Sein und Wohnen. Florian Rötzer

Sein und Wohnen - Florian Rötzer


Скачать книгу
rel="nofollow" href="#ub0715d98-9260-519b-b389-c1bdae2532c5">Die neue »Un-Heim-lichkeit«

       Anmerkungen

      © Edward Beierle

      Florian Rötzer, geboren 1953, hat nach dem Studium der Philosophie als freier Autor und Publizist mit dem Schwerpunkt Medientheorie und -ästhetik in München und als Organisator zahlreicher internationaler Symposien gearbeitet. Seit 1996 ist er Chefredakteur des Online-Magazins Telepolis und Herausgeber der Telepolis-Buch- und eBook-Reihe. Von ihm erschienen sind u.a. »Die Telepolis. Urbanität im digitalen Zeitalter« (1995) und »Vom Wildwerden der Städte« (Birkhäuser 2006). Bei Westend erschien zuletzt sein Buch »Smart Cities im Cyberwar« (2015).

      Einleitung

      Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen.

      – Theodor W. Adorno: Minima Moralia, 1944

      Menschen wohnen. Dieses Bedürfnis scheint ein Existenzial zu sein, angemessenes Wohnen wird denn auch als Menschenrecht gehandelt, Obdachlosigkeit hingegen gilt als Fall ins Bodenlose. Bis zur Coronakrise beherrschten die steigenden Kosten des Wohnens und die Angst vor der Wohnungslosigkeit den Diskurs, aber mit den Ausgangssperren und Kontaktverboten wurde plötzlich wieder klar, was Wohnen in aller Ambivalenz bedeutet: Schutz vor Gefahren, ein gesicherter Raum des Intimen und Persönlichen, aber eben auch ein Gefängnis und ein Raum der Vereinsamung. Quarantäne in der eigenen Wohnung heißt nichts anderes, als dass diese zum Gefängnis oder zur Monade wird, was vor allem Singles und Menschen beeinträchtigt, die eng zusammengepfercht wohnen und die Außenwelt als erweiterten Wohnraum benötigen.

      Der Aspekt des Schutzes vor dem Außen und des Abstands zum Anderen macht einleuchtend, warum die Unverletzlichkeit der Wohnung von der Verfassung fast so hoch wie die Würde des Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz geschützt ist. Wenn die Wohnung oder das Haus wieder zur Burg wird, die vor Gefahren schützen und für Sicherheit sorgen soll, verwandelt der verordnete Rückzug in die eigenen oder gemieteten vier Wände diese trotz historisch einmaliger medialer Anbindung nicht nur an den Nahraum, sondern praktisch an die ganze Welt zugleich in eine Falle, sobald das freie Pendeln zwischen innen und außen eingeschränkt wird. Wer zudem in kleinen, überfüllten, dunklen Wohnungen leben muss oder dem Hype gefolgt ist und in sogenannten »Tiny Houses« oder Mikroappartements wohnt, erfährt in Zeiten von Quarantäne und Ausgangssperren, dass eine angemessene Größe und Beschaffenheit der Innenräume gewährleistet sein muss, um einen längeren Aufenthalt in diesen nicht zügig als bedrückend zu erleben.

      Seltsam ist freilich, dass bislang in der Philosophie das Wohnen nach der radikalen Negation der Kyniker im antiken Griechenland, die sich dem Rückzug in den privaten Raum verweigerten und provokativ ihr Leben im öffentlichen Raum führten, kaum zum Gegenstand wurde. Es blieb ein Nebenthema, kaum erwähnt und durchdacht, obgleich jeder Philosoph wohnt und auch daraus seine Gedanken spinnt. Das Naheliegende und Alltägliche bleibt ausgespart, wird meist nur indirekt thematisiert, vermutlich weil das Wohnen kontextbedingt und zeitlich variabel erscheint, also nicht würdig ist, allgemeines Thema des Daseins zu werden.

      Diesem allgemeinen Trend ungeachtet, machten nach dem Zweiten Weltkrieg zwei äußerst unterschiedliche Philosophen das Wohnen zum Thema: Martin Heidegger als Sympathisant der Nationalsozialisten und der Verankerung des menschlichen Daseins in der Heimat und der Jude Vilém Flusser, der vor den Nazis aus Prag flüchten musste und als Vertriebener eine neue Identität, eine Philosophie der Bodenlosigkeit, entwickelte. Für den Kosmopoliten Flusser hatte Wohnen, vor allem in Bezug auf Heimat, eine völlig andere Bedeutung als für den sesshaften Heidegger. Mit Flusser lassen sich Grundzüge einer modernen Philosophie des Wohnens entwerfen, die konsequent den Begriff der Heimat dekonstruiert: »Man kann die Heimat auswechseln oder keine haben, aber man muss immer, gleichgültig wo, wohnen.«

      Mit der Reise aus dem Bannkreis der Erde heraus, mit den Flügen zum Mond, hat sich der Blick auch auf die Erde als Raumschiff und als singuläre Wohnung des Menschen noch einmal verstärkt. Der Blick von außen, aus dem Weltall, macht die Menschen zu Gästen und zu Mietern der Erde, die es seitdem nicht mehr zu kolonisieren, sondern zu erhalten gilt. Verwoben damit ist die Erzählung vom Paradies, einem Garten als Wohnstätte und der Abschiebung in die Welt. Das machte die Menschen zu heimatlosen Migranten auf der Suche nach einer Wohnung in der Natur, die wieder zu einem Garten umgebaut werden soll. Den Wurf aus dem Paradies muss man mit der Geburt in Verbindung setzen, die den Menschen aus dem Mutterleib als der ersten Wohnung in die Welt »wirft« oder aus deren schließlich beengendem Gehäuse er flieht. Die Suche und das Einrichten in einer Wohnung ist von der Ambivalenz bestimmt, wieder in das geschützte Reservat, in die Höhle oder das Paradies, zurückzukehren oder dies zu rekonstruieren und vom Drang nach dem Freien, der Suche nach Ausgängen. Das zeigt sich auch in philosophischen Entwürfen von Lebenswelten, beginnend mit Platons Höhlengleichnis.

      Die Wohnung, das Haus, ist im digitalen Zeitalter alles andere als der Rückzugsort der Menschen, der Raum des Privaten, durch Mauern, Türen und Fenster getrennt vom Öffentlichen. Mit den sogenannten »Smart Homes« holen wir Maschinen als vermeintliche Diener in den privaten Raum, die uns überwachen und unser Verhalten kontrollieren oder steuern. Über Künstliche Intelligenz könnten sich »Smart Cities« und »Smart Homes« auch verselbstständigen, als Bewohner würden wir dann zu Gefangenen – und richten uns mit Theorien über die Simulation in den digitalen Gefängnissen nach dem Vorbild des platonischen Höhlengleichnisses auch ein.

      Im Gegensatz zu früher ist das digitale Gefängnis nicht mehr Anlass, einen Weg hinaus zu finden, sondern um sich noch besser einzuschließen, was dem Verlangen nach »Gated Communities« und »Gated Nations«, also nach kontrollierten Grenzen, möglichst mit Mauern, entspricht – einem Leben in Festungen, die mit Hightech nach außen und nach innen gesichert sind. Hier kommt auch der Krieg ins Spiel, der Festungen, Bunker und Häuser zerstört und Vertriebene hervorbringt. Es ist eine besondere Weise des Entwohnens, die auch im Alltag permanent durch Abriss, Neubau und Gentrifizierung vonstattengeht und manchen in die Obdachlosigkeit stürzt.

      Im Zweiten Weltkrieg kulminierte der Luftkrieg in der Vernichtung ganzer Städte. Nachdem man aus dem Ersten Weltkrieg gelernt hatte, richtete man in Deutschland ein System von genormten Schutzbauten in Häusern ein und veränderte Stadtbaubilder, die von der verdichteten Stadt – nach Le Corbusier »Wucherungen« – in die funktional aufgeteilte, »gegliederte und aufgelockerte« Stadt mit den neuen Wohnsiedlungen wechselten. Sie sollte bei den Nazis als Schutz vor Luftangriffen dienen, die nur noch einzelne Häuser zerstören konnten, aber nicht mehr ganze Stadtviertel. Ebenso wurde darauf geachtet, möglichst nur feuerfeste Materialien zu verwenden, die auch heute noch in unseren Gebäuden zur Anwendung kommen. Mit der Vorstellung, sich durch Schutzräume sichern zu können, räumten allerdings die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki gründlich auf. In den 1960er Jahren stellte der deutsche Staat die letzten Programme zum Bau von Schutzräumen ein, der Regierungsbunker wurde hingegen erst in den 1990er Jahren stillgelegt. Jetzt bereiten sich sogenannte »Prepper«, die Kriege oder Katastrophen erwarten, privat durch Bunker und andere Schutzmaßnahmen vor, während das Heiligste der digitalen Gesellschaften, die Serverfarmen und Rechenzentren, zu den am besten geschützten Orten werden, zu den Festungen der digitalen Gesellschaften.

      Der Blick nach vorne in die neue »Un-Heim-lichkeit« des Wohnens führt in Exkursionen, wie in der Geschichte des Menschen gewohnt wurde. Dabei findet häufig der Umstand Erwähnung, dass Wohnen mit frühen Erfahrungen des Lebens im geschützten Uterus und dem Sturz in die Welt verbunden ist – Erfahrungen, die vermutlich Erwartungen an das Wohnen geprägt haben. Wie haben frühe Menschen gewohnt, wann haben sie begonnen zu wohnen, wie hat sich das geschützte Wohnen, möglich geworden durch Werkzeuggebrauch und Feuermachen, auf die Entwicklung des Menschen ausgewirkt? Und was ist mit der letzten Wohnung eines Menschen, dem Grab?

      Wohnen ist mit dem Verhalten zum Gast verwoben. Die Menschen sind Gast auf der Erde, aber sie haben ihre Wohnungen mit vehementen Mitteln, vor allem ab dem 19. Jahrhundert, gegen unerwünschte


Скачать книгу