Herzblut. Michaela Neumann

Herzblut - Michaela Neumann


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ihres Vaters war alles anders gekommen. Beide hatten mit aller Macht den Fall ihres Vaters aufklären wollen. James hatte schon früher die Hoffnung als Logan verloren. Er war seiner großen Liebe nach Boston hinterher gezogen, ließ alles und jeden hinter sich und baute sich ein komplett neues Leben auf. Logan hatte nicht einfach neu starten können., er hatte seinen Vater, den einzigen Mensch, den er je geliebt hatte, nicht hinter sich lassen, nicht im Stich lassen können. Seine Lebensaufgabe war es, den brutalen Mord an seinem Vater aufzuklären. Doch sein Vater hatte ihn auch gelehrt, seine Familie nicht zu vernachlässigen und so war er nach Boston angekommen. Zu seiner Familie.

      »Wie geht’s deiner Ex-Frau?«, fragte Logan.

      »Sie wohnt jetzt in einem Trailer Park mit ihrem Hippie Lover und zieht sich Zeug rein, von dem wir wahrscheinlich noch nie etwas gehört haben.« James lachte.

      Doch Logan konnte einen Unterton erhaschen, den er aber nicht so richtig deuten konnte.

      Ein Jahr, nachdem James aus LA weggezogen war, ging seine Ehe mit seiner Traumfrau Kerry in die Brüche. Logan hatte es lediglich durch einen Bekannten erfahren, dass James immer mehr dem Alkohol verfiel und zunehmend den Boden unter den Füßen verlor. Soweit Logan wusste, war nur eine Kollegin von James für ihn da gewesen, hatte ihn wieder auf die richtige Bahn brachte.

      Auch wenn sie wenig Kontakt gehabt hatten, hätte James den Verstand besitzen müssen, sich bei Logan melden. Er wäre sofort zu ihm nach Boston geflogen. Doch dazu war James vermutlich zu stolz und das nahm er James immer noch übel.

      James zögerte mit seiner Frage, stellte sie aber dann doch: »Und wie läuft’s mit Mam?«

      »Es hat sich nichts verändert. Du bist immer noch ihr Liebling und solltest sie mal wieder anrufen.« Logan zwinkerte ihm zu.

      »Ich weiß.«

      Sie stiegen in James` orangefarbenen 69er Chevy Camaro. James krempelte sich die Ärmel hoch und entblößte einen komplett tätowierten linken Arm.

      »Wann hast du denn das machen lassen?«, fragte Logan erstaunt.

      »Schon vor drei Jahren. Sieht toll aus, oder?«, antwortete James mit einem stolzen Lächeln.

      »Steht dir.«

      Nach dem kurzen Smalltalk vergiftete Schweigen die Luft, als würde Gas aus den Lüftungsschlitzen strömen, weil keiner der Beiden wusste, über welches Thema sie sprechen sollten. Die halbe Stunde zu James‘ Wohnung fühlte sich an, als wären es Tage. James Smartphone klingelte und löste die komische Stimmung im Wagen auf.

      James drückte die Lautsprecher-Taste auf seinem Smartphone, welches in einer Halterung am Armaturenbrett angebracht war.

      »Reynolds«, sagte er mit einer rauen Stimme. Doch kaum hatte der Anrufer seinen Namen und etwas von Fund gesagt, nahm James das Telefon in die Hand und schaltete die Freisprechanlage aus. Logan versuchte ein paar Worte zu erhaschen, aber James hatte sein Telefon fest ans Ohr gepresst. Seine Fingerknöchel liefen kalkweiß an, als würden die blanken Knochen aus der Haut stechen.

      »Ich bin sofort da.«

      James sah Logan einen kurzen Moment an, bevor er den Blick wieder starr auf die Straße richtete. Verwirrtheit und rasende Wut flackerte in seinen Augen auf.

      »Alles in Ordnung?«

      »Unser Familientreffen wird wohl anders, als wir uns das vorgestellt haben.«

      Riskant wendete er an einer starkbefahrenen Kreuzung, welches mit lauten Hupen getadelt wurde und raste in Richtung Innenstadt.

      *

      Der Boston Public Garden erstrahlte in den zahlreichen Rot- und Brauntönen, die er im Herbst zu bieten hatte. Unter der dicken Blätterdecke am Boden konnte man die satten Rasenflächen nur erahnen. Die Vögel zwitscherten lautstark und suchten Nahrung unter Baumrinden. Im See spiegelten sich die großen Bäume und ließen die Szenerie wie ein Ölgemälde wirken. Manche Menschen würden Millionen für ein Bild wie dieses bezahlen, obwohl es doch viel eindrucksvoller war, es sich direkt in natura anzusehen. Eine laue Brise wehte um Logans Gesicht. Er beobachtete die verliebten Pärchen, die kichernd mit Schwanenbooten auf dem See tuckerten und die Grausamkeit der Realität, die nur wenige Meter von ihnen entfernt war. Logan zündete sich eine Zigarette an und schüttelte in Anbetracht der geliebten Naivität der Menschen den Kopf. Die Glut knisterte, als er einen langen Zug nahm. Er atmete den Rauch tief ein und ließ ihn ein paar Sekunden in seinen Lungen, bevor er ihn wieder ausstieß.

      Er folgte James zu dem weit abgesperrten Tatort. Ein paar Beamte versuchten, den Schaulustigen die Sicht zu versperren und baten sie weiterzugehen. Die Routine der Polizei und dem forensischen Team trug eine seltsame Stille in sich. Sie funktionierten ohne Worte miteinander, wie ein Schweizer Uhrwerk. James wechselte ein paar Worte mit dem Beamten, der an der Absperrung stand und duckte sich dann unter dem Band hindurch. Der Beamte nickte Logan zu und ließ ihn ebenfalls die Absperrung passieren. Eigentlich hatte er an einem Tatort, welcher sich nicht in seinem Zuständigkeitsbereich befand, absolut nichts zu suchen, doch anscheinend hatte

      James durch sein positives Ansehen einen Vertrauensbonus und konnte Entscheidungen treffen, die nicht erst von ganz oben abgesegnet werden mussten.

      Logan folgte James zum Tatort und bemerkte, dass er seinen kleinen Bruder noch nie so erwachsen gesehen hatte, wie in diesem Moment.

      Er sah eine junge nackte Frau, die mit angewinkelten Beinen an einen Baum gelehnt saß. Sie sah aus, als würde sie ein Buch lesen oder einfach nur die Natur genießen, wenn sie bekleidet gewesen wäre.

      James kniete sich neben die Gerichtsmedizinerin, und betrachtete die Leiche.

      »Logan, das ist Dr. Mathilda Murphy. Dr. Murphy, mein Bruder Logan Reynolds, Captain des LAPD, Abteilung Homicide.«

      Sie richtete ihren Oberkörper auf und sah nach oben. Graue Ringellocken umrahmten ihre eher jugendlichen Gesichtszüge und ihre makellose schwarze Haut. Es war der harte Ausdruck in ihren Augen, der dem Gegenüber verriet, über welch große Erfahrung sie im Gebiet er Gerichtsmedizin hatte.

      »Die Ähnlichkeit ist verblüffend«, stellte Dr. Murphy nach ausgiebiger Musterung Logans fest.

      Das war mehr als sarkastisch, denn schließlich hatten sie überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander. Aber Logan hatte den Verdacht, dass sie etwas komplett Anderes andeutete.

      »Die Freude ist ganz meinerseits.«

      »Was haben wir?«, fragte James.

      Sie schob ihre große Hornbrille auf die Nase.

      »Unser Opfer ist weiblich, weiß, zwischen 20 und 25 Jahre, Todeszeitpunkt wahrscheinlich vor 14 bis 18 Stunden, da die Leichenstarre schon komplett eingesetzt hat und sich durch die Zersetzungsvorgänge noch nicht wieder gelöst hat. Sie wurde wahrscheinlich misshandelt und gefoltert, wenn man die Striemen und Blutergüsse an ihrem Körper betrachtet. Zudem hat sie eine Kopfverletzung und mehrere Einstichstellen am Hals. Todesursache ist vermutlich ein hypovolämischer Schock. Das bedeutet: Sie ist verblutet. Genaueres kann ich aber erst sagen, wenn ich sie auf meinem Tisch habe.«

      Logan betrachtete die Leiche genauer. Der nackte Körper der Frau war mit klebrigem Blut verschmiert. Ihre Finger und Zehen waren eingekrallt und ihre Haut war so blass, dass man die blauen Adern hindurch scheinen sah. Die Fußsohlen waren voller Schrammen. Dunkle Blutergüsse und tiefe Schnitte zierten ihren schlanken Körper. An ihrem linken Unterarm waren tiefe Kratzspuren und ein großes Stück Fleisch war herausgebissen worden. Die Wunde war so tief, dass man Sehnen und Knochen erkennen konnte. Es sah aus, als hätte sich ein wildes Tier an ihr zu schaffen gemacht. Die Augen der Frau waren weit aufgerissen, die Angst in ihren großen Pupillen sprach Bände. Genau wie die verzerrten Gesichtszüge. Alles an ihr wirkte verkrampft.

      »Unter den Fingernägeln, von denen sie nur noch drei hat, habe ich Blut und Reste von Haut gefunden. Nach dem DNA-Test kann ich sagen, ob es Fremdmaterial oder ihr eigenes ist. Und jetzt zum unerfreulichen Part.« Sie zögerte und wartete James‘ Reaktion ab. Als sie keine Veränderung feststellen konnte, holte sie tief Luft. »An ihrem rechten Schulterblatt


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