Immer noch wach. Fabian Neidhardt

Immer noch wach - Fabian Neidhardt


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Schultern.

      „Sich mit Gästen anzufreunden, lohnt sich nicht. Sobald man sie sympathisch findet, sterben sie.“

      Sie senkt den Kopf und widmet sich wieder ihrem Beet.

      Die Frau heißt Birte und die anderen sagen mir, ich solle mich nicht wundern, sie ist eben Einzelgängerin. Die meisten freuen sich hier aber über Gesellschaft.

      ~

      Beim Mittagessen im Speiseraum lerne ich noch mehr Gäste kennen. Peter ist ein Männchen, wenn wir nebeneinander stehen, reicht sein grauer Haarschopf knapp über meinen Bauchnabel. Er schiebt seinen Rollator neben meinen Stuhl und zieht sich auf die Sitzfläche. Er ist fast 80 und weiß seit zwei Wochen, dass sein Krebs gestreut hat.

      Um seinen Hals hängt ein Brustbeutel, in dem ein flaches Gerät steckt. Kabel laufen heraus und verschwinden unter seinem Pullover. Durch das Sichtfenster kann ich ein paar Knöpfe und ein kleines Display sehen, wie bei einem alten Taschenrechner. Peter bemerkt meinen Blick, schaut an sich herunter und nimmt das Gerät in die Hand.

      „Cool, nicht? Das ist meine Schmerzmittelpumpe. Ich kriege die ganze Zeit was gespritzt. Und wenn’s nicht reicht, gibt’s diesen Powerknopf. Für den Bolus. Die Extraportion Watte im Kopf.“

      Ich höre ein aufgeregtes Klingeln und sehe, wie Helen die Frau mit der Mütze in den Saal schiebt. Sie sieht mich und zeigt zu mir. Helen rollt sie uns gegenüber. Die Frau unter der Harlekinmütze heißt Lilia.

      Sie redet viel und schnell und ich verstehe sie nicht. Was nicht schlimm ist, besonders nicht für sie, sie lacht einfach und redet weiter. Anna dagegen redet gar nicht. Sie fährt ihren Rollstuhl neben uns und Peter erzählt mir, dass niemand weiß, wie ihre Stimme klingt. Seit sie hier ist, hat sie noch nichts gesagt. Ihr Mann hat sie gepflegt. Bis er vor kurzem an einem Herzinfarkt gestorben ist.

      Am anderen Ende unserer Reihe sitzt noch eine kleine Gruppe, neben dem Tisch steht ein Bett. Ein paar Leute sitzen allein. Ich bin froh, dass sich nicht noch mehr zu uns setzen. Ich habe für ein Mittagessen genug Geschichten gehört, die mich an meine eigene erinnern.

      In einer Sache sind Doktor Münchenberg und das Internet sich einig: Es gibt keine Heilung. Nur palliative Behandlungen. Ein schönes Wort für einen bitteren Geschmack: Sie lindern den Schmerz, aber sie können die Krankheit nicht heilen. Was ist das für ein Leben?

      Ich lehne im Rahmen des Zimmers, in dem früher Bene gewohnt hat und das mittlerweile unser Wohnzimmer ist. Ich habe Lisa im Treppenhaus gehört, irgendwann erkennt man Menschen anhand ihrer Schritte. Sie schließt die Tür hinter sich und verharrt im Flur, als sie mich sieht. Dann zieht sie den Mantel aus und löst ihren Zopf, ohne mich aus den Augen zu lassen.

      ~

      Ich habe ihre kurzen Haare geliebt. Geliebt, wie der schmale Rahmen ihr Gesicht betont, die Lippen hervorhebt. Geliebt, darüberzufahren und den leichten Widerstand an meinen Fingern zu spüren. Geliebt, sie alle paar Wochen mit dem Rasierer auf 22 Millimeter zu bringen. Als sie in dieser Wohnung aufgetaucht ist, waren es diese kurzen Haare, die meine Aufmerksamkeit auf sich zogen.

      Irgendwann hat sie sie wachsen lassen. Mit den kurzen, krausen Locken sah sie aus, wie ich mir Georgina von den fünf Freunden immer vorgestellt habe. Und dann fielen sie ihr irgendwann wieder über die Schulter.

      Wenn sie vor dem Spiegel steht und versucht, ihre Mähne zu bändigen, bleibe ich manchmal neben ihr stehen und schwelge von 22 Millimetern. Sie schüttelt jedes Mal den Kopf.

      „Weißt du, was es für eine Qual war, sie wachsen zu lassen? Auf keinen Fall.“

      ~

      „Was ist los? Ist alles okay?“

      „Ich muss mit dir reden.“

      Kann es offensichtlicher sein, dass eben nicht alles okay ist? Sie folgt mir ins Wohnzimmer und setzt sich in den Sessel mir gegenüber.

      Bene und ich haben ihn irgendwann auf dem Sperrmüll gefunden und quer durch die Stadt in den vierten Stock und in ihr Zimmer geschleppt, weil wir sicher waren, dass sie ihn lieben würde. Kurz nachdem Lisa an dem Abend nach Hause gekommen war, stand sie in der Küche.

      „Wer hat dieses hässliche Ding in mein Zimmer gestellt? Wo kommt das her?“

      Trotz all ihrer Bemühungen ist er in der Wohnung geblieben. Wir nennen ihn ihren Lieblingssessel.

      Vor mir auf der Holzkiste liegen die Kopien, die mir Doktor Münchenberg mitgegeben hat, mein Computer und ein Notizblock. Lisa sieht mich erschöpft an.

      Neben ihrem normalen Job hilft sie im Türrahmen, und zuhause warten der Krebs und ich auf sie.

      „Doktor Münchenberg hat gesagt, vielleicht noch vier gute Monate, dann wird’s schlimmer.“

      „Er sagt auch, dass ein operativer Eingriff das Ganze hinauszögern könnte. Und dass es viele weitere medizinische Möglichkeiten gibt. Und noch mehr außerhalb der Schulmedizin.“

      „Hinauszögern. Könnte. Und dann liege ich die hinausgezögerte Zeit im Krankenhaus und erhole mich von der Operation. Lisa, ich will die Zeit, die ich habe, noch nutzen.“

      Sie verschränkt die Arme vor der Brust und lässt sich nach hinten fallen.

      „Und wie willst du sie nutzen?“

      Ich beginne, mit den Fingern abzuzählen. Der Daumen.

      „Ich will Dinge aus der Welt schaffen. Ich muss mit ein paar Menschen reden. Sachen sagen, die ich immer sagen wollte. Mich entschuldigen. Anderen die Möglichkeit geben, sich bei mir zu entschuldigen. Menschen sagen, was sie mir bedeuten.“

      Der Zeigefinger.

      „Ich will viel Zeit mit den Menschen verbringen, die mir wichtig sind. Ich will viel Zeit mit dir verbringen!“

      Mit dem Ärmel ihres Pullovers fährt sie sich über die Augen, zieht fast trotzig die Nase hoch und muss dann doch lächeln. Auf dieses Lächeln habe ich gewartet. Es wird den Rest hoffentlich leichter machen. Der Mittelfinger.

      „Ich möchte eine kleine Liste von Dingen zusammenschreiben und sie erledigen. Meine Löffelliste.“

      „Scheiß Name.“

      „Wenn dir ein besserer einfällt, sag Bescheid.“

      Ich klappe den Daumen ein und strecke alle anderen Finger aus.

      „Ich will eine große Feier machen. Eine Abschiedsparty, im Türrahmen.“

      Lisa sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich lasse die Hand sinken.

      „Und dann werde ich in ein Hospiz gehen.“

      Sie runzelt die Stirn, dreht den Kopf leicht, lässt die Worte wirken, sieht mich aber unentwegt an.

      „Aber … kann ich nicht für dich sorgen?“

      Ich rutsche nach vorne und greife über die Kiste hinweg nach ihrer Hand.

      „Lisa, du würdest kaputtgehen. Ich weiß, wie ich am Ende aussehen werde. Im Krankenhemdchen, abgemagert, die Wangen eingefallen. Erst kann ich noch mit einem Rollator und am Ende dann gar nicht mehr laufen. Und du wirst neben mir am Bett sitzen. Ich werde unruhig schlafen und du wirst so lange wach bleiben, wie dein Körper es zulässt. Eine Hand an meinem Kopf, die andere am Arm. Du wirst darauf achten, dass die Infusionsnadel sich nicht löst und dass das Licht mich nicht blendet. Du wirst mich füttern, und du musst damit nicht einmal warten, bis ich 64 bin. Ich bin es, der krank ist, der sterben wird. Aber du wirst leiden. Das will ich nicht.

      Und ich will nicht, dass du mich als ausgezehrten, schwachen Kranken in Erinnerung behältst, dem du am Ende die Scheiße vom Hintern und die Kotze aus dem Bart kratzen musst. Ich will nicht, dass das dein letztes Bild von mir ist.“

      Ihre Schultern beginnen zu zucken, sie hält meine Hand fest und zieht mich zu sich. Ich klettere über die Kiste und knie vor ihr auf dem


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