Vom selben Blut - Schweden-Krimi. Åke Smedberg

Vom selben Blut - Schweden-Krimi - Åke Smedberg


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auf einem Festplatz in Westschweden zu Tode geprügelt worden. Die Leiche wurde erst am nächsten Tag gefunden, sie war ins Gebüsch geworfen worden. Niemand war für die Straftat verurteilt worden.

      »Ich habe die Statistik nicht im Kopf«, fuhr Rydalen fort, »aber wenn man sich die Gewaltverbrechen ganz allgemein ansieht, dann handelt es sich zum großen Teil um junge Männer, oder? In Thomas’ Alter in etwa. Als Täter und als Opfer oder beides. Wenn ich mich vor all dem drücken würde, gäbe es bald nicht mehr viel, um das ich mich kümmern könnte.«

      Ahrén nickte.

      »Ja, ich will dich natürlich weiterhin bei dem Fall dabeihaben. Glaub bloß nichts anderes. Es gibt hier niemanden mit deiner Erfahrung. Aber ich dachte nur, dass das hier vielleicht . . . ja, also, dass es schwierig würde . . . bei all den Ähnlichkeiten . . .«

      Rydalen schüttelte den Kopf.

      »Dank dir. Aber wie gesagt, ich komme schon klar. Es sind inzwischen ja einige Jahre vergangen. Und schlussendlich ist man gezwungen, sich zu bemühen, das, was geschehen ist, zu akzeptieren. Wenn das überhaupt möglich ist. Nicht, dass man vergisst. Aber es wird nicht mehr schlimmer.«

      Er musterte Ahrén erneut.

      »Auch nicht viel besser. Aber es gibt eine Art Gleichgewicht. Etwas, mit dem man leben kann. Das konnte ich damals nicht glauben. Aber dann . . . ja, es geht . . .«

      Er schwieg und machte eine ausholende Geste.

      »Also mache ich weiter. Wenn du nichts dagegen hast.«

      »Das freut niemanden mehr als mich«, sagte Ahrén. »Ja, dann gehört also Sandra noch dazu. Wenn du ihre Witze erträgst.«

      Rydalen lächelte wieder kurz.

      »Vielleicht sollte ich ihr ein paar von meinen erzählen?«

      Ahrén sah ihn mit einem gequälten Gesichtsausdruck an.

      »Du willst mir nur Angst einjagen, oder?«

Ein guter Junge

      Lindståhls volles Haar war fast ganz weiß, genau wie die buschigen Augenbrauen. Er war groß, drahtig und hatte immer noch einen geraden Rücken. Wie er so da stand, hinter dem Gartentor auf dem Grundstück des Hauses, kerzengerade und reglos, erinnerte er Nielsen an einen Rasierpinsel.

      Er sagte nichts und sah Nielsen aus seinen blassblauen Augen starr an.

      »Komm, Bengt. Bringen wir unseren Gast nach drinnen.«

      Eine Frau im selben Alter wie Lindståhl tauchte aus einem anderen Teil des Gartens auf und nahm seine Hand.

      »Dann haben Sie wohl angerufen. John Nielsen? Kommen Sie nur. Wir gehen hinein. Es ist ein bisschen zu kühl, um noch draußen zu sitzen, finde ich. Zumindest für uns alte Leute.«

      Sie ging auf das Haus zu und führte ihren Mann, den sie fest an der Hand hielt.

      Sie saßen an einem Tisch im Wohnzimmer. Lindståhl sah ab und zu auf Nielsen, aber meist beobachtete er die Bewegungen seiner Frau, während sie den Tisch deckte.

      »Nun, ich habe Ihnen ja erzählt, wie es aussieht. Und dass es wohl keine gute Idee ist, ihn nach irgendetwas zu fragen. Jedenfalls kann man keine Antwort erwarten.«

      Sie schenkte Kaffee ein. Die Tasse ihres Mannes hatte sie bereits zur Hälfte mit Milch gefüllt. Er griff fast sofort danach und leerte sie mit einem Schluck, dann hielt er sie ihr wieder hin.

      »Ich muss aufpassen, dass er sich nicht schwer verbrennt«, fuhr sie entschuldigend fort, »oder sich verschluckt. Er hat kein Gefühl mehr für solche Dinge. So, Bengt. Jetzt ist es genug. Du bekommst stattdessen das hier.«

      Sie stellte die Tasse außer Reichweite für ihn, nahm eine Zimtschnecke vom Kuchenteller, brach ein Stück ab und reichte es ihm.

      »Auf der Beerdigung hat man kaum etwas gemerkt«, sagte Nielsen.

      »Rein körperlich ist er immer noch in guter Verfassung. Ich würde sagen, besser als die meisten in seinem Alter. Und wenn sich jemand um ihn kümmert, dann geht es eigentlich gut. Er ist meistens umgänglich, tut, was man ihm sagt. Und wenn man es nicht weiß, ist es schwer zu glauben, dass ihm etwas fehlt. Das merkt man erst, wenn man versucht, mit ihm zu sprechen.«

      Sie goss Kaffee und Milch in Lindståhls Tasse und stellte sie vor ihn. Beobachtete ihn, während er danach griff und sie wieder gierig leerte.

      »Es ist nicht einfach, das zu begreifen«, sagte sie. »Jemand, mit dem man über vierzig Jahre zusammengelebt hat. In guten und schlechten Tagen. Und dann verschwindet dieser Mensch einfach, Stück für Stück. Das, was man gemeinsam hatte, gibt es nicht mehr. Sachen, über die man gesprochen hat. Sachen, die man gemeinsam erlebt hat. Ja, es ist, als verschwände auch das eigene Leben . . .«

      Lindståhl hatte sich wieder nach vorn gelehnt, sah seine Frau an, öffnete den Mund, und einen Augenblick lang hatte Nielsen das Gefühl, einen Funken von etwas anderem in seinem Blick zu erkennen. Etwas Lebendiges, Waches, Gequältes. Gleichzeitig verzerrte sich das Gesicht in einer Art heftiger Kraftanstrengung, als versuchte er verzweifelt, sich an etwas zu erinnern. Dann blieb sein Blick an dem Teller mit den Zimtschnecken hängen, und der Funke erlosch genauso schnell wieder. Er streckte die Hand aus, doch seine Frau nahm sie und führte sie freundlich, aber bestimmt zur Seite, sie brach ein Stück von der bereits begonnenen Schnecke ab und gab es ihm.

      »Sie wollten etwas über Lasse Henning fragen?«, sagte sie, während sie Lindståhl beim Essen zusah.

      »Ja«, nickte Nielsen. »Ich frage mich da etwas, und ich hatte gehofft, dass Ihr Mann vielleicht etwas weiß.«

      »Es ist traurig wegen ihm, wegen Lasse«, sagte die Frau. »Es hat mich sehr getroffen, als ich es erfahren habe. Und ich glaube sogar, dass Bengt auch etwas von dem, was geschehen ist, begriffen hat, man hat es ihm angemerkt, als wir nach der Beerdigung nach Hause kamen. Er hat Lasse immer gemocht. Nicht wahr, Bengt?«

      Sie klopfte ihrem Mann auf die Hand, und er sah sie aufmerksam an und nickte.

      »Ein guter Junge«, sagte er. »Du bist ein guter Junge.«

      Sie sah Nielsen mit einem kurzen Lächeln an.

      »Er sagt selten etwas anderes.«

      Sie schaute nachdenklich aus dem Fenster in den Frühlingsabend.

      »Und das kann man wohl leicht erklären. Die Truppe bedeutete ihm viel. Seine Jungs, wie er sagte. Wir haben ja nie eigene bekommen.«

      Nielsen nickte. Er hatte Geschichten über Lindståhl gehört, sowohl von Lasse Henning als auch von anderen. Darüber, wie er sich für seine Untergebenen einsetzte, in so gut wie allen Situationen. Aber auch über seine Vorstellung von Loyalität und seine Strenge, wenn sie angebracht war. »Hart, aber ungerecht«, wie Lasse ihn mal mit einem schiefen Lächeln beschrieben hatte.

      »Ich wollte nach der Frau auf diesem Foto fragen«, sagte er, holte das Foto heraus und legte es auf den Tisch. »Ob er etwas über sie weiß.«

      Er drehte das Bild so, dass Lindståhl es sehen konnte. Der alte Polizist sah von Nielsen auf das Bild, zunächst ohne erkennbare Reaktion. Dann zuckte sein Gesicht, und er schlug mit den Händen so heftig auf den Tisch, dass das Kaffeeservice in die Höhe hüpfte.

      »Ein guter Junge! Nein, nein, nein!«

      Seine Frau beugte sich vor und berührte seinen Arm.

      »Aber Bengt, beruhige dich doch . . .«

      Doch er schob ihre Hand energisch zur Seite, drehte sich um und marschierte zum Fenster. Dort blieb er stehen, von ihnen abgewandt, die Hände auf dem Rücken, und trat auf der Stelle.

      »Das Foto hat ihn aufgeregt«, sagte Nielsen. »Haben Sie eine Ahnung, warum?«

      Die Frau betrachtete den Rücken ihres Mannes. Sie sprach zögerlich, leise.

      »Ich erkenne sie. Es war ein Mädchen, dass ein paar Polizisten beschuldigt hat, sie vergewaltigt zu haben . . . Es ist schon


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