Immer noch wach. Fabian Neidhardt

Immer noch wach - Fabian Neidhardt


Скачать книгу

      „Vielleicht acht Monate. Demnächst habe ich wieder eine Untersuchung, ob ich überhaupt hierbleiben darf. Zu krank, um zu leben. Und trotzdem sterbe ich einfach nicht.“

      Das Kichern wird wieder ein trockenes Husten, und für einen kurzen Moment habe ich Angst, er stirbt gleich hier. Mit weit aufgerissenen Augen, einer Hand an der Brust und hervortretenden Sehnen am Hals. Dann holt er krächzend Luft und schüttelt sich, hustet noch einmal und grinst dann erschöpft, dreht sich zur Seite und greift nach dem Wasserglas.

      „Das tut tatsächlich ganz schön weh. Aber ich kann doch nicht mit dem Lachen aufhören.“ Er schlürft das Glas halb leer und beobachtet mich dabei. „Warum bist du denn wach?“

      „Ich kann nicht schlafen.“

      „Angst?“

      Ich erzähle von meinem Klopapierproblem, was Kasper wieder zum Lachen und Husten bringt. Diesmal muss auch ich grinsen. Als er das sieht, lacht er nur noch mehr, schlägt sich die Hand auf den Mund, schaut mich mit großen Augen an und zeigt zur Tür. Als ich sie zuschiebe, holt er prustend Luft, das Gesicht mittlerweile ganz rot. Ich greife zum Notschalter, aber Kasper schüttelt den Kopf. Kurz darauf beruhigt er sich.

      „Wegen Klopapier zu sterben, das wäre lustig gewesen. Kannst eine Rolle von mir haben.“

      „Hast du denn noch genug?“

      „Ist egal. Alleine schaffe ich es eh nicht aufs Klo. Der Nächste, der kommt, bringt eine mit.“

      Ich hole die Rolle und hebe die Hand zum Abschied. Kasper winkt mir zu.

      „Lass die Tür offen.“

      Ich schleiche durch gedimmtes Licht die Flure entlang und lese im letzten Gang die Schilder, bis ich meinen Namen entdecke. In geübter Handschrift geschrieben.

      Als Helen am nächsten Morgen klopft, sitze ich auf dem Bettrand und habe zum ersten Mal seit zwei Wochen meine Schuhe an.

      „Guten Morgen, Alex. Dir geht’s besser.“

      „Auf jeden Fall. Heute können wir die Führung machen.“

      Kurz darauf steht Frau Renninger in der Tür.

      „Herr Fink, wie schön, dass es Ihnen besser geht.“

      Wir gehen los.

      „Insgesamt haben wir 16 Zimmer.“

      „Ganz schön viel Platz für nur 16 Zimmer.“

      „Wir hatten Glück. Der Hof wurde damals zu einem Hotel umgebaut, das aber nie in Betrieb genommen wurde. Mehr als 16 Patienten darf ein Hospiz in Deutschland nicht aufnehmen, obwohl die Warteschlangen lang sind.“

      „Komisch, dabei habe ich noch nie Werbung für Hospize gesehen.“

      Sie betrachtet mich von der Seite.

      „Für den ganz großen Andrang sind wir zu abgelegen, Sie können sich aber trotzdem glücklich schätzen.“

      Sie öffnet eine Tür neben dem Aufzug und lässt mich eintreten.

      „Das ist das Bunte Zimmer, unser Kunsttherapieraum. Zeichnen, malen, töpfern, alles möglich. Dreimal die Woche kommt Sandro, unser Kunsttherapeut, und bietet seine Hilfe an. Aber Sie können auch alleine hier arbeiten.“

      Sie führt mich weiter zum Musikzimmer, in dem nicht nur ein Klavier, ein paar Gitarren und einige andere Instrumente stehen, sondern auch große Boxen an der Wand hängen.

      „Manche unserer Gäste wollen nicht Musik machen, aber sie laut hören. Natürlich geht das auch auf dem Zimmer, aber ab einer gewissen Lautstärke und Uhrzeit bringen wir sie hierher. Kommen Sie, ich zeige Ihnen noch das Haupthaus.“

      Je näher wir dem Haupthaus kommen, desto mehr Leute treffen wir. Ein paar Besucher stehen vor dem Fahrstuhl, dann sehen wir Helen eine Gästin aus einem Raum herausschieben. Ich meine, die Frau mit der rot-grünen Harlekinmütze schon mal draußen gesehen zu haben. Als sie auf unserer Höhe ist, hält sie ihre flache Hand nach oben und sieht mich erwartungsvoll an. Ich klatsche meine Hand dagegen, sie lacht kopfschüttelnd und die Glöckchen an ihrer Mütze klingeln. Ich drehe mich nach ihr um.

      „Es ist ihre Lieblingsmütze.“

      „Und sie soll sich hier wie zuhause fühlen?“

      „Nein, sie soll sich wohl fühlen.“

      Frau Renninger öffnet eine weitere Tür. Viele Tische stehen in kleinen Gruppen. In einem Regal sehe ich Brettspiele und Bücher, auf der anderen Seite Sofas vor einem Fernseher, der ein wenig größer ist als die in den Zimmern. An einem Tisch sitzen sich zwei Rollstuhlfahrer gegenüber und spielen „Mensch ärgere dich nicht“. Direkt neben der Tür entdecke ich eine Kerze.

      „Das ist unser Gemeinschaftsraum. Er steht immer offen und kann von allen genutzt werden. Sonntags schauen sich ein paar Leute hier den Tatort an.“

      „Eigentlich fehlt nur noch ein Bolzplatz.“

      Frau Renninger runzelt die Stirn. Ich hätte den Witz bei Martin machen sollen. Oder bei Helen.

      „Mit 16 Patienten bekommen wir keine zwei Mannschaften zusammen. Und bis wir die fit haben, ist die Hälfte schon gestorben. Kommen Sie, ich zeige Ihnen noch den Speiseraum.“

      ~

      Der Speiseraum liegt zwischen Gemeinschaftsraum und Eingangsbereich und ist mehr ein Saal. Gegenüber der Tür gelangt man wieder auf die Terrasse und in den Garten, eine Doppeltür führt in die Küche daneben. Zwei lange Tischreihen stehen mittendrin, lose bestuhlt.

      „Hier nehmen wir gemeinsam die Essen ein. Sie haben ja schon festgestellt, dass dies lediglich ein Angebot ist. Wobei die meisten es annehmen, zum Teil auch dann, wenn sie selbst nichts mehr essen oder trinken wollen. Dann haben sie trotzdem Gesellschaft.“

      „Wie meinen Sie das, wenn sie nichts mehr essen oder trinken wollen?“

      „Manchmal entscheiden sich Menschen, nichts mehr zu essen. Wenn das eine bewusste Entscheidung ist, dürfen wir sie nicht zwingen.“

      „Bis sie sterben?“

      Frau Renninger hebt die Schultern und legt den Kopf zur Seite.

      „Dafür sind sie hier. Aber den Fall haben wir sehr selten. An der Seite haben wir noch die Küchenzeile für die Gäste und ihre Besucher. Dort kann sich jeder selbst Essen zubereiten.“

      Frau Renninger geht mit mir bis zu den Glastüren auf der anderen Seite und tritt nach draußen.

      „Das ist unsere Terrasse.“

      „Die sehe ich vom Balkon aus.“

      „Richtig. Dort sind unsere Hochbeete. In Rollstuhlhöhe. Bis dahin können Sie sich komplett frei bewegen, wann Sie wollen. Das Gatter zum Wald schließen wir nachts ab.“

      „Ist das Ihr Wald?“

      „Wir haben den Weg bis in den Wald pflastern lassen, damit die Gäste es leichter haben. Und wir haben die Bänke aufgestellt. Aber offiziell gehört der Wald dem Land.“

      Sie dreht den Kopf Richtung Haus und legt dann die Hände ineinander.

      „Das ist alles. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl bei uns.“

      „Ja, ich glaube, hier bleibe ich bis zum Ende meines Lebens.“

      „Sie glauben nicht, wie oft ich diesen Witz höre. Ich muss zurück ins Büro. Finden Sie Ihr Zimmer alleine?“

      Ich nicke, leicht betreten, sie geht ins Haus zurück. Ich traue mich nicht, gleich hinterherzulaufen.

      Zwischen den Beeten sitzt eine Frau im Rollstuhl, beide Hände tief in der Erde, während sie mich anstarrt. Ich starre zurück, und als sie meinem Blick standhält, winke ich ihr zu. Ihre Augen verengen sich.

      „Sind


Скачать книгу