Sein und Wohnen. Florian Rötzer

Sein und Wohnen - Florian Rötzer


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gestalteten Garten umgestaltet werden musste. Das Paradies ist eine Erinnerung an eine Vergangenheit, aus der die Menschen unwiederbringlich geworfen wurden, die Kultur ist das Bemühen der Rückkehr mit anderen, selbst geschaffenen Mitteln des Menschen als zweitem Gott, wie man in der Renaissance glaubte. Er verwandelt die Wildnis und den Acker in einen Garten mit gezähmten Tieren und zieht in die Städte mit den umbauten Räumen, den Häusern und Wohnungen, um den Traum von der Gartenstadt, das Wohnen im Garten, zu realisieren.

      Nach der jüdisch-christlichen, auch islamischen Tradition entstand die Scham aus der Geburt des Selbstbewusstseins als Folge der Übertretung von Gottes Befehl, die Frucht vom verbotenen Baum nicht zu essen. Plötzlich wurden sich Adam und Eva ihrer Nacktheit bewusst. Nach der Bibel bedeckten die beiden ihre »Scham« mit Feigenblättern, verbargen also ihre Geschlechtsorgane und damit ihr sexuelles Begehren. Einem Hinweis von Marshall McLuhan folgend, der das Haus als kollektive Kleidung verstand,6 sind Kleidung und Wohngehäuse keineswegs nur ein Schutz vor widrigen Klima- und Wetterbedingungen oder vor Feinden, sondern auch schambedingte Verhüllungen, im Fall des Wohngehäuses als Rückzugsort, in dem der Scham unterworfene Verhaltensweisen im Geheimen vollzogen werden können.

      Es ist ein großer, letztlich ungelöster Streit, ob im Zuge der Neuzeit und Moderne die Scham und damit der Wunsch nach privatem Raum, wie von Norbert Elias in seinem Klassiker Über den Prozeß der Zivilisation ausgeführt, weiter zugenommen (»Vorrücken der Schamgrenze«) oder ob sich diese nur verändert hat, sie also eine anthropologische Konstante ist, was etwa Hans Peter Duerr in Der Mythos vom Zivilisationsprozess zu belegen suchte und gleichzeitig argumentierte, dass die Schamgrenze absinke. Ziemlich eindeutig ist, dass bis zur Neuzeit die »Notdurft« nicht im Geheimen, in der abgeschlossenen Toilette, sondern etwa in der römischen Antike in der öffentlichen Kloake gemeinsam oder später im öffentlichen Raum beziehungsweise in den gemeinsamen Privaträumen verrichtet wurde. Vermutlich waren auch Nacktheit und Sexualität ebenso wie körperliche Gerüche oder Flatulenz kein Anlass zur Scham.

      Unabhängig von dieser Grundsatzfrage ist davon auszugehen, dass sowohl die Erfindung der Kleidung als auch die des Gehäuses neue Verhaltensweisen und Unterschiede zwischen öffentlich und privat entstehen ließen – und das dadurch erst mögliche und raffinierte Spiel zwischen Zeigen und Verbergen. Es könnte zur Ausbildung von Scham und gleichzeitig zur Erregung des Begehrens beim permanent sexualisierten Leben des Menschen geführt haben, das im Unterschied zu Tieren keinen Sexualzyklus kennt. Auch das ist möglicherweise eine Folge des geschützten Wohnens und anderer Kulturtechniken, die den Menschen unabhängiger von den Bedingungen der Außenwelt machten. Je bedeckter die Menschen in den Schamkulturen sind, je zurückgezogener Sexualität nachgegangen wird, desto stärker sind diese mit Nacktheit oder dem Sich-Entblößen als eine Art der Einladung verbunden und desto stärker wird das öffentliche Verhalten sozial normiert.

      Die »kollektive Bekleidung« durch erste Konstruktionen von Gehäusen aus Steinen, Ästen, Fellen und Tierhäuten, der Rückzug aus der Öffentlichkeit in einen primitiven, aber privaten, abgeschiedenen Raum, schafft schlicht eine gewisse Sicherheit, nicht von Konkurrenten, Neugierigen oder Bedrohungen gestört zu werden und seinen Tätigkeiten in Ruhe nachgehen oder sie überhaupt erst entwickeln zu können. Es entsteht erstmals historisch eine Intimität, die im ge- und verborgenen Innen- oder Wohnraum geschützt neue Verhaltensweisen entstehen lässt. Es ist davon auszugehen, dass es in den frühen Wohnungen wie noch in den Häusern der Jungsteinzeit, von denen zumindest Gebäudegrundrisse erhalten sind, nur einen Raum gegeben hat, in dem sich das gesamte Leben der Bewohner, wozu auch die ersten Haustiere gehörten, gemeinsam abspielte – mit dem Mittelpunkt der multifunktionalen Feuerstelle, die wärmte, auf der man kochte, die vor Insekten schützte und um die herum man sich aufhielt, aß und schlief.7 Intimität wird es also nur nach außen hin gegeben haben, bis dann die Häuser wuchsen und das Innenleben räumlich in verschiedene Funktionen wie Gemeinsamkeit, Essen, Schlafen und Arbeiten sowie in individuelle Räume aufgeteilt wurde.

      Man schläft durch, kultiviert die Sexualität, legt die Posen ab, die zur Selbstbehauptung in der Gruppe notwendig sind, zeigt sich nackt, wird »authentisch«, kann sich im Geheimen vorübergehend den Normen der Gruppe entziehen, individualisiert sich und kommt schambehaftet in Konflikt mit der Gruppe. »Was künstlich ist, verlangt geschloßnen Raum«, schrieb Goethe. Die Wohnung ist seit der Erfindung der Behausungen im Neolithikum eine Brutstätte des Dissidenten, der Abweichung, der kulturellen Innovation geworden. Und die Einsicht, die aufdeckt und entblößt, wird damit zur Obsession und zur Pornographie, die zeigt, was verborgen, hinter der Schamgrenze bleiben sollte und dafür umso mehr zum Gegenstand der Begierde gerät. Auch der Beobachter des Intimen wird zum Eindringling und moralisch sanktioniert.

      Fenster sind eine relativ neue Erfindung, sie entstanden erst im Laufe der Urbanisierung vor wenigen tausend Jahren. Der umschlossene Raum benötigte immer eine Türöffnung, die Luft einließ, aber auch verhängt werden konnte, und einen Rauchabzug. Mit festen Bauwerken kamen Öffnungen auf, die kaum einen Blick nach außen oder innen ermöglichten, bloße Schlitze zur Luftzirkulation, schließlich erst sparte man größere Öffnungen aus, die Luft und Licht eintreten und sich mit hölzernen Windläden, Stroh, Fellen oder Tüchern verschließen ließen. In einer der frühen Siedlungen, in der im achten Jahrtausend vor Christus gegründeten Stadt Çatalhöyük in Zentralanatolien, reihten sich die Häuser dicht aneinander, Zugang gab es meist vom Dach her. Oft wurden Häuser wie seit dem alten Ägypten so gebaut, dass sie sich zum Innenhof öffneten und zur Straße hin geschlossen waren. In wärmeren Gebieten sorgte man sich wenig um den Schutz vor Kälte, wohl aber in kühleren, wo die Möglichkeit zum Verschließen der Öffnungen hohen Nutzen versprach. Mit lichtdurchlässigen Materialien wie Alabaster, Tierhäuten, Pergament und schließlich Glas trat Licht in die dunklen Höhlen ein, aber sie gewährten anfangs nur bedingt Einblick. Glas war zunächst nicht farblos.

      Ab dem 13. Jahrhundert wurden mit der Verbesserung der Herstellung von Flachglas die Gebäudefenster von Schlössern und Burgen bis hin zu Privathäusern zunehmend verglast. Seit der Renaissance sind Fenster auch bei Wohnhäusern ein wichtiges Element der Fassadengestaltung. Die allmähliche Vergrößerung der Fensterflächen und die Erfindung des farblosen Kristallglases führten – parallel zur philosophischen Aufklärung – zu einer Erhellung oder Aufklärung der Innenräume und des Innenlebens. Ende des 19. Jahrhunderts verschwanden die bislang notwendigen Unterteilungen und die Glasflächen vergrößerten sich just in der Zeit, als Gaslichter immer weitere Verbreitung fanden, die mit ihrem konstanten, gleichförmigen Licht die Nacht zum Tag machten, aber den Räumen auch Sauerstoff entzogen.

      Durch das elektrische Licht wurde das Tageslicht endgültig durch künstliches Licht ersetzt, was paradoxerweise wieder geschlossene Räume und neue architektonische Höhlen wie Theater, Kinos oder Fabrikationsräume ermöglichte,8 während der gleichzeitige Durchbruch der Mauern schließlich mit den von außen ganz und gar einsichtigen, von allen Ornamenten befreiten und ohne tragende Steinkonstruktionen auskommenden Bauten aus den neuen Materialien Glas und Eisen sowie vorgefertigten Teilen wie das Palmenhaus in Kew (1844 –1848) und dem Kristallpalast der ersten Weltausstellung 1851 erfolgte.

      Das Einbrechen des Tageslichts und das elektrische Licht, das keine Vorbereitungen mehr verlangte, sondern nur noch die Betätigung des Lichtschalters, verändern die Farben und die Wahrnehmung der Innenräume, vertreiben die Düsternis, decken gnadenlos Staub und Schmutz auf und damit auch die vollgestopften Interieurs der »gemütlichen« Zimmer. Dunkelheit verwandelt sich in Verdunkelung, zu einer Option, ebenso wurden Vorhänge, Jalousien oder Gardinen zum Sichtschutz, der die Intimität aufrechterhält und Scham abwehren soll. Mit der »schamlosen« Öffnung der Innenräume durch neue, große Fensterfronten erfolgten schnell auch weitere Durchbrüche mit der Telefonie, dem Radio und schließlich dem Fernsehen. Im Zuge der digitalen Vernetzung und den Smart Homes definieren sich Öffentlichkeit und Privaträume neu: An die Stelle der traditionellen Mauern treten mehr und mehr digitale Konstrukte des Schutzes vor Trojanern und Hackern. Überwacht werden damit natürlich auch die Datenströme der Bewohner.

      Jean-Paul Sartre hat in Das Sein und das Nichts die auch räumliche Bedingtheit der Scham an einer buchstäblichen Schlüsselszene herausgearbeitet,


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