlöchert und transparent sie nun auch immer durch die digitalen Medien, das Internet der Dinge und die vielfältigen technischen Möglichkeiten der Überwachung geworden ist, findet ganz offensichtlich eine räumliche Zäsur statt, die das individuelle und gesellschaftliche Leben betrifft. Mit dem Einräumen eines bewohnbaren, wie auch immer umbauten Raums findet eine damit einhergehende Aufteilung statt, die eine auch räumlich markierte Differenz durch einen getrennten Innen- und Außenraum eröffnet. Es geht dabei nicht nur um Einräumung oder Ausgrenzung eines individuellen Orts, sondern um die Gestaltung der (Lebens-)Welt. Mit dem Bau der Wohnung wird diese unheilbar zerschnitten. Während die Menschen oder deren Vorfahren bislang in der Welt lebten, ereignet sich mit dem Wohnen ein Riss, der einerseits mehr Schutz für die Bewohner mit sich bringt, aber auch das Gefühl der Eingeschlossenheit eines Gefängnisses und des Drangs nach dem Entkommen und einer neuen Einheit eröffnet. Wahrscheinlich ist damit eine Erinnerung an das Leben im Uterus und an das traumatische Geworfensein in die Welt verbunden, die fremd bleibt, so tiefreichend sie auch den eigenen Bedürfnissen nach umgebaut wird. Der Riss kann nicht geschlossen werden, er setzt sich auch im Selbstbewusstsein und im Wissen um das verkörperte Dasein fort.
Um als Wohnung oder auch nur als Gehäuse zu dienen, darf der von der Umwelt abgegrenzte Raum freilich nicht völlig geschlossen sein. Der Wohnraum hat Öffnungen, die so groß sein müssen, dass verkörperte Bewohner sie betreten und verlassen können, wie auch für biologische Wesen allgemein Öffnungen oder Membranen für die Aufrechterhaltung des Stoffwechsels vom Atmen über die Ernährung bis hin zum Ausscheiden vorhanden sein müssen. Dazu kommen die materiellen, architektonischen, sozialen, moralischen und psychischen Übergänge, Filter, Schlösser und Regeln für die Kontrolle und zur Verhinderung unerwünschten Betretens oder Verlassens. Extreme sind etwa befestigte Schutzräume und Gefängniszellen. Mit dieser grundlegenden Aufteilung der Welt in ein privates und öffentliches, ein eigenes und fremdes, ein geschütztes und unbehaustes, ein gewohntes und dem Fremden und Überraschendem ausgesetztes, ein eingeschlossenes und geöffnetes Dasein gehen viele Differenzierungen und Vernetzungen einher, deren Zusammenspiel das individuelle und gesellschaftliche Leben ausmacht und es ebenso formt wie die Umwelt.
Zumindest in der jüdisch-christlichen Tradition ist das Leben in einer von der natürlichen und sozialen Umwelt abgegrenzten Wohnung oder in einem Haus nicht das Bild vom guten Leben, sondern lediglich die Folge der ersten Vertreibung, die den Menschen den Unbillen der Natur und seiner Mitmenschen aussetzte. Das paradiesische Leben fand in einem umschlossenen Garten statt, der als Garten in sich schon einen Gegensatz zur Wildnis darstellte – das Begrenzte und Behütete zum Offenen und Unkontrollierbaren. Später wurde das Paradies denn auch immer einmal wieder als Insel imaginiert, just ein dem Rest der Welt entrückter Raum, in dem die Neuzeit die Utopien ansiedelte. In vielen Darstellungen gibt es zwar im Garten kein Haus, aber am Rande ein Tor, durch das man das Paradies betritt und das auf die Tatsache verweist, dass der Zugang unter Kontrolle steht.
Das Paradies ist offenbar wie der vorkopernikanische Kosmos eine geschlossene Welt, eine Art Gebäude mit dem Gewölbe des Himmels, eine Weltenhöhle, kein unendliches, grenzenloses Universum, in dem es unheimlich zugeht und ein kalter Wind aus dem Unbekannten weht. Das Unbekannte war in der geschlossenen Welt ausgegrenzt, man lebte mitsamt den Göttern nur im geschützten Inneren, das Außen bestand lediglich in einer Ahnung, seine Existenz ein abstraktes Wissen. Mitunter wurde das Außen vorsichtig mit eingebaut, als beispielsweise der Vorsokratiker Anaximander postulierte, dass Sonne und Sterne eigentlich Löcher im Himmelsgewölbe seien, durch die eine äußere Feuerwelt durchscheine.
Allerdings dachte man das irdische Haus so groß, dass das Gewölbe trotzdem in unerreichbarer Ferne blieb und einer auratischen Fassade glich, auf der man die Bewegungen der Gestirne nur beobachten konnte. Daher wurde das kosmische Schauspiel auf dem Gewölbe als ein vom Menschen unbeeinflussbares Spektakel betrachtet, das aus diesem Grunde Gegenstand der reinen Theorie war. Man kann aus dieser Perspektive auch erahnen, mit welchen Widerständen man einer kopernikanischen Weltsicht begegnete, in der das Gebäude der Menschenwelt plötzlich zusammenbrach und die Menschen mit ihrer Erde nicht nur aus der Mitte rückten, sondern nur noch durch die luftige Atmosphäre geschützt dem riesigen Kosmos ausgesetzt waren und schließlich nur noch auf einem winzigen Raumschiff hausten. Auch leitet sich daraus ab, warum die große philosophische Theorie Platons mit den Überlegungen entstanden ist, die von Menschen gewohnte und erkannte Welt als sozial konstruierte Höhle oder Gefängnis zu denken, um Auswege zu finden oder um zu imaginieren, welche Folgen ein Ausbruch aus dem Gefängnis haben könnte.
Das Paradies, der Garten hinter der Mauer
Der Fall aus dem geschlossenen geo- und anthropozentrischen Kosmos als einem Heim wiederholt den Fall aus dem Paradies. Man müsste allerdings umgekehrt sagen, dass geistesgeschichtlich zunächst der Fall