Herzblut. Michaela Neumann

Herzblut - Michaela Neumann


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Halluzinationen aus und führte dazu, dass die inneren Organe sich rasant selbst zerfraßen. Sie hatte keine Überlebenschance. Die Todesursache waren jedoch nicht die Drogen, sondern wie am Tatort schon vermutet, der Blutverlust. Die Analyse der Haut unter den Fingernägeln hat ergeben, dass diese von ihr selbst stammt, ebenso das Fleisch, welches wir im Mund gefunden haben.

      Sie hat kleine Stichwunden am Thorax, welche durch einen scharfen Gegenstand, vermutlich ein einfaches Küchenmesser, verursacht wurden.«

      Dr. Murphy umrundete den Tisch. Sie drehte die Leichte etwas auf die Seite, sodass die eingebrannten Buchstaben am Schulterblatt zum Vorschein kamen.

      »Diese Buchstaben wurden post mortem zugefügt. Der Täter musste sie also beim Sterben beobachtet haben und sie nach dem Eintritt des Todes gebrandmarkt haben. Die Blutergüsse an den Oberschenkel Innenseiten sind Anzeichen einer Vergewaltigung. Im Inneren der Scheide sind starke Verletzungen festzustellen. Ein männliches Glied kann solche Verletzungen nicht verursachen. Aber nun zum Wichtigsten. Ich habe in ihrer Scheide Sperma gefunden.« Dr. Murphy zögerte einen Moment. »Diese stammt von Matthew Boyed.«

      »Bist du sicher?«, fragte James.

      Boyed hatte nie ein Opfer sexuell missbraucht. Dennoch stimmten andere Fakten mit seiner Vorgehensweise überein. Vielleicht hatte er seine Vorgehensweise geändert, dachte Logan.

      Dr. Murphy nickte. James schüttelte den Kopf. »Es darf sich nicht wiederholen«, sagte James mehr zu sich als zu Logan oder Dr. Murphy.

      Logan bemerkte, dass sich auf James` Stirn Schweiß bildete. James würgte, eilte zum Waschbecken und übergab sich. Logan konnte diese Reaktion nur zu gut verstehen. Von einer Sekunde zur anderen brach James hart erkämpftes »normales« Leben zusammen.

      James lehnte am Waschbecken, er wirkte plötzlich unendlich müde, als hätte er eine Woche lang nicht geschlafen. Noch ein Schwall kämpfte sich über seine die Speiseröhre nach oben. Dieses Mal war es Galle. Logan reichte ihm ein Papiertuch, welches James ihm, ohne ihn anzusehen, entriss. Mit zitternder Hand wischte er sich den Mund ab.

      »Habe ich damals etwas übersehen?«, murmelte James vor sich hin. »Hatte Boyed einen Komplizen, von dem wir nichts gewusst haben?«

      »Das Sperma könnte auch an der Leiche platziert worden sein, um uns auf eine falsche Fährte zu locken”, sagte Murphy.

      Eine undurchdringliche Stille durchflutete den Raum. Keiner wagte es, sich zu rühren. Jeder Atemzug fühlte sich falsch an.

      Nach einigen Sekunden, die sich wie Stunden anfühlten, nickte Dr. Murphy Logan zu und schlich sich unauffällig aus dem Obduktionssaal. Man konnte an ihrer Körperhaltung ein gewisses Unbehagen ausmachen, dennoch ließ sie die Leiche unbeaufsichtigt, damit sie den Brüdern einen Moment Privatsphäre genehmigen konnte, denn sie kannte James vermutlich gut genug, um zu wissen, dass er sehr unter Strom stand und ein beruhigendes Gespräch mit seinem Bruder vertragen könnte.

      »Geht es dir gut?”, war alles, was Logan im Moment einfiel.

      »Wie sollte es mir denn gehen?”, brüllte James und schlug mit der Faust auf die sauber polierte Stahlanrichte des Waschbeckens. Seine Wangen glühten purpurrot. »Was denkst du, was ich fühle? Komm schon, sag es mir! Anscheinend weißt du besser, wie ich mich fühle als ich selbst.”

      Logan kannte dieses störrische, verzweifelte Verhalten aus seiner Kindheit – nur nicht in diesem Ausmaß. Sobald etwas in die Hose ging oder nicht wie erwartet seinen Verlauf genommen hatte, konnte James nicht mehr klar denken. Und es half nicht, ihn besänftigen zu wollen. Das Einzige, was ihn wieder zur Vernunft brachte, war ihm die Tatsachen vor die Füße zu werfen. Wie es sein Vater immer getan hatte.

      »Reiß dich zusammen, James! Dr. Murphy könnte recht haben. Boyed könnte auch einen Komplizen in der Anstalt haben. Vielleicht möchte er sich an dir rächen, weil du ihn in diese Anstalt einliefern hast lassen und will dich in den Wahnsinn treiben. Und er wird nicht aufhören, dich in die Enge zu treiben, dich herauszufordern, bis er tot ist. Du darfst ihn nicht die Oberhand gewinnen lassen. Stell dich den Fakten und lasse dich nicht aus der Ruhe bringen. Ich weiß, dass du es kannst.”

      Es war gespenstisch, wie sehr Logan nach dessen Vater klang, doch es schien zu wirken. James` Muskeln entspannten sich etwas. Er nahm einen Schluck aus dem Hahn und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht.

      »Weißt du, ich zweifle nicht nur an meinem Urteilungsvermögen, sondern vor allem an mir selbst.«

      »Denk mal nach, kleiner Bruder«, sagte Logan, überrascht über die ehrlichen Worte seines Bruders. »Hat sich deine Intuition jemals geirrt? Hast du je schlampig gearbeitet? Hättest du etwas übersehen können?«

      James zerknüllte das Papiertuch und warf es ins Waschbecken.

      »Ich hasse es, wenn du Recht hast”, sagte James ohne jede Spur einer Emotion. Kein Zorn, keine Erleichterung und schon gar keine Dankbarkeit.

      Vorsichtig schob Dr. Murphy den Kopf zwischen den Türen hindurch. »Alles in Ordnung hier drin?”

      Vermutlich hatte man das Gebrülle bis vor die Tür gehört.

      »Soweit.” James wollte es sich nicht eingestehen, dass ihn sein Bruder wieder auf den Boden der Tatsachen gebracht hat, doch Logan wusste, dass es so war. Eigentlich war James nur eifersüchtig auf seinen Bruder, der wie immer alles ins Rechte rückte und wie ihr Vater war.

      James blickte auf seine silberne Armbanduhr. Das dunkle Leder war abgewetzt und der Verschluss drohte zu reißen.

      »Wir müssen los«, sagte er. »Danke, Mathilda.” Er drückte ihr behutsam die Schulter.

      Dr. Murphy schenkte ihm ein sanftes Lächeln und machte sich wieder an die Arbeit.

      *

      Die Fahrt zur St. Elisabeths` Nervenklinik zog sich wegen des einsetzenden Berufsverkehrs unangenehm in die Länge. James trommelte nervös mit den Fingern aufs Lenkrad. Die Sonne sank immer schneller. Bald würde sie untergegangen sein.

      Als sie das Haupttor der Klinik erreichten war es bereits dunkel. Bewaffnete Sicherheitsangestellte versperrten ihnen den Weg. James kurbelte das Fenster herunter und drückte auf die Sprechanlage, während ihn die Sicherheitsangestellten stoisch dabei beobachteten.

      Eine blecherne Stimme meldete sich. »Bitte weisen Sie sich aus und nennen Sie den Grund Ihres Besuches.« Die Lustlosigkeit des Empfangsmitarbeiters triefte förmlich aus den Lautsprechern.

      »Lieutenant Reynolds vom Boston PD. Wir haben einen Termin mit Mr. Boyed und seiner Psychiaterin.«

      »Halten Sie Ihren Ausweis in die Kamera.«

      James tat wie geheißen und wartete ungeduldig. Ohne eine weitere Anweisung öffneten sich die verzierten Tore mit einem ohrenbetäubenden Quietschen. Die Sicherheitsangestellten traten beiseite und machten den Weg frei.

      Die Auffahrt zur Nervenklinik war eine lange Allee, die von dichten Buchen und Birken umschlossen war. Die Straße endete an einem runden Vorplatz, welchen ein imposanter, in die Jahre gekommener Springbrunnen zierte. James lenkte den Wagen auf einen der Mitarbeiterparkplätze vor dem rechten Flügel des Gebäudes. Eine kühle Brise durchflutete das Auto beim Öffnen der Türen. James sah Logan dabei zu, wie er sich streckte.

      »Wieso fährst du nur ein so unbequemes Auto?«, fragte Logan.

      »Weil es ein tolles Auto ist«, entgegnete er schulterzuckend.

      James war seit der Verurteilung von Boyed nicht mehr hier gewesen. Er sah sich um und betrachtete die Szenerie.

      Das Hauptgebäude, das wohl einst strahlend weiß gewesen sein musste, wurde nun von Efeuranken bedeckt und gab der grausamen Wirklichkeit hinter den Mauern einen romantischen Touch. Im 19. Jahrhundert war das Gebäude ein hoch angesehenes Hotel für die vermögenden Menschen auf der ganzen Welt.

      Logan drängelte James weiterzugehen, da er Hope bereits entdeckt hatte. Sie gingen an einer heruntergekommenen Poollandschaft vorbei, die damals zu den modernsten Anlagen der


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