Vom selben Blut - Schweden-Krimi. Åke Smedberg

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fragte er dann. »Einen Kollegen?«

      Eva sah ihn kurz an.

      »Das weiß ich nicht. Im Moment fällt mir jedenfalls niemand ein.«

      »Lindståhl, der auch bei der Beerdigung war?«

      Eva rutschte auf ihrem Stuhl hin und her.

      »Lindståhl war ja sein Chef. Sie hatten privat nichts miteinander zu tun. Ich bezweifle, dass er sonderlich viel darüber weiß, was Lasse in seiner Freizeit gemacht hat.«

      Nielsen nickte, nahm das Foto an sich und ließ es in seine Tasche gleiten. Dann stand er auf.

      »Grüß die Jungs von mir. Und pass auf dich auf.«

      »Du auch«, antwortete sie.

      Er stand auf, blieb im Türrahmen stehen und drehte sich um.

      »Wir sollten vielleicht versuchen, uns noch einmal zu treffen? Unter etwas angenehmeren Umständen?«

      Sie sah ihm in die Augen, schwieg. Dann schüttelte sie den Kopf.

      »Tu doch nicht so, Johnny. Warum sollten wir das? Wir haben doch eigentlich gar keinen Grund mehr dafür, wenn wir ehrlich sind. Und das wolltest du doch immer sein, wenn ich mich recht erinnere?«

      Er fuhr auf der E4 in nördlicher Richtung, geriet in den Nachmittagsverkehr, der langsam vorankroch und manchmal ganz still stand. Er dachte immer noch an Evas Abschied, konnte das, was sie gesagt hat, einfach nicht vergessen. Und er musste zugeben, dass es ihn verletzt hatte, er fühlte sich gekränkt. Und erniedrigt.

      Er hatte außerdem das Gefühl, dass sie gelogen hatte. Vielleicht nicht, als sie sagte, dass sie keine Lust hatte, ihn noch einmal zu treffen, aber was das Mädchen auf dem Bild anging. Der kurze Blick auf das Foto und dann das sofortige Verneinen, dabei hatte sich ihr Körper angespannt und etwas Verteidigungsbereites angenommen. Sie wusste mehr über das Foto, als sie sagen wollte.

      Es musste in den achtziger Jahren gemacht worden sein, dachte er. Und eher am Anfang als später. Er erinnerte sich an die Koteletten und die halblangen Haare, nichts davon sonderlich dienstkonform. So war Lasse Henning nach dem Unfall ins Krankenhaus gestiefelt. Nielsen sah ihn immer noch vor sich: diese etwas jugendliche Schlaksigkeit, die er trotz seiner Körpergröße hatte, die hellen Haare, die bis über den Hemdkragen reichten, die Koteletten.

      Er beugte sich vor, strich mit der Hand über die Prothese, die fünf Zentimeter unter dem Kniegelenk begann. Der Unfall war fast zwanzig Jahre her. Er hatte in einem gestohlenen Auto gesessen, kurz vor Nyköping, die Tachonadel stand kurz unter hundertvierzig, wegen der tiefstehenden Abendsonne hatte er schützend die Hand vor die Augen gehalten. Dann war da nichts mehr. Eine traumartige, verschwommene Sequenz vom Unfall selbst. Sonst nur Dunkelheit. Nein, nicht einmal das. Einfach nichts. Gar nichts. Bis er nach über einer Woche mit gebrochenen Armen, Rippenbrüchen, einer punktierten Lunge und Knochenbrüchen im Gesicht aufwachte. Außerdem hatte man sein linkes Bein direkt unter dem Knie amputieren müssen.

      Er spürte, wie sein Gesicht etwas Verbissenes bekam, wie immer, wenn er an den Unfall dachte. Als erinnerte er sich an ein altes Unrecht. »Dank stattdessen deinem Schutzengel«, hatte Lasse Henning irgendwann mal säuerlich kommentiert. »Du bist davongekommen. Und du hast eine zweite Chance bekommen. Sieh das mal so. Und hör auf zu jammern.«

      Aber die Bekanntschaft mit Lasse reichte noch weiter zurück. Bis in die späten Siebziger. »Ich habe dich doch als Erster unterstützt, damals, als du der Klügste der Welt warst, nicht wahr?«, erinnerte Lasse ihn immer wieder augenzwinkernd. »Ja, du hast mir sehr genau erklärt, wie dumm alle Bullenschweine waren, besonders der Unterzeichnende, trotz der Bauchlandung, die du hingelegt hast. Erinnerst du dich?«

      Er war damals siebzehn und von Lasse Henning bei einem unglaublich ungeschickten Einbruchsversuch ertappt worden. Und ihre Wege sollten sich immer wieder kreuzen.

      Als der Unfall passierte, war er dreiundzwanzig und hatte es geschafft, mehrere Male erwischt und verurteilt zu werden. Körperverletzung, Diebstahl, Einbruch. Und er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals versucht hatte, den Teufelskreis aus neuen Verbrechen und neuen Verhaftungen zu durchbrechen, oder dass er auch nur darüber nachgedacht hätte. Da war etwas, das ihn unwiderstehlich mitriss.

      Aber der Unfall veränderte sein Leben. Er war auch die indirekte Ursache für die Freundschaft zwischen ihm und Lasse Henning. Ungefähr ein halbes Jahr später, im Herbst, als Lasse plötzlich Ernst machte und ihn knallhart vor die Wahl stellte: ein Volontariat bei einer Regionalzeitung, Norrtelje Tidning, als Gegenleistung dafür, dass er Lasse als seinen Bewährungshelfer akzeptierte. Er hatte über Beziehungen, ein Cousin war Redaktionsleiter, diese Möglichkeit aufgetan. Ein kleines Wunder, wenn man Nielsens Qualifikationen bedachte. Aber Lasse Henning besaß ein ziemliches Überredungstalent und außerdem ein ausgezeichnetes Fingerspitzengefühl, wenn es um Menschen ging. Irgendwie schien er geahnt zu haben, dass es funktionieren könnte. Und das tat es dann auch.

      Fünf Jahre später, gegen Ende der achtziger Jahre, hatte Nielsen die Zeitung verlassen und schrieb freiberuflich weiter, vor allem Reportagen. Mit unterschiedlichem Erfolg, aber gegen Mitte der Neunziger Jahre schrieb er einige große, wichtige Artikel über ungelöste Verbrechen für eine der Abendzeitungen und ein Jahr später eine ganze Serie über ungeklärte Vermisstenfälle. Dadurch war er sehr bekannt geworden, was mit einem Schlag seine Situation verändert hatte: Er hatte keinerlei Schwierigkeiten mehr, das, was er schrieb, unterzubringen, stattdessen musste er Angebote ablehnen, sowohl von der Hauptstadtpresse als auch von Regionalzeitungen.

      Lasse Henning hatte eine wichtige, wahrscheinlich entscheidende Rolle in seinem Leben gespielt. Und nicht nur in seinem: Lasse hatte auch andere Schützlinge gehabt, die er zu unterstützen versucht hatte, mit unterschiedlichen Resultaten. Sie hatten nie viel darüber gesprochen, und Lasse kommentierte seinen Einsatz nicht gerne, außer bei seltenen Gelegenheiten. »Man muss einem das Leben ja nicht schwerer als nötig machen, das ist immer meine Meinung gewesen«, hatte er mit einem spöttischen Gesichtsausdruck gesagt.

      Nielsen dachte an die Worte des Priesters bei der Beerdigung über Lasses großes Herz. Was vielleicht eine Erklärung war. Dass er ganz einfach ein netter Mensch gewesen war. Jemand, der versucht hatte, so viel Gutes zu tun, wie er konnte.

      Er holte das Foto aus der Tasche und klemmte es zwischen Lenkrad und Mittelfinger, betrachtete es, während die Autoschlange vorankroch. Lasse Henning, in einer bedeutend jüngeren Ausgabe, um die dreißig. Ein breites Lachen im runden Gesicht, an eine Hauswand gelehnt, ins Sonnenlicht blinzelnd. Das Mädchen, das er im Arm hielt, den Kopf an seiner Brust, lächelte ebenfalls. Jung, kaum über siebzehn, schätzte er. Mit markanten Gesichtszügen, hohen Wangenknochen und einem breiten Mund mit vollen Lippen. Die dunklen Augen unter den schmalen Augenbrauen waren fast asiatisch schmal.

      Das Foto wurde irgendwann Anfang der Achtziger aufgenommen, da war er sich ganz sicher. Er rechnete nach. Um das Jahr achtzig hatten Lasse und Eva geheiratet, aber da hatten sie schon einige Jahre zusammengewohnt, das wusste er. Er betrachtete noch einmal die beiden auf dem Foto. Lasse sah überglücklich aus, die Arme um die junge Frau gelegt, die in seiner Umarmung fast verschwand. Vielleicht verliebt, dachte Nielsen und sah dem Mädchen ins Gesicht. Ihr Gesichtsausdruck war schwieriger zu deuten, der Blick aus den dunklen Augen hatte sowohl etwas Herausforderndes als auch etwas Fröhliches, es war schwer zu beurteilen, ob sie das alles ernst nahm.

      Leif Ahrén hatte den Bericht des Rechtsmediziners vor sich liegen, als Rydalen hereinkam. Er nickte ihm zu und tippte mit dem Finger auf das Gutachten.

      »Du hast das hier gesehen, oder?«

      »Ja«, sagte Rydalen.

      Ahrén sah seinen Kollegen nachdenklich an.

      »Er hatte also noch eine Kopfverletzung, zusätzlich zu der, an der er gestorben ist. Und die hat er, nach allem zu urteilen, eine ganze Weile früher bekommen. Hast du eine Ahnung, worum es überhaupt geht? Was passiert sein kann?«

      Rydalen legte den Kopf schief und rieb sich das Kinn.

      »Tja«, sagte er dann.

      Leif


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