Sein und Wohnen. Florian Rötzer

Sein und Wohnen - Florian Rötzer


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lebt autark, die Familien schrumpfen bis hin zu Single-Existenzen, die Untermietverhältnisse auch. Obgleich das Leben vermutlich mit einem zufälligen oder erzwungenen Zusammenleben angefangen hat – (endo)symbiotisch. Mittlerweile schlägt die Desinfizierung auch auf die Gärten und das Land jenseits des umbauten und geschützten Raums durch. Der realisierte Paradiesgarten wird entvölkert, die Häuser sind aseptisch, nähern sich den lebensabweisenden Rein- und »Reinsträumen« an, in denen man Halbleiter produziert und Serverfarmen unterbringt.

      In den Smart Homes und Smart Cities ziehen sich die Menschen nicht mehr aus der Natur und von den Mitmenschen in Gebäude zurück, die ersten künstlichen Umwelten, die geschaffen worden sind. Hier sind sie im Prinzip direkt an die Welt angeschlossen, die Wohnung gerät zu einem globalisierten Element, das von überall aus gesteuert, eingesehen und gehackt werden kann. Gleichzeitig ist der Bewohner in die gesamte Welt, in die globale Datensphäre integriert und öffentlicher als im immer lokalen öffentlichen Raum, auch wenn er weiterhin von Mauern oder materiellen Abgrenzungen wie Fenstern umgeben ist. Die Menschen gehen nicht in den Cyberspace, sie werden mitsamt ihrer materiellen Lebenswelt von ihm eingesponnen. Ein paradoxes Dasein zwischen Transparenz und Privatheit, bislang vom umbauten Raum bestimmt und gesetzlich durch die Unverletzlichkeit der Wohnung gesichert.

      Wohnungen und Häuser waren einst Bastionen des Privaten. Das ist längst vorbei, da sich das Wohnen gerade mit den Smart Homes grundlegend verändert. Mit dem Einzug in die intelligenten Behausungen ist endgültig Schluss mit der Illusion von Privatheit, nicht aber mit der Abwehr gegenüber der Nahumgebung. In Zeiten der Pandemie gewinnt die Kontrolle über den Eingang nochmals an Wichtigkeit. Das Leben findet zwar nicht notwendig in der Öffentlichkeit statt, aber das Heim wird mehr oder weniger zu einem Subjekt, das auf die Bewohner reagiert und deren Verhalten beeinflusst. Zuhause ist man seit dem Telefon, welches das erste Loch in die Gemäuer geschlagen hat, nicht mehr alleine. Der Bewohner wird selbst zum Gast, der neben den vielfältigen Interaktionen mit seinem häuslichen Internet der Dinge und dem Dialog mit dem »Homeserver«, dem neuen sprechenden und verstehenden Diener, direkt an der Weltöffentlichkeit teilnimmt und in der virtuellen Weltmetropole lebt. Heute sind nicht mehr alte Schlösser, Burgen oder zerfallende Gebäude unheimlich, sondern die kalten, sauberen, perfekten Gehäuse, die von Computern gesteuert werden – und die neue Gäste in Form von Viren oder Trojanern in die Wohnungen schleusen.

      Anthropologie des Wohnens: Von der biologischen Zelle zum Wohngebäude

      In der Regel versteht man unter einer Wohnung einen gebauten Raum, einen künstlichen Körper, eine zweite Haut. Wohnen eigentlich Tiere? Beispiele von Tieren, die sich Höhlen bauen oder einen festen Wohnsitz haben, legen dies nahe. Bauen sich Vögel ihre Wohnungen in Nestern, Bären in Höhlen, Mäuse oder Füchse in Erdhöhlen? Ist das Haus einer Schnecke nicht auch eine Wohnung? Und könnte man womöglich bereits den Chitinpanzer von Insekten als eine mobile Wohnung verstehen, die das weiche Innere schützt? Der Körper ist mit seiner Haut, seinem Panzer, seinem Gefieder selbst eine mobile Wohnung, mit der das Lebewesen verbunden ist. Diese Wohnung bleibt, aber sie ist wieder durch eine nach außen verlagerte Wohnung, die den Körper schützt, aufgespalten und verdoppelt.

      Leben beginnt mit einer Hülle, mit dem Vorhandensein einer im Prinzip kugelförmigen, aber auch zylindrischen oder fadenförmigen selbstständigen Zelle, die sich von der Umwelt durch eine elastische Wand abgrenzt. Diese Membran regelt den Verkehr beziehungsweise den Stoffwechsel oder die Handelsbeziehung zwischen innen und außen und schützt den abgegrenzten inneren Raum des Zytoplasmas sowie der in diesem enthaltenen Teile, die Module oder Mitbewohner sein können. Auch Einzeller stellen kein atomares Leben dar, sind keine einsame Monade, sondern bereits ein »Wir«, eine Gemeinschaft aus einem Nucleotid, dem Zytoplasma, Organellen mit Membranen wie den Ribosomen, die Proteinfabriken, und den Chlorplasten bei Grünalgen und Pflanzen. Oft gibt es Plasmide, die sich unabhängig vom Genstrang der Bakterien reproduzieren und so eigenständig sind, dass sie auch in andere Zellen übertragen werden und dort eindringen können, was dem Einzeller durch die neuen Gene nützt, beispielsweise zum Immunschutz. Flagellen dienen schließlich der Fortbewegung.

      In Eukaryoten kommen noch weitere Bewohner hinzu, beispielsweise die Mitochondrien, die neben eigener DNA wiederum Ribosome enthalten und die mit großer Wahrscheinlichkeit ursprünglich selbstständige Existenzen als Einzeller bildeten, die vielleicht als Parasiten in andere Zellen eingedrungen waren oder gefressen wurden. Sie gelten als Paradebeispiel für die vor allem von Lynn Margulis entwickelte Endosymbiontenhypothese.1 Weniger aggressiv gedacht, könnten Symbiosen natürlich auch durch Gäste oder Besucher entstanden sein, die nach einem ursprünglich kurzzeitigen Besuch länger dort verblieben waren. Möglicherweise handelt es sich auch bei prokaryotischen Zellen bereits um Wohngemeinschaften von Symbionten, die ihre Eigenständigkeiten noch weiter aufgegeben haben, weil manche Wirte und Zellen vom Zusammengehen profitieren. Nach der Endosymbiontenhypothese für Eukaryoten, die mittlerweile weitgehend akzeptiert wird, haben sich durch die Vergemeinschaftungen evolutionäre Sprünge ergeben. Wichtig festzuhalten wäre jedoch, dass die Voraussetzung für solche Endosymbiosen Fressvorgänge oder parasitäres Eindringen sind. Zudem scheint es einen ausgeprägten Drang auch schon bei den Prokaryoten zur Vergesellschaftung zu geben, also gewissermaßen mehr oder weniger stabile, feste, kollektive Ansiedlungen in unterschiedlichsten Formen zu bilden, die mitunter auch bereits gemeinsam handeln und dafür kommunizieren müssen. Leben, könnte man auch sagen, entsteht durch eine Selbstabgrenzung oder Einstülpung, die ein Zerfließen oder Auflösen einer Wohngemeinschaft verhindert und deren Identität und Singularität schafft.

      Zum Leben gehört neben der Abgrenzung und dem Einschluss in eine Festung auch das Prinzip der Selbstreproduktion oder der Vermehrung durch Zellteilung, also durch eine Vervielfältigung des behausten Einzellers. Notwendig ist für Wachstum, Selbsterhaltung und Selbstvermehrung ein »Gedächtnis« in Form des Genoms, das die dreidimensionale Zelle in ihrer Identität erhält und mitunter auch repariert sowie eben durch Teilung reproduziert. Gleichzeitig sorgt das Gedächtnis, das bei Prokaryoten ein in sich geschlossenes Molekül (»Nucleotid«) und bei Eukaryoten selbst wieder als »Zellkern« durch eine Doppelmembran abgetrennt und geschützt ist, durch Fehler nicht nur für Katastrophen, sondern auch für Innovationen, durch die sich die Zellen an eine stets in Veränderung begriffene Umwelt »anpassen« können. Die Teilung wird vom genetischen Apparat der aus Tausenden von Nucleotiden bestehenden RNA oder DNA angetrieben, einem komplizierten Gedächtnis-Apparat, der über die Fähigkeit zur Selbstreplikation verfügt. Wahrscheinlich gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Aufrechterhaltung eines Lebewesens als Gated Community oder als Blase und der Möglichkeit der Selbstvermehrung, die sowohl durch Zellteilung als auch später durch sexuelle Reproduktion in der »Wohnung« der umhüllten Vielzeller geschieht. Bakterien tauschen überdies Gene aus, sodass sich die Bakteriengemeinschaft als eine riesige Tauschbörse verstehen lässt, um permanent die Wohnungen umzubauen, zu ergänzen, zu modernisieren und schlichtweg zu erkunden, was nach einem Tausch passiert. Zudem schleusen Viren ihre Gene in die Zellen ein, übernehmen die Genproduktion zur Reproduktion. Meist stirbt die Wirtszelle, es können aber auch Gene zurückbleiben und sich mit dem Genom fortpflanzen.

      Zudem ist eine Zelle nicht nur von der Außenwelt abgegrenzt und reproduktionsfähig, sie ist als Einzeller auch mobil und bewegt sich nomadisch in einem flüssigen Medium. Ob schon prokaryotische Zellen der Bakterien und Archaeen durch Symbiosen entstanden sind, ist unbekannt. Sie enthalten zumindest keine Organellen, die ihre eigene genetische Information enthalten, eine Symbiose oder Aufnahme hätte hier zur gänzlichen Verschmelzung geführt. Metaphorisch könnte man selbst bei Prokaryoten bereits nicht nur vom Leben in einer »Wohnung«, sondern auch in einem Leib sprechen. Bakterien sind nicht nur ein Leib, das Nukleoid als »Kernbewohner« hat auch einen Körper. Mit dem Beginn der Eukaryoten beginnt spätestens die Phase des Zusammenwohnens, der Kommune.

      Neben dem Leben, das mit der sich von der Umgebung abspaltenden und sich teilenden Zelle entsteht, kommt es nicht nur zum Fressen anderer, kleinerer Zellen, sondern vermutlich auch zur Entstehung von Parasiten, also nomadischen Eindringlingen, die ihr Genom in die Einzeller als Wirte einschleusen, um sich listig mit deren Hilfe und auf deren Kosten zu replizieren. Ohne Zellen können


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