Immer noch wach. Fabian Neidhardt
drückt ihre Stirn gegen meinen Kopf. Ihr Rotz bleibt an meiner Nase hängen.
„Aber ich will mich um dich kümmern. Ich will für dich da sein.“
Ich nehme ihr Gesicht in beide Hände, wische ihr mit den Daumen die Tränen von den Wangen und halte sie fest.
„Seit ich dich kenne, kümmerst du dich. Du bist die Beste darin, sich um andere zu kümmern. Aber du leidest jedes Mal. Denk doch, wie weh es dir tut, wenn ich mal eine Grippe habe.“
Sie nickt und lächelt und schluchzt.
„Wir reden von Monaten, die damit enden, dass ich tot bin. Ich will nicht, dass du das machst. Ich will dir das nicht antun.“
Ihr Kopf rutscht auf meine Schulter und ich lege meine Arme um ihren Körper. Spüre ihr Atmen, die stoßenden Schluchzer, ihr Zittern. Dann lässt sie die Luft kontrolliert durch die Lippen entweichen. Ihre Stimme klingt nass und hoch, als sie etwas sagen will. Kraftlos und unsicher, wie ich sie selten gehört habe. Sie räuspert sich und setzt neu an.
„Was … was ist mit dem, was ich will?“
Ich weiß, was sie gleich antworten wird, aber ich frage trotzdem. Manchmal folgt das Leben einem unsichtbaren Drehbuch. Alle sagen ihre Zeilen, obwohl es wehtut. Weil wir hoffen, dass es am Ende besser sein wird.
„Und was willst du?“
„Ich will bei dir bleiben, solange es geht. Doktor Münchenberg hat gesagt, es ist eine Schätzung. Jeder Körper kämpft anders. Vielleicht hast du ja mehr Zeit.“
„Oder weniger.“
Sie schlägt auf meine Brust und rutscht von mir herunter, steht auf. Ich sehe ihr zu. Wir müssen da durch. Das macht es aber nicht einfacher.
Vor dem Fenster bleibt sie stehen, und selbst in der Spiegelung der Scheibe sehe ich, wie nass ihre Wangen sind. Und wie sich ihr Gesicht verzieht, trotzig, wie sie die Arme verschränkt.
„Wie willst du mich denn davon abhalten, dich zu besuchen? Im Hospiz?“
„Ich will dich nicht abhalten müssen. Ich bitte dich, dass du nicht kommst.“
Sie schnaubt und reckt das Kinn hoch.
„Und ich werde dir nicht sagen, wo ich bin.“
Sie dreht sich um und starrt mich an. Dann sieht sie zu den Papieren auf der Kiste und schüttelt langsam den Kopf.
„Du Arschloch.“
Ich nicke. Sie schüttelt wieder den Kopf, dann läuft sie an mir vorbei, greift nach ihrem Mantel und der Tasche und zieht die Tür hinter sich zu.
~
Als sie wiederkommt, hänge ich schräg auf der Couch, dösend. Ich wollte auf sie warten. Sie wirft eine Decke über mich und kriecht darunter. Ihre Haare riechen nach Rauch, und als ich meine Arme um sie lege, spüre ich, wie sehr sie zittert.
~
Am nächsten Morgen liege ich immer noch dort und mein Nacken schmerzt. Zu lange in der falschen Position. Ich setze mich vorsichtig auf, drehe langsam den Kopf, drücke zwei Finger unter die Rippen und atme tief ein. Die Verhärtung ist noch da, Lisa ist weg und auf der Kiste liegt nur noch ein kleiner Zettel.
„Komm in den Türrahmen.“
Scheiße. Sie ist mir zuvorgekommen.
18
Ich bin gerade mit dem Essen fertig und habe den Teller in der Hand, als Peter neben mir auftaucht. Er fragt mich, ob ich mit ihm Schach spielen will, und ich lehne ab. Selbst Bene hat es nie geschafft, mich für Brettspiele zu begeistern. Schach ist das Schlimmste. Ich habe immer wieder gespielt und sehr schnell kapiert, dass es mehr braucht, als die Regeln zu kennen. Man muss Möglichkeiten, Entscheidungen und Konsequenzen durchspielen, nicht nur die eigenen, sondern auch die des Gegners. Da ich aber nie weiter als bis zum nächsten Zug denke, war ich für meine Gegenspieler nie gefährlich. Es ging nie darum, ob ich verlieren würde, sondern wie viele Züge dafür notwendig waren. Ich war immer nur Fingerübung. Und wer will schon Fingerübung sein?
„Es ist wirklich schon lange her und du wirst mich auf jeden Fall schlagen.“
„Darum geht’s doch. Ich war früher richtig gut und will noch einmal gewinnen. Danach bringe ich dir auch gerne noch was bei.“
Er steht vor mir, auf den Rollator gestützt, und blickt über den Rand seiner Brille zu mir nach oben.
„Ein andermal. Jetzt brauche ich ein bisschen Zeit für mich.“
19
Ich rufe Bene aus dem Auto an, direkt nach der Diagnose. Lisa fährt und auf meinem Schoß liegen die Dokumente, die Doktor Münchenberg mir mitgegeben hat. Es klingelt dreimal, dann hebt er ab.
„Und?“
„Magenkrebs. Endstadium.“
Ich hätte alles andere sagen können, und er hätte erstmal gesagt, „Du verarschst mich“. Aber nicht bei Krebs. Bene schweigt und das Café treibt im Hintergrund. Die Unterhaltungen, immer wieder klirrendes Geschirr und die Musik.
„Gottverdammte Scheiße.“
„Richtig.“
Selbst wenn ich wollte, mehr könnte ich nicht sagen. Ein Kloß drückt sich den Hals nach oben und ich spüre die Kopfschmerzen, die schon fast normal sind.
„Seid ihr gerade rausgekommen?“
„Ja.“
„Und jetzt auf dem Weg nach Hause?“ Er denkt nach, produziert leise quietschende Geräusche mit den Lippen. „Ich muss hier weitermachen.“
„Klar.“
„Wenn ich nachher komme, seid ihr dann noch wach?“
„Ja.“
„Okay. Lisa fährt?“
„Ja.“
„Sag ihr, ich komme später. Sie soll auf jeden Fall bei dir bleiben.“
„Als ob sie was anderes machen wird.“
„Oh, du kannst ja mehr als nur Ja sagen.“
~
Lisa öffnet ihm, er drückt ihr drei Flaschen Malzbier in die Hände und kommt mit ausgestreckten Armen auf mich zu. Ich stehe im Flur, kann nur dastehen und ihn auf mich zukommen, mich in den Arm nehmen lassen. Und dann heule ich los.
Zwölf Jahre vorher war es ein anderer Flur und ein anderer Grund, aber eine sehr ähnliche Umarmung. Die Polizei hatte sich gerade verabschiedet und ich stand noch vor der Tür, hatte mich bis zu diesem Moment zusammenreißen können, und dann brach es aus mir heraus.
Er hält mich fest, Lisa drückt sich an uns vorbei ins Wohnzimmer. Wir stehen noch eine ganze Weile, meine Arme hängen einfach herab, ich nässe seine Jacke durch und ziehe immer wieder den Rotz die Nase hoch. Er bleibt ruhig, und ich spüre den Druck seiner Arme um meinen Körper und sein Herz, wie es stetig schlägt.
Ich atme ein paar Mal tief durch und passe meinen Herzschlag an seinen an, beruhige mich von Schlag zu Schlag und erst, als ich meinen Kopf hebe, lockert er seinen Griff. Ich wische mir den Rotz und die Tränen weg, Bene sieht an sich herunter und ich muss grinsen.
„Sorry.“
„Schon okay.“
Lisa gibt mir ein Taschentuch und Bene öffnet die Flaschen. Er hebt seine und wir sehen ihn fragend an. Er zuckt mit den Schultern.
„Keine Ahnung, worauf wir anstoßen. Auf … uns.“ Dabei klingt er genauso hilflos, wie ich mich fühle. „Krasser Scheiß, Alex. Wie geht’s jetzt weiter?“
„In einem halben Jahr bin ich tot.“
„Wer weiß. Erinnerst du