Trau dich. Heike Malisic
meine Stärke. Wenn es heute bei uns am Tisch ums Rätselraten geht, rufen die Kinder schon immer: »Mama macht nicht mit.«
Als junges Mädchen hatte ich einige Träume. Einige traute ich mich anzugehen, andere nicht. Ich wollte gerne Klavier spielen lernen und tanzen. Mein Vater stellte mich vor die Wahl: Klavierunterricht oder Tanzschule. Ich wählte die Tanzschule.
Das war ab sofort das Highlight meiner Woche. Bei einem Wettbewerb gewann ich sogar den zweiten Platz und sah mich schon als Profitänzerin auf der Bühne. Mit 15 Jahren kam der Wachstumsschub. Innerhalb von ein paar wenigen Monaten schoss ich auf 1,76 m in die Höhe. Superschlank, mit langen Beinen bekam ich damals den Vorschlag, mich als Model zu bewerben. Lach jetzt ruhig, aber wenn dir so was im Alter von 16 Jahren gesagt wird, dann bist du schon geschmeichelt und beginnst, von einer Karriere zu träumen. Aber nur kurz, denn natürlich wusste ich, dass Tanzen und Modeln brotlose Künste sind. Außerdem wollte ich sowieso Nachrichtensprecherin werden, am liebsten bei der Tagesschau. Leider lispele ich etwas, vor allen Dingen, wenn ich aufgeregt bin, und damit war dieser Traum schon zerplatzt, bevor er richtig geträumt war.
In der Schule standen die Praktika an. Mit meinem Zahlenverständnis brauchte ich nicht lange zu überlegen. Ich ging zur Bank. Nach dem Praktikum war mir klar: Ich werde Bankkauffrau. Doch auf jede meiner Bewerbungen bekam ich eine Absage.
Zu Hause spitzte sich die Situation zwischen meinem Vater und mir zu. Ich war mittlerweile 16 Jahre alt und wurde quasi zu Hause eingesperrt. Zur Schule gehen, putzen, lernen und lesen waren die einzigen Dinge, die ich durfte. Dabei wäre ich zu gerne mit Freunden auch abends zum Tanzen gegangen. Ich wurde rebellischer und mutiger. Einmal habe ich mich widersetzt, mit dem Ergebnis, dass plötzlich mein Vater vor mir in der Disco stand.
Es gab so viele andere Situationen, an die ich mich gar nicht mehr erinnern und die ich auch nicht erzählen möchte. Kurz vor meinem 17. Geburtstag stand ich wieder vor der Entscheidung wegzugehen. Ich war drei Wochen bei meiner Mutter zu Besuch und hatte gehofft, dass sie mich fragen würde, ob ich zu ihr ziehen wolle. Ich selbst traute mich nicht zu fragen. Was würde passieren, wenn sie Nein sagte? Praktisch gesehen war ein Umzug schwierig, da sie zusammen mit ihrem neuen Mann und meinem Bruder in einer 3-Zimmer-Wohnung lebte. Wo sollte ich da unterkommen?
Zurück von meinem Besuch eskalierte es zu Hause. Ich wusste, mein Vater würde mich niemals gehen lassen. Ich traf meine Entscheidung. Ohne ihm oder meiner Mutter Bescheid zu sagen, packte ich ein paar Sachen zusammen und verließ Köln. Für immer. Das war am 11. April 1983, zwei Monate vor meinem 17. Geburtstag. Während der gesamten Zugfahrt hatte ich Angst, dass mein Vater mein Fehlen frühzeitig bemerken und mich an irgendeinem Bahnhof abfangen würde. Auch wusste ich nicht, wie meine Mutter reagieren würde.
Als ich bei ihr zu Hause ankam und die Treppe zu ihrer Wohnung hochlief, stand sie an der Tür, schlug die Hände vors Gesicht und rief: »Kindchen, was machst du denn hier?« »Mama, schick mich bitte nicht wieder weg.« Dann brach ich in Tränen aus und fiel ihr um den Hals. Für meine Mutter war völlig klar, dass ich bleiben konnte. Sie hatte nur nicht erwartet, dass ich zu ihr ziehen wollte. Wir hatten uns beide damals nicht getraut zu fragen. Nach all den Jahren der Angst war das die mutigste Entscheidung, die ich in meinem Leben getroffen habe. Meine Mutter sagt heute noch: »Es war die beste Entscheidung deines Lebens.«
Anfangs schloss ich mich bei jedem Klingeln an der Haustür im Badezimmer ein. Ich hatte Angst, dass mein Vater mich wieder zurückholen wollte. Er drohte meiner Mutter ständig damit am Telefon. Und er weigerte sich, mir meine persönlichen Sachen zu schicken. Ich weiß, dass ich ihn mit meinem Weggang sehr verletzt habe. Ihm war vor allen Dingen das Ansehen anderer Leute sehr wichtig. Jetzt hatten ihn beide Kinder verlassen. Auch wenn unser Verhältnis so schwierig war, er hat mich dennoch geliebt. Ich ihn auch. Es vergingen ein paar Jahre, bis wir uns versöhnten.
Nachdem meine Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht und später das Sorgerecht bekommen hatte, entspannte ich mich etwas. Es war wie ein Durchatmen. Mein Leben nahm eine 180-Grad-Wende. Meine schulischen Leistungen verbesserten sich schlagartig und ich bekam plötzlich Lust zu lernen. Der ganze emotionale Leistungsdruck von zu Hause war weg. Ich lernte nicht mehr, um meinem Vater gerecht zu werden, sondern weil ich das wollte. Ich schloss die Realschule als Zweitbeste meines Jahrgangs ab und bekam schon nach dem ersten Halbjahr die Empfehlung, weiter auf das Gymnasium zu gehen. Meine Mutter empfahl mir damals den »sicheren« Weg. Im öffentlichen Dienst gab es ein paar freie Ausbildungsplätze. Ich schrieb zwei Bewerbungen, eine an das Gymnasium, eine an den Senat der Stadt Bremen. Die Zusagen kamen zeitgleich.
Noch heute hadere ich ein wenig damit, dass ich kein Abitur gemacht habe, aber hätte ich den Weg aufs Gymnasium gewählt, wäre mein Leben komplett anders verlaufen. Während der Berufsschulzeit habe ich meine Freundin Karin kennengelernt, die mich damals mit in ihre Kirche nahm. Dort habe ich zum Glauben an Jesus gefunden, habe meine Werte verändert, meinen Mann kennengelernt und Freundschaften geschlossen, die bis heute währen.
Für mich ist es eins der größten Wunder, wie ich mich trotz meiner schwierigen Vergangenheit entwickelt habe. Wie ich alte, festgefahrene Erfahrungen, Charakterzüge und Generationsentwicklungen durchbrechen konnte und ein selbstbestimmtes und glückliches Leben führen kann. Die Ehe meiner Eltern war geschieden, die meiner Großeltern auch, auch die Eltern und Großeltern meines Mannes waren getrennt. Ich habe, ohne noch näher ins Detail zu gehen, Dinge gesehen, gehört und erlebt, die ein Kind nicht hätte sehen, hören oder erleben dürfen.
Darum erzähle ich dir meine Geschichte. Es ist definitiv wahr, dass deine Kindheit über deine Persönlichkeitsentwicklung mitentscheidet. Aber das heißt nicht, dass du nicht jederzeit die Möglichkeit hast, deinem Leben eine Wende zu geben. Es gibt Menschen, die aus den schwierigsten Verhältnissen kommen und ein erfolgreiches, selbstbestimmtes Leben führen. Und andere wiederum, bei denen alles nach Plan lief, die ein gutes Elternhaus hatten, Freunde an jeder Hand, umhegt und gepflegt wurden und die dennoch ihr Leben an die Wand fahren.
Mutig zu sein ist eine Entscheidung und Angst zu haben gehört dazu.
Am Ende zählt nicht, woher du kommst, sondern wohin du gehst.
Oder wie C. S. Lewis schrieb: »Du kannst nicht zurück und den Anfang ändern, doch du kannst da beginnen, wo du bist, und das Ende ändern.«
DAS IST MIR WICHTIG
• Auch wenn deine Vergangenheit schwierig war, gab es schöne Momente. Fokussiere dich darauf.
• Du hast die Möglichkeit, festgefahrene Charakterzüge und Generationsentwicklungen zu durchbrechen.
• Gott hat den besten Plan für dein Leben.
• Mutig zu sein ist eine Entscheidung. Angst zu haben gehört dazu.
• Am Ende zählt nicht, woher du kommst, sondern wohin du gehst.
Beates Geschichte
»So eine große Frau und so ein kleines Kind«, scherzte der Arzt bei meiner Geburt. Ich war ein Sandwichkind, das dritte von vier Kindern. Meine älteren Geschwister und ich kamen innerhalb von drei Jahren zur Welt und meine Eltern bauten gerade ein Haus. »Mehr Kraft war da wohl gerade nicht drin«, lächelte meine Mutter, wenn sie von früher erzählte. Aber sie war eine Vollblutmutter, die täglich mit uns in den Wald ging. Im Herbst sammelten wir Eicheln und Kastanien, um mit Streichhölzern daraus zu Hause Tiere zu basteln. Wenn wir aus dem Kindergarten und der Schule kamen, duftete es schon von Weitem nach Mittagessen. Vorher gab es frisch gepressten Obst- oder Möhrensaft.
»Ihr habt uns Kindern eine Steilvorlage fürs Leben gegeben«, ehrte ich meinen Vater in meiner Laudatio anlässlich eines runden Geburtstags. Schwimmen, Sportverein, Musikunterricht und kirchliches Leben gehörten wie selbstverständlich zu unserer Kindheit.
Ich war eine leidenschaftliche Wasserratte, am liebsten unter Wasser, und zwar so lange, bis ich vor Kälte bibberte. Das bescherte mir regelmäßig Mittelohrentzündungen, die schließlich chronisch wurden. Meine erste Frage bei den Ohrenarztbesuchen: »Wann darf ich wieder schwimmen?« Bis ich 22 war, hatte ich jedes Jahr mehrmals