Auf der Spur der Sklavenjäger. Alexander Röder

Auf der Spur der Sklavenjäger - Alexander Röder


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Eure Hand nun an den Felsen“, forderte Haschim den Lord auf, ohne dass er aber selbst den Felsen berührte.

      Sir David ging noch einen halben Schritt näher an den Felsen heran und berührte ihn vorsichtig mit der flachen, erhobenen Hand, zögerte dann erst etwas, doch als er wahrnahm, dass ihm kein Leid geschah, presste er die Hand fest auf den schwarzen Stein.

      „Und nun denkt an die Courser“, führte Haschim Sir David weiter durch das Ritual. „Stellt Euch vor, wie sie aussieht, memoriert sie vor Eurem geistigen Auge.“

      Sir David schloss für einen Moment seine Augen und konzentrierte sich.

      Es bedurfte nur einer kleinen Weile, da begannen auf dem Felsen um seine Hand herum einige scheinbar wirre Linien zu entstehen, die den Stein aufhellten, Wirbel, die verdrehte geometrische Formen bildeten und sich blitzschnell immer wieder veränderten, die von der Hand ausgehend mehr und mehr den gesamten Felsen überzogen, die aber kein Muster erkennen ließen. Doch dann war es plötzlich, als risse eine Nebelwand auf, und es eröffnete sich uns eine Ansicht von gigantischer Ausdruckskraft: ein Ausblick auf eine Meeresszene, in deren Mitte ein Segelschiff schwamm. Alles war so getreu, wie wenn wir als Beobachter mitten im Meer stehen würden, und es war auch kein Bild, sondern eine bewegte Szenerie: Die Wellen liefen über das Wasser, und das Schiff ging mit den Wellen auf und nieder.

      Nur zu hören war nichts.

      Sir David hatte das Erscheinen der Szene nicht mitbekommen, weil er zur besseren Konzentration immer noch die Augen geschlossen hielt. Als er sie jetzt öffnete, erschrak er so sehr über die plötzlich vor ihm befindliche Szenerie, dass er unwillkürlich seine Hand wieder vom Felsen nahm. Schlagartig war das Bild weg und die Wand wieder tiefschwarz.

      Doch Sir David war glücklicherweise so geistesgegenwärtig, die flache Hand wieder an den Felsen zu pressen, und sogleich war das Bild wieder da, sodass wir weiterhin mit großem Staunen das Segelschiff betrachten konnten.

      „Stellt Euch nun das Deck vor“, leitete Haschim Sir David weiter an.

      Da näherte sich das Schiff, als würde es auf uns Betrachter zufliegen – oder wir auf das Schiff. Wir erkannten immer mehr Einzelheiten der Takelage, dann sahen wir Bewegungen auf dem Oberdeck. Es liefen Matrosen herum, die ihren Aufgaben nachgingen, und einige dieser Matrosen waren Frauen. Ihre kurzen Haare waren zerzaust, und ihre Gesichtsfarbe war vom Seewind und der Sonne gerötet, aber sonst schien es ihnen gutzugehen.

      Zwei waren dabei, ein Segel zu flicken. Eine dritte Frau half zwei männlichen Matrosen dabei, die Segel straffzuhalten, sie zog Seile nach und achtete darauf, dass diese sich glatt über die Rollen legten. Eine Frau stand etwas abseits und schien zu schimpfen, jedenfalls legten wir ihre heftigen Gesten so aus.

      Weitere Frauen waren nicht zu sehen; sie mochten unter Deck sein oder auf der Rückseite hinter den Aufbauten und damit außerhalb unserer Perspektive. Kampfspuren oder andere Beschädigungen waren keine zu sehen, also war das Schiff vermutlich unbehelligt seinen Weg durch die arabischen Gewässer gesegelt. An Aden war es vorbeigekommen, das hatte die Sabäerin bestätigt, der wir in ihrem sagenhaften Reich wiederbegegnet waren. Vom Zeitverlauf her musste das Schiff nun längst den Suezkanal passiert haben und im Mittelmeer kreuzen. Doch ebenso konnte es aufgehalten worden sein, denn im Roten Meer hatte es einmal einen Abu Seif gegeben, Hannehs und Djamilas Vater, seines Zeichens ein berüchtigter Pirat – der mochte Nachfolger gefunden haben.

      Da erkannten wir Turnerstick, der sich zum Steuer begab.

      Und als Sir David nun Turnerstick folgte und das Felsenbild anschließend einen Blick in diejenige Richtung freigab, in die der Kapitän Ausschau hielt, zeigte sich uns eine breite Hafeneinfahrt.

      „Malta!“, rief Lindsay aus. „Das ist unverkennbar der Grand Harbour von Valletta.“

      Jetzt erkannte auch ich die charakteristische Hafeneinfahrt mit der Zitadelle von Valletta rechter Hand und den mächtigen Bastionen auf sämtlichen umliegenden Landzungen, die von der Verteidigungsbereitschaft des Malteserordens bei unzähligen historischen Belagerungen zeugten. Hier drohte allerdings keine Gefahr mehr. Malta war britisches Hoheitsgebiet und wurde seit 1814 von der Krone eifersüchtig und mit hoher Marinepräsenz gehütet.

      „Das Bild ist übrigens kein Abbild unserer eigenen Wünsche“, stellte Haschim an dieser Stelle klar, und es schien mir fast, als könnte er meine Gedanken lesen. Denn dieser letzte Zweifel hatte noch tief in mir genagt. Magie war schließlich auch Schein, Illusion, Verhüllung; Magie fand oft nur im Kopf derjenigen statt, denen sie vorgeführt wurde. „Der Stein zeigt das, was in diesem Moment der Betrachtung wirklich geschieht, und er manipuliert die Realität nicht. Er verschafft uns lediglich die Möglichkeit zur Fernsicht, zur Television.“

      Also atmeten wir auf, denn wir konnten nun darauf vertrauen, dass die Befreiten endgültig einen sicheren Hafen gefunden hatten, von wo aus sie nach allen Ländern Europas reisen konnten.

      „Ein faszinierender Zauber, aber gelegentlich nicht leichtzunehmen. Ein Zauber kann auch eine Last sein, sogar ein Fluch.“ Haschim wirkte nun etwas reserviert. „Wir können das ferne Geschehen nur betrachten, aber nicht darin eingreifen. Es ist unserem Einfluss entzogen. Wenn wir jetzt etwas anderes als das Erhoffte gesehen hätten, hätten wir es nicht ändern können. Denn wir sind zu weit weg von der Szene, um bei einer beobachteten Gefahr helfen zu können.“

      „Also wenn wir just gesehen hätten, dass eine der Ladys vor unseren Augen in die See gefallen wäre, und niemand auf dem Schiff hätte das beobachtet …?“ Lindsay beschrieb ein schreckliches Beispiel. Unwillkürlich nahm er dabei die Hand wieder von der Wand weg und das Bild verschwand schlagartig.

      Haschim zuckte nur stumm mit den Schultern.

      Das Gespräch stockte nun, weil jeder für eine Weile seinen Gedanken nachhing.

      Es war Halef, der die Stille mit einem unerwarteten Wunsch unterbrach. Offenbar hatte er daran gedacht, was in diesem Augenblick wohl an einer Stelle auf unserem Erdball geschah – an einer Stelle, die ihm besonders am Herzen lag. „Kann der Felsen uns wirklich jeden Ort zeigen, an den wir denken?“

      Haschim nickte.

      „Könnte ich vielleicht einen Blick auf mein eigenes Zelt werfen, verehrter Scheik? Das Heim, in dem ich wohne, wenn ich bei den Haddedihn bin und in dem jetzt meine Hanneh, die Blume meines Herzens, die Seele meines Lebens, sich aufhalten müsste. Und mein Sohn Kara, der nach meinem Sihdi benannt wurde und der dereinst ebenso tapfer sein wird wie der große Effendi aus Dschermanistan. Und auf Djamila, die kleine Schwester meines die ganze Familie umsorgenden Eheweibs, die wir heim in den Schoß dieser Familie geholt haben. Und auch auf Amscha, die tapfere Mutter, die kämpfen kann wie ein Mann und die ich auch als Schwiegermutter so lieb gewonnen habe, als wäre es meine eigene Mutter.“ Wenn Halef aufgeregt war, neigte er dazu, zu reden und zu reden und zu reden …

      Haschims bislang ernstes Gesicht zeigte nun ein feines und verständnisvolles Lächeln. „Nur zu, Halef“, erlaubte er.

      Halef trat also an den Felsen heran und legte seine offene Hand auf die schwarze Wand. Er konzentrierte sich, ließ dabei aber die Augen mit Blick auf den Felsen offen. Und wieder begannen den dunklen Stein aufhellende Linien sich zu Wirbeln zu formen, die zuerst wechselnde geometrische Formen bildeten und sich dabei immer wieder wandelten. Sie strahlten von der Berührungsfläche von Halefs Hand aus und überzogen den gesamten Felsen, ohne dass man jedoch zunächst irgendein Muster erkennen konnte. Doch dann war es wieder, als risse plötzlich eine Nebelwand auf, und wir blickten auf eine Wüstenlandschaft, in deren Mitte ein Zeltdorf stand.

      Halef atmete hörbar tief ein und gleichzeitig schien das Bild auf uns zuzuspringen, wie wenn man bei einem Fernrohr mit raschem Griff die Entfernungseinstellung veränderte. Nun sahen wir ein uns sehr vertrautes Zelt, dessen weiße Leinwand einige Ornamente zeigte, die Hanneh angebracht hatte, um es zu kennzeichnen, um ihm einen besonderen Charakter zu geben. Bescheidene Ornamente natürlich, denn Halef war nicht der Scheik, dem ein besonderer Schmuck zustand, sondern ein ganz normales, wenn auch mittlerweile sehr geachtetes Stammesmitglied der Haddedihn.

      


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