Immer noch wach. Fabian Neidhardt

Immer noch wach - Fabian Neidhardt


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wir einen Tisch aus einer engen WG-Küche auf den Gehweg neben das Auto und frühstücken dort. In Neuss springen wir nur mit Boxershorts bekleidet zusammen mit den Mädels, die wir dort kennengelernt haben, in den Rhein. Bis jemand uns aus dem Wasser ruft, die Strömung ist zu stark. In der Nähe von Hannover verbringen wir ein paar Tage auf einem Aussiedlerhof und verstehen, wie viel Arbeit es ist, sich abgeschnitten von der Welt selbst zu versorgen. Und dann erzählt uns jemand von diesem Festival in der Nähe von Berlin.

      ~

      Schon in der Schlange vor dem Festivalgelände lernen wir die ersten Leute kennen, und nachdem wir das Auto zwischen all den anderen Nachtlagern abgestellt haben, ziehen wir los. Tagelang sehen Bene und ich uns nur zufällig, ansonsten ist jeder für sich unterwegs.

      Am Tag vor unserer Abfahrt komme ich mittags zum Auto und sehe Bene im offenen Kofferraum sitzen, mit einem Eimer zwischen den Beinen. Ein Mädchen sitzt bei ihm und streichelt ihm über den Rücken.

      „Sieht so aus, als ob ich morgen fahre.“

      Beide sehen auf.

      „Kannst du fahren?“

      „Klar.“

      „Geil. Das ist Lisa.“

      Das verschmierte Grün um ihre Augen lässt sie groß erscheinen, ihre Wangen glitzern ein wenig, der Armreif aus Leuchtstäben am linken Arm leuchtet nicht mehr. Die roten Locken fallen offen auf die Schultern, das bunte Hemd ist weit und lang und bedeckt im Stehen ihre Shorts, kurz abgeschnittene Jeans. Sie ist hübsch, besonders wenn sie so lächelt. Aber auf diesem Festival glitzern alle Wangen, alle lächeln und bewegen sich sanft zu den Beats. Ich habe in den letzten Tagen zu viele hübsche Menschen gesehen, zu viel Musik, zu viel Kunst und Besonderes. Ich freue mich darauf, mit Bene auf irgendeiner Lichtung zu halten, vielleicht ein Buch zu lesen und Benes Gitarre zuzuhören. Oder einfach den Geräuschen des Waldes.

      Ich komme den Tag über immer wieder am Auto vorbei und sehe nach Bene, aber Lisa macht ihre Sache gut. Zu gut. Bene geht es schlecht, aber Lisa leidet. Er liegt die meiste Zeit im Gras, im Schatten des Autos, der Kopf in Lisas Schoß, der Eimer daneben. Sie liest ein Buch, aber jedes Mal, wenn Bene stöhnt, legt sie es zur Seite und sieht aus, als ob es ihr mindestens genauso schlecht geht.

      Ich übernachte allein im Auto. Am nächsten Morgen sieht Bene immer noch nicht fit aus.

      „Alter, wo fahren wir denn jetzt hin? Können wir sie mitnehmen?“

      „Geht’s dir so schlecht, dass sie sich auch während der Fahrt um dich kümmern muss?“

      Er würgt und ich weiche zurück.

      „Ich muss nach Kummerow. Das ist ein kleines Dorf, vielleicht eine Stunde nach Norden.“

      Irgendwas klingelt bei dem Namen, aber ich komme nicht drauf. Ein Dorf. Im Norden. Eine Stunde. Wieso nicht.

      „Klar. Hol dein Zeug, dann geht’s los.“

      Sie dreht sich um und Bene hält mir seine Faust hin. Wir packen so, dass die Rückbank frei bleibt. Bene klettert mit seinem Eimer nach hinten, aber Lisa setzt sich auf den Beifahrersitz. Er sieht mich über den Rückspiegel irritiert an, ich zucke mit den Schultern.

      Wir stehen beim Ausgang in der Schlange, Lisa hält mir einen Joint hin und ich lehne ab. Sie gibt ihn an Bene weiter und erzählt von ihrem Freund, der bei seiner Oma in Kummerow auf sie wartet, von den beiden Büchern, die in einem Ort namens Kummerow spielen, der aber nicht ihr Kummerow ist, und von ihrem Wunsch, irgendwo im Süden Deutschlands zu studieren. Dann landen wir in der Polizeikontrolle. Zwei weitere folgen.

      Ich erzähle von unserem Trip, meiner Mutter und unserer Stadt, und nach zwei Stunden verabschieden wir uns. Bene umarmt sie länger, als es mir oder ihr angenehm ist, dann drückt sie mich kurz.

      „Und wenn du mal im Süden bist, melde dich.“

      Sie nickt und wir beide wissen, dass das nicht passieren wird.

      ~

      Zwei Jahre später sind Bene und ich auf der Suche nach einem dritten Mitbewohner, treffen uns mit Bewerbern und reden im Halbstundentakt darüber, was wir studieren, woher wir uns kennen und ja, witzig, du studierst auch BWL, und plötzlich steht Lisa da. Ohne Glitzer und grünes Make-up, die Haare bis auf 22 Millimeter abrasiert, und erst jetzt sehe ich die Sommersprossen auf Wangen und Nase. An ihrem Handgelenk hängt noch das zerfranste Festivalbändchen, das Bene und ich schon lange abgeschnitten haben. Sie lächelt. Erst in diesem Moment erkenne ich sie. Ich habe schon länger niemanden so lächeln sehen.

      Der Doktor erzählt, dass Magenkrebs meistens spät entdeckt wird, dass er in meinem Alter selten vorkommt und deshalb auch keine Vorsorge getroffen werden kann. Dass es anhand der Größe schwer ist, zu operieren, dass eine Transplantation nicht in Frage kommt, trotzdem gibt es eine Menge …

      „Wie lange habe ich noch?“

      Er verstummt, Lisa starrt mich an und mir wird klar, dass nur ich diese Frage beantwortet haben will. Doktor Münchenberg nickt, legt den Ausdruck zurück auf den Schreibtisch und faltet die Hände.

      „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Krankheiten verlaufen bei jedem Menschen anders, und je nachdem, wie die Therapie bei Ihnen anschlägt …“

      Ich lache auf und er sieht mich irritiert an.

      „Es muss doch Durchschnittswerte geben. Erfahrungen durch andere Patienten.“

      Er zuckt mit den Schultern, ratlos.

      „Es tut mir wirklich leid, da spielen so viele Faktoren eine Rolle, ich kann Ihnen das nicht sagen. Wir stehen ja ganz am Anfang.“

      „Fühlt sich für mich eher wie das Ende an.“

      „Alex!“

      „Sorry.“

      „Ich habe schon mit Kollegen aus der Onkologie über Sie geredet, Sie sollten sich mit ihnen zusammensetzen und die Therapieoptionen und den weiteren Verlauf besprechen.“

      Für einen Moment schweigen wir alle. Lisa und der Arzt sehen mich an und ich spüre, wie sich alles in mir verkrampft, spüre Wut aufsteigen und versuche, ruhig zu bleiben und normal zu sprechen.

      „Wenn es jetzt keine Medikamente gibt und keine Therapie, wenn der Krebs einfach weitermachen kann, wann sterbe ich dann?“

      „Auch dann kann ich keine validen Aussagen treffen. Das hängt trotzdem noch davon ab, wie Sie leben, mit wem Sie zusammenleben, wie Sie sich ernähren, manchmal sogar, wie Sie über die Krankheit denken.“

      „Geben Sie mir bitte eine Zahl.“

      Er blickt zu Lisa, die mit den Schultern zuckt.

      „Er ist stur. Wenn Sie ihm keine Einschätzung geben, wird er sie sich woanders holen.“

      Doktor Münchenberg betrachtet mich einen Moment, dann atmet er tief aus und nickt.

      „Das ist eine extrem grobe Schätzung. Wenn der Krebs sich weiter so ausbreiten kann, gebe ich Ihnen etwa sechs Monate. Sie würden erfahrungsgemäß vielleicht vier Monate lang ähnliche Schmerzen und Symptome haben wie jetzt, also noch relativ gut zurechtkommen. Insbesondere am Ende der Erkrankung muss man mit großen Komplikationen rechnen.“

      Das hat er so wahrscheinlich nicht gesagt, aber das ist das, was bei mir ankommt. Ich zähle die Monate an den Fingern ab.

      „Dann werde ich nicht mal mehr 31.“

      Lisa drückt meine Hand, der Arzt hebt seine.

      „Nur unter der Voraussetzung, dass wir nichts dagegen tun. Wie gesagt, wir stehen am Anfang dieser Reise.“

      „Magenkrebs. Endstadium. Wenn die Rechnung des Arztes stimmt, bin ich in etwa einem Monat tot.“

      Kasper kichert wieder.

      „Wenn


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