Herzblut. Michaela Neumann

Herzblut - Michaela Neumann


Скачать книгу
warte!« Logan rannte ihm hinterher.

      James stieg in seinen Wagen und startete den Motor. Logan konnte gerade noch einsteigen, da fuhr James auch schon los.

      »Wo fährst du hin?«

      »Auf‘s Revier. Wir treffen uns mit Dr. O’Reilly.«

      *

      Motorengeräusche. Ein lauter Knall, ein Schuss. Blut. Ein Mann stand am Straßenrand, versuchte zu begreifen. Er fasste sich ans Herz, betrachtete seine Hand. Hope hielt sich die Ohren zu, wie es Kinder eben tun. Der Mann sah zu ihr, lächelte sie an und fiel auf die Knie. Das kleine Mädchen sah sein blutverschmiertes weißes Hemd. Ihr Puls raste. Sie wollte zu diesem Mann. Doch plötzlich waren überall Menschen zwischen ihr und ihm. Sie konnte nur ein paar kurze Blicke erhaschen, als sie versuchte, sich durch die Menge zu drängeln. Die Menschen ließen sie nicht durch, gerade so, als wollten sie sie daran hindern, ihr Ziel zu erreichen. Sie schrie, sie sollen sie durchlassen, aber die Gesichter wurden nur finsterer. Endlich machten die Leute Platz. Doch er war weg. Ein heftiger Ruck ging durch ihren ganzen Körper. Sie blickte nach unten und sah die rote Flüssigkeit, die aus ihrer Brust tropfte.

      Hope schreckte aus ihrem Traum auf. Sie war schweißgebadet und atmete schwer. Immer der gleiche Traum – fast jede Nacht. Hope fasste sich an ihre Brust. Kein Blut. Sie schüttelte den Kopf, setzte sich an die Bettkante und massierte ihre Schläfen. Sonnenstrahlen fielen durch die offenen Vorhänge und leuchteten auf Dexter, Hopes treuen Rottweiler, der entspannt am Fußende des Bettes lag. Sie tätschelte seinen Kopf und er erwiderte die Zärtlichkeit mit einem freundlichen Hecheln.

      Hope ging, immer noch benebelt von dem Traum, ins Bad und zog die Klamotten aus. Sie drehte das Wasser in der Dusche auf und stellte sich unter den heißen Strahl. Gedanken kreisten in ihrem Kopf. Warum hatte sie immer wieder diesen Traum? Warum gerade sie? Sie blickte in die Seelen grausamster Mörder, konnte sich in deren Geisteszustand hineinversetzen, aber sich selbst konnte sie nicht entschlüsseln.

      Ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihr breit. War das das Leben, welches sie sich immer erträumt hatte? Konnte sie dem unerträglichen Schmerz, der Gewalt und der Grausamkeit, die ihr Job mit sich brachten, noch lange standhalten? Sich Tag ein Tag aus in suizidgefährdete Patienten und Schwerverbrecher hineinfühlen. Es hieß, man solle die Arbeit nicht mit nach Hause nehmen. Leichter gesagt als getan. Die schrecklichen Bilder wollten einfach nicht aus ihrem Kopf verschwinden – genauso wenig, wie aus ihren Träumen. Als sie aus ihrer Heimatstadt London nach Boston zog, schien ein Kriminalpsychologie-Studium genau das Richtige zu sein. Doch inzwischen war sie sich nicht mehr sicher.

      Sie stieg aus der Dusche und rubbelte die blonden Haare trocken. Der Spiegel war vom heißen Dampf angelaufen. Mit der flachen Hand strich sie darüber, damit sie sich betrachten konnte. Wurde sie langsam innerlich von den Schattenmonstern aufgefressen? Jahrelang hatte Hope versucht, den Albtraum zu verstehen. Die Suche nach Hinweisen oder zumindest Anhaltspunkten, warum sie ihn hatte, hatten sich zwecklos erwiesen.

      Sie musterte sich im Spiegel. Die Gefühle waren noch nicht nach außen gedrungen, keine dunklen Augenringe, die die letzten schlaflosen Nächte verraten würden.

      Hope zog sich eine Jogginghose und ein Top an und ging ins Wohnzimmer. Sie lebte in einer großzügigen Wohnung mit Gästezimmer, in einem Apartment-Komplex direkt am Strand. Naturbelassenes Holz war Hauptbestandteil der Wohnung. Die modern rustikal gestaltete Küche, in kühlen Grautönen gehalten, war mit dem Wohnzimmer durch eine Kochinsel verbunden. Durch die hohe Fensterfront hatte man einen wunderbaren Blick auf den Old Harbor Park und auf das Meer. Hope liebte das Meer. Der Anblick beruhigte sie und half ihr beim Nachdenken. Das Rauschen der Wellen bereitete ihr ein fast schwereloses Gefühl und lies sie entspannen.

      Mit noch nassen Haaren ging sie ans Wohnzimmerfenster und schaute in die weite Ferne. Oft stellte sie sich vor, die Küste Englands am Horizont erhaschen zu können. Sie vermisste ihre Familie – ihre Eltern und ihre kleine Schwester. Leider hatte sie durch die Arbeit nur selten die Zeit, um nach London zu reisen und sie zu besuchen. Sie würde versuchen, sich nächsten Monat ein paar Wochen frei zunehmen.

      Das Smartphone vibrierte auf dem dunklen Holzcouchtisch. Die Nachricht war kurz. Antonys Nachrichten waren immer kurz. Heute Abend, 22.00 Uhr bei mir?

      Hope hatte seit längerer Zeit eine Affäre mit ihm. Mehr war nicht drin, denn wie sich herausstellte, war Antony kein Partner, den man seinen Eltern vorstellen wollte. Er war ein notorischer Fremdgeher. Hope wusste, dass er nebenbei noch andere Frauen am Start hatte und allen die gleiche alte Leier vorspielte. Trotzdem ließ sie sich auf ihn ein, denn irgendwie mochte sie ihn eben trotzdem. Er war ein guter Zuhörer und immer für sie da.

      Sie legte das Handy wieder zurück auf den Tisch. Im Moment hatte sie keine große Lust, ihm zu schreiben, geschweige denn, ihn zu sehen. Ein anderes Bedürfnis war im Moment größer – ihr Magen knurrte. Sie ging in die Küche, stellte den Wasserkocher an und hängte Teebeutel in zwei Tassen. Die nassen Strähnen, die sich aus dem Handtuch lösten und auf die Schulter fielen, ließen sie frösteln. Der Übergang von Herbst zu Winter war an der Außentemperatur deutlich zu spüren. Die Sonne schien zwar, doch sie hatte nicht mehr genügend Kraft gegen die Kälte anzukämpfen.

      Hope klopfte vorsichtig an der Tür des Gästeschlafzimmers. Ein leises Murmeln kam aus dem Zimmer, Schritte näherten sich der Tür. Langsam wurde die Klinke gedrückt und die Tür einen kleinen Spalt geöffnet. Ein verschlafenes Gesicht kam zum Vorschein.

      »Guten Morgen«, sagte Hope. »Hast du gut geschlafen?«

      »Mhm …«, antwortete Zoe, deren zerknautschtes Gesicht von zerzausten Haaren umgeben war.

      »Ich habe uns Tee aufgesetzt. Willst du rauskommen?«

      Zoe nickte und folgte Hope in die Küche. Ihre beste Freundin hatte mal wieder einen Schlafplatz für die Nacht gebraucht, da sie sich – wie so oft –mit ihrem Ehemann Tom gestritten hatte. Betrunken und komplett durch den Wind hatte sie am Abend zuvor vor Hopes Wohnung gestanden. Das verschmierte Make-Up ließ sie wie einen traurigen Waschbären aussehen. Fragen waren nicht mehr notwendig gewesen. Es war immer das gleiche Szenario. Zoe kriegte sich mit Tom in die Haare, betrank sich und nächtigte bei Hope. Tom war ein widerlicher Lügner, der nur Böses im Sinn hatte – das war zumindest Hope‘s Meinung.

      Zoe ließ auf den Barhocker am Küchentresen sinken. Hope holte den Wasserkocher und goss das heiße Wasser in die Tassen.

      Während Zoe auf den Teebeutel starrte, den sie abwesend durch das Wasser kreisen ließ, setzte sich Hope zu ihr.

      »Hat er dir wieder wehgetan?« Beim letzten Mal hatte ihr Zoe anvertraut, dass Tom sie geschlagen hatte.

      Die Frage riss Zoe aus ihren Gedanken. Mit aufgerissenen Augen starrte sie Hope an. »Nein! Natürlich nicht.«

      Die Antwort kam zu schnell und zu unsicher. Hope wusste genau, dass das eine Lüge war. Ihre beste Freundin war Staatsanwältin und wusste nur zu gut, sich in rechtlichen Angelegenheiten zu verteidigen. Vor ihrem Ehemann schien sie dies jedoch nicht zu können. Liebe konnte so schrecklich sein. Allein die Aussagen der Männer, es tue ihnen unendlich leid und es würde nie wieder vorkommen, reichten aus, um die Hoffnung zu bewahren, dass sich alles ändern würde. Doch dem war nicht so. Bei keinem Mann, auch nicht bei Tom. Und das wusste Zoe genauso gut wie Hope. Aber die Liebe ließ einen den Verstand verlieren und blauäugig vor den Tatsachen stehen.

      »Willst du dich nicht endlich mit dem Gedanken anfreunden, dich von ihm zu trennen?«

      »Du verstehst das nicht. Er liebt mich. Und nur deswegen verhält er sich so – weil er mich nicht verlieren will.«

      Schwachsinn, dachte Hope. Die gleiche Masche, die alle Männer dieser Sorte von sich gaben. Leere Worte, Ausreden, um sein eigenes Verhalten zu rechtfertigen. Hope wollte Zoe nur zu gern helfen, aber sie wusste genau, dass jeder Versuch zwecklos war. Für ihr Verhalten gab es dutzende psychologische Erklärungen. Doch Familie oder Freunde zu analysieren war nicht gerade vorteilhaft, da man nicht ausreichend Abstand zu den jeweiligen Situationen hatte. Zoes Verfassung verschlechterte sich bei jedem weiteren Streit,


Скачать книгу