Trau dich. Heike Malisic

Trau dich - Heike Malisic


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2021 vor Augen. Vor zehn Jahren haben wir uns auch ganz schön was getraut und sind über uns hinausgewachsen. Wir sind selber immer wieder erstaunt, was seitdem passiert ist und wie wir uns immer mehr zugetraut haben. Unser großes Anliegen besteht darin, Menschen zu ermutigen, das Beste aus ihrem Leben zu machen. Eben: sich was zu trauen.

      So entstand die Idee unsere eigenen Traudichs mit dir zu teilen.

      »Wie wäre es, wenn wir einfach mal Traudichs sammeln und daraus die Hauptkapitel machen?«

      »Wie wäre es, wenn wir zu den Kapiteln unsere eigenen Traudich-Geschichten schreiben, unsere persönlichen Siege und Pleiten, private und berufliche?«

      »Wie wäre es, wenn wir mal so richtig ausholen und verraten, was uns im Leben stärker gemacht hat? Unsere Erfolge, aber auch unsere Niederlagen?«

      »Wie wäre es, wenn sich jede zuerst einmal ein paar Kapitel raussucht und die passenden Geschichten dazu schreibt?«

      »Wie wäre es, wenn erst einmal jede nur ein Kapitel schreibt, um zu schauen, wie das zueinander passt?«

      »Wir wäre es, wenn wir auf unsere Unterschiedlichkeit zu sprechen kommen?«

      »Wie wäre es, wenn wir mal erzählen, unter welchen Umständen wir groß geworden sind?«

      Beate und ich haben ganz unterschiedliche Erfahrungen in unserer Kindheit gemacht. Während Beate in glücklichen Verhältnissen aufwuchs, Liebe, Geborgenheit und Annahme erfahren hat, verlief meine Kindheit eher unter schwierigen Umständen.

      Weil die Persönlichkeitsentwicklung maßgeblich unter dem Einfluss der Erfahrungen in der Kindheit stattfindet, fangen wir einfach mal beim Anfang an.

Es war einmal …

       [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

      Heikes Geschichte

      Ich habe keine Ahnung, wie meine Mutter damals reagierte, als sie feststellte, dass sie mit mir schwanger war. Die Beziehung zu meinem Vater endete so schnell, wie sie begonnen hatte. Übrig geblieben war ich. Vor ein paar Jahren erzählte mir meine Mutter die ganze Geschichte aus ihrer Sicht. Sie lebte damals noch bei ihrer alleinerziehenden Mutter. Ihren Vater kannte sie kaum, da die Ehe ihrer Eltern geschieden wurde, als meine Mutter noch sehr klein war. Meine Oma war eine strenge Frau, die es nicht zuließ, dass meine Mutter mich bei sich großzog. Im sechsten Monat schwanger musste sie in ein Mütterheim, damit die Nachbarn bloß nicht mitbekamen, dass sie ein uneheliches Kind erwartete. Es waren die Sechziger.

      Sofort nach meiner Geburt kam ich für einige Zeit in ein Kinderheim, danach wurde eine Pflegefamilie für mich gefunden. Mein Urvertrauen war angeknackst. Ein Jahr später kam mein Vater zurück. Für meine Mutter damals die einzige Möglichkeit, mich wieder zurückzubekommen. Damit begann das Desaster. Es gab viel Streit, Gewalt und unschöne Erfahrungen, bei denen ich nicht ins Detail gehen möchte. Meine Eltern haben es sicherlich so gut gemacht, wie sie eben konnten, aber als Kind habe ich die Folgen der katastropalen Ehe zu spüren bekommen.

      Das Grundgefühl, an das ich mich erinnere, war Angst.

      Angst, verlassen zu werden, Angst, allein zu sein, Angst, nicht geliebt zu sein, Angst vor Versagen, Angst, Erwartungen nicht zu entsprechen, Angst vor Unberechenbarkeit, vor dem Donnerwetter, Angst, mich zu blamieren, Ärger zu bekommen, nicht genug zu haben, zu kurz zu kommen, keine Freunde zu haben, zu widersprechen.

      Als Kind war mir das nicht so bewusst, aber durch den Kontakt zu anderen bekam ich eine Ahnung davon, dass Familie eigentlich anders gelebt wird.

      Die schönsten Erinnerungen habe ich an Weihnachten. Wenn mein Vater mit uns zur Oma fuhr, wir dort den Nachmittag verbrachten und währenddessen meine Mutter den Tannenbaum schmückte und die Geschenke unter den Baum stellte. Nach unserer Rückkehr mussten wir vor der geschlossenen Wohnzimmertür warten, bis Mutter das Glöckchen klingelte. Weihnachten war immer Frieden. Auch bei uns.

      Eins meiner Highlights war meine große Barbie-Ausstattung. Ich hatte eine Tante in Amerika, die uns regelmäßig zu Weihnachten Pakete schickte. Für mich waren immer Barbie und Co. dabei. Schon in den 70ern hatte ich einen Swimmingpool, einen Campingwagen, ein Zelt und anderes Zubehör, das es in Deutschland noch nicht zu kaufen gab. Mit meinen Barbie-Figuren spielte ich regelmäßig heile Familie. An einem Tag kam mein Vater von der Arbeit nach Hause und es gab ein riesiges Donnerwetter wegen unserem unaufgeräumten Zimmer. Er beförderte meine komplette Barbie-Sammlung in die große Mülltonne vor unserem Haus. Die Nachbarskinder bekamen davon Wind und freuten sich über neues Spielzeug. Ich muss damals neun Jahre alt gewesen sein.

      Solche Ausbrüche haben sich seitdem wiederholt. Mein Herz fing jedes Mal vor Angst an zu rasen, wenn mein Vater im Anmarsch war. Wenn ich aus meinem Zimmer heraus die Autotür hörte, wenn er die Treppe hochkam, den Schlüssel in die Wohnungstür steckte. Ich war immer in Habachtstellung. Ich teilte mir damals mit meinem drei Jahre jüngeren Bruder ein Zimmer. Wir zwei lagen schon im Bett, da gab es mal wieder einen Streit zwischen meinen Eltern. Plötzlich riss mein Vater die Tür zu unserem Zimmer auf und machte ein großes Theater, weil es nicht aufgeräumt war. Er zog alle Schränke auf und schmiss unsere ganzen Sachen auf den Boden. Danach bekamen wir beide eine Tracht Prügel. Mein Bruder und ich saßen anschließend weinend im Bett und legten einen Schwur ab: »Das werden wir ihm NIE verzeihen.« Wir verabredeten sogar ein Codewort, mit dem wir uns über Jahre an diesen Schwur erinnerten. Sehr viel später erst erkannte ich, wie wichtig Vergebung ist.

      Ordnung gehörte nicht zu meinen Fähigkeiten, sehr zum Leidwesen meiner Eltern. Auch die schlimmsten Disziplinarmaßnahmen brachten nicht den gewünschten Erfolg. Der einzige Ort, an dem ich Ordnung lernte, war bei meiner Oma. Sie wachte mit Argusaugen darüber, dass ich meine Sachen SOFORT an den Platz räumte, wo sie hingehörten. Ich verbrachte meine Ferien gerne bei ihr. Trotz ihrer Strenge. Bei ihr musste ich mit geradem Rücken auf dem Stuhl sitzen. Hin und wieder mit Bügel im Rücken. Ihr habe ich wohl meine gerade Haltung zu verdanken. Während sie täglich mit einer Kehrmaschine den Teppich saugte, musste ich mit einem Kamm die Teppichfransen gerade kehren. Meine Oma brachte mir das Stricken, Häkeln und Nähen bei. »Langes Fädchen, faules Mädchen«, lehrte sie mich. Und: »Halte Ordnung, liebe sie, es erspart dir viel Zeit, Arbeit und Müh.« Sie kochte den allerleckersten Wirsing. Bei ihr war Ruhe und Beständigkeit.

      Es gab vieles, was ich mir anders gewünscht hätte, aber es war nicht alles schlecht. Als Kind, das in den Siebzigerjahren groß wurde, gehörten Gummitwist und Seilspringen zu meinen Lieblingssportarten. Und Hula-Hoop. Bis heute schaffe ich es, stundenlang mit Schwung den Ring über die Taille zu schwingen. Gelernt ist gelernt. Was ich nie gut konnte: Handstand, werfen und fangen. »Das kannst du wirklich nicht«, bestätigen auch meine Kinder. Außer Basketball. Körbe werfen klappt.

      Als ich 12 Jahre alt war, trennten sich meine Eltern. Ich blieb mit meinem Bruder umständehalber bei meinem Vater, seiner neuen Partnerin und ihrer Tochter. Wir zogen damals vom Dorf in die Großstadt. Wir wohnten in Köln, meine Mutter zog nach Bremen. Sie lernte einen neuen Partner kennen und heiratete wieder. Ich weiß noch, als ich sie damals das erste Mal zusammen mit meinem Bruder besuchte. So viel Ruhe, Geborgenheit und Harmonie hatte ich noch nie in meinem Leben erfahren. Für mich stand fest: Ich ziehe zu ihr. Noch im Zug auf der Rückfahrt von Bremen nach Köln erzählte ich meinem Bruder davon. Er war sofort hellauf begeistert und wollte auch. Drei Wochen später zog er um.

      Warum ich die Entscheidung traf, doch nicht zu gehen, weiß ich nicht mehr. Vielleicht wollte ich meinen Vater nicht enttäuschen. Vielleicht erhoffte ich mir aber auch ein besseres Leben, wenn ich mit ihm allein blieb. Ich war damals 13 oder 14 und die pubertierende Egozentrik hatte mich voll im Griff. Das führte unter anderem dazu, dass es mir in der Schule wichtiger war, beliebt zu sein, als gute Noten zu schreiben. Die achte Klasse wiederholte ich freiwillig, weil ich sonst mit dem Französischunterricht nicht hätte weitermachen können. Aber auch in den folgenden Jahren nahm ich das mit dem Lernen nicht so wichtig.


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