Sein und Wohnen. Florian Rötzer
umschließt, aber keinen eigenen Stoffwechsel. Unbekannt ist, ob Viren aus Teilen von Zellen entstanden sind oder ob sie sich als Minimalleben schlicht aufgrund des Vorhandenseins von Zellen als möglichen Wirten entwickelt haben.
Die Abgrenzung nach außen durch eine elastische Membran erzeugt die kompakte Gestalt der Zelle, die aber innen in wiederum durch Membrane aufgeteilte Kompartimente differenziert ist. Man könnte bildlich von Zimmern sprechen, die unterschiedliche Funktionen eines Lebewesens beherbergen. So sind auch Wohnungen geschnitten oder in Zimmer aufgeteilt – in Bereiche des Schlafes und des Beischlafes, in Bereiche, in denen gekocht und gegessen wird, in denen sich Kinder aufhalten, man Gäste begrüßt, sich wäscht und seine Notdurft verrichtet, aber auch arbeitet oder sich erholt und unterhält, in denen schließlich die Dinge gesammelt und verwahrt werden, die man sein Eigen nennt.
Eine These wäre, dass Leben, beginnend mit den Einzellern, aus der Abgrenzung und räumlichen Verdichtung hervorgeht, dass der Einschluss des individualisierten Lebewesens aus der Entkopplung und damit der Aufteilung von innen und außen durch das Gehäuse hervorgeht. Diese Trennung, die den Raum aufspannt und Entfernungen erzeugt, scheint mit dem Leben verbunden zu sein. Leben entsteht, wo ein Wohnraum und damit eine Grenze geschaffen wird, die eine Außenwelt konstituiert. Eine Umgebung gibt es nur mit diesem Einschnitt, dieser Einfaltung, dieser Furchung im Raum. Beides entsteht gleichzeitig als »Unter-Scheidung«. Daraus leiten sich wahrscheinlich viele, wenn nicht alle Dichotomien ab, die noch die Existenz des Menschen als geistiges Wesen bestimmen.
Die Philosophen des Deutschen Idealismus haben die logischen Konsequenzen dieser Furche, aus der Leben als räumliche Unterscheidung und damit als Stoffwechsel und Replikation quillt, in Form der Unterscheidung zwischen »Ich« und »Nicht-Ich« nachvollzogen. Ein Einzeller hat zwar kein Selbstbewusstsein, aber ist selbstbezogen, auf Überleben und Reproduktion ausgerichtet, hat eine von anderen Einzellern differenzierte Identität und bewegt sich in einer Welt, von der er sich unterscheidet und auf welche er reagiert. Ganz entscheidend ist, dass die räumliche Grenzziehung, mit der das Innere eines Lebewesens sich vom Außen abtrennt, eben eine Membran ist, die ein Medium der Kommunikation und der wechselseitigen Einverleibung ist. Schon von Beginn des Lebens an haben sich nicht nur Jäger entwickelt, die sich anderes Leben einverleiben und auf dessen Kosten leben, sondern auch Parasiten oder Einbrecher, die in die Wohnungen eindringen und versuchen, sich dort breitzumachen, um mit geringeren Kosten als Untermieter oder Ausbeuter leben zu können.
Schon vor der Entstehung von vielzelligen Lebewesen waren die Einzeller nicht nur Wohngemeinschaften mit (teils unerwünschten) Gästen. Sie gruppierten sich auch gerne im Raum, bildeten Konglomerationen und kooperierten. Bakterienfilme lassen sich als erste mobile Städte verstehen, zudem als erste Tauschgemeinschaften, die sich auch mit artfremden Bakterien zusammenfanden und Gene austauschten. Auf der Oberfläche ihrer Zellwände befinden sich Filamente oder Pili, mit denen sich die Zellen an einem Untergrund, aber auch anderen Bakterien festhalten können. Der Molekularbiologe Thierry de Duve leitet daraus den sexuellen Kontakt ab. Pili dienen dem sogenannten horizontalen Gentransfer. Sie verbinden Zellen und bauen eine Plasmidbrücke auf, über die DNA in Form von ringförmigen Plasmiden ausgetauscht werden kann. So koppeln sich Lebewesen in ihren Gehäusen, Zellwand an Zellwand, aneinander, wobei die Zelle mit den Sexualpili, die einen molekularen Penis bilden, an eine »weibliche« Zelle andocken. Mit dieser Sexualität oder diesem Tausch beginnt letztlich das, was einmal Kultur werden wird: das »Lernen« oder Übernehmen gespeicherter Information jenseits des evolutionären Zufalls der Mutationen.
Leben ist Wohnen – zunächst in einem Körper mit einem Wall, einer Mauer, einem Bauwerk, in dem sich ein Innen geschützt und konzentriert aufspannen kann. Das heißt, ein Körper eines vielzelligen Lebewesens ist immer auch eine Wohnung für viele Mitbewohner, die eine ausdifferenzierte Gemeinschaft von Zellen bilden, die wiederum aus Räumen und Mitbewohnern besteht. Und ein Körper ist auch eine Wohnung für viele weitere Gäste und Eindringlinge. Die Wohnung bildet eine Abgrenzung, die weitere Abgrenzungen hervorbringt oder impliziert. Niemand wohnt alleine, es gibt keinen Single, selbst eine Festung muss mit der Außenwelt verbunden und damit gegenüber Mitbewohnern und Immunsystemen offen sein. Der vollkommene Einschluss, die absolute Sicherheit, bedeutet gleichzeitig den Tod und die Unfruchtbarkeit.
Der nackte Affe
Wohnen, das Bauen von Wohnungen und das (Sich-)Einrichten in diese, ist eine anthropologische Konstante. Diese Tätigkeit gehört zum Menschen, der möglicherweise erst durch das Wohnen überhaupt Mensch wird und sich in der Obdachlosigkeit oder Unbehaustheit verlieren kann. Spannt man den Bogen weit, so verläuft das Leben des Menschen anthropologisch betrachtet zwischen dem Aufwachsen in der ersten Höhle, dem Uterus, über die erste Vertreibung aus dem paradiesischen Garten und den Sturz in die Welt, das Bauen und Einrichten von Wohnungen in der Welt, wozu auch die Kleidung gehört, bis zur Rückkehr in die letzte Wohnung, in den Sarg, der wieder in die Unterwelt eingelassen wird und in welcher der tote Leib ein- und abgeschlossen liegt. Allerdings muss die letzte Wohnung, in welche die Menschen nicht wie nach der Empfängnis und der Geburt »geworfen« werden, kein Sarg sein. Die Menschen können sich auch entschließen, wenn sie keine Angst vor der Wiederkehr der Toten und keinen Glauben an die Auferstehung im Himmel haben, den Körper der Erde zurückzugeben, mit der er verschmilzt und eins mit dem Staub wird.
Der Mensch, der »nackte Affe«, wie der britische Zoologe Desmond Morris den Unterschied des Menschen gegenüber allen anderen Primaten in seinem gleichnamigen Buch The Naked Ape (1967) beschrieb, ist der Umwelt ausgesetzt, muss sich nicht nur mit einer zweiten, einer für ihn künstlichen Haut bekleiden, wenn er nicht in günstigen klimatischen Bedingungen wie in tropischen Regenwäldern lebt, sondern schafft sich auch zusätzlich mit seinen Werkzeugen einen Innen- und Rückzugsraum, um als Gruppe vor wilden Tieren, Insekten und dem Wetter geschützt zu sein. Das geschah vermutlich, nachdem er aufgrund von Klimaveränderungen vor drei Millionen Jahren den schrumpfenden Wald verlassen musste und ins Offene der Savannen trat, um dann weiter als Migrant von Afrika aus in mehreren Wellen neue Räume und Kontinente zu erobern oder zu domestizieren, wo wie in Asien und Europa der Bau von Wohnungen und der Aufenthalt in diesen umso wichtiger wurden. Aber schon das Leben in Grassavannen machte es notwendig, größere Entfernungen zurückzulegen, weil die Nahrung knapper und die Wasserstellen verstreuter und unsicherer als in den Wäldern waren. Dabei greift vieles ineinander: So geht die Wissenschaft davon aus, dass der Gang ins Offene zu einer Umstellung der Ernährung, zum Nacktwerden und einer veränderten Hautpigmentierung zum Schutz vor der Sonne, zum aufrechten Gang mit längeren Beinen und freigesetzten Händen sowie wachsenden Gehirnen führte, was wiederum den Werkzeuggebrauch begünstigte und damit das Herstellen von Kleidung und Unterkünften ermöglichte.
Als Antwort auf die Frage, warum der Mensch als einziger Primat sein Fell im Übergang von den schon aufrecht gehenden Australopithecinen zum Homo ergaster, Homo erectus oder Homo habilis weitgehend verlor, hat die Wissenschaft nur Vermutungen, unbekannt ist auch, wann dies genau erfolgt ist. Während man einerseits aus Skelettfunden erschließen kann, wann sich der Mensch aufrichtete und schließlich zum dauerhaften Zweibeiner wurde, wodurch er längere Strecken schneller und ausdauernder laufen und seine Arme und vor allem seine Hände mit den Fingern zur Manipulation seiner Umgebung wie auch zur Herstellung und Benutzung von Werkzeugen nutzen konnte, gibt es andererseits keine Haut- und Haarfunde aus der Zeit der frühen Menschen. Man kann aber davon ausgehen, dass der nackte Körper oder der Verlust des vor Regen, Kälte, der Sonne und Verwundungen schützenden Fells eine entscheidende Rolle bei der weiteren Menschwerdung gespielt haben muss.
Vermutlich ist der bis auf wenige Stellen nackte Körper nach dem aufrechten Gang und dem Leben außerhalb von dichten Wäldern entstanden und hatte den primären Vorteil, unter heißen Bedingungen ausdauernd laufen zu können, was den Körper aufheizt und Kühlung verlangt, aber auch den räumlichen Radius für das Sammeln und Jagen erweiterte. Mit der nackten Haut vermehrten sich vermutlich die sogenannten ekkrinen Schweißdrüsen, die einen wässrigen Schweiß absondern, der auf der weitgehend nackten Haut schnell trocknet und damit kühlt und zudem einen Säureschutzmantel bildet – wichtig nicht nur für die Organe, sondern vor allem auch für das bei den Menschen wachsende Gehirn, dem sonst ein Hitzschlag droht. Die Temperaturregulation ist lebenswichtig und muss bei etwa 37 Grad Celsius konstant gehalten