GUARDIANS - Der Verlust. Caledonia Fan
gegenüber anders verhalten, waren regelrecht zutraulich gewesen. Affen hatten sich streicheln lassen und Papageien auf Romarus Schulter gesessen. Sogar der Ozelot war gern in seine Nähe gekommen. Señora Vermosa hatte ihr erzählt, dass sie einmal schreckensbleich mit ansehen musste, wie ihr Sohn am Wasser saß und eine Korallenschlange sich auf die schmalen Knabenschultern legte. Als dieser die Hand behutsam über den glatten Schlangenleib gleiten ließ, war der Mutter beinahe das Herz stehengeblieben.
Tamira hatte den Stolz in der Stimme von Nanita Vermosa hören können, der erneut Tränen über die Wangen rollten, als sie das erzählte. Da seine Fähigkeit viel Aufmerksamkeit erregt hatte, war Romaru sogar schon mehrfach nach Cobán, der großen Stadt im Süden, geholt worden. Man brauchte ihn im Zoo, um bei einem erkrankten Tier herauszufinden, was ihm fehlte. Der Junge hatte deswegen selbstverständlich Tierarzt werden wollen.
Sie merkte, dass er sich wie ein Fremdkörper in der eigenen Familie fühlte. Die beiden jüngeren Brüder nahmen seine Veränderung scheinbar unbekümmert hin, doch die Mutter meinte, der Vater könne mit der Situation nicht umgehen. Er sei verbittert, denn obwohl er anfangs dagegen gewesen war, dass Romaru den Tierpflegern im Cobáner Zoo half, hatte die großzügige Bezahlung doch ab und zu den einen oder anderen kleinen Luxus für die Familie ermöglicht. Das war nun Geschichte.
Die Mutter hatte damals nicht nachgelassen, bis ihr Mann ihr erlaubte, Romaru als Zehnjährigen in die internationale Begabten-Datenbank eintragen zu lassen, wie es ihnen vom Zoodirektor geraten worden war. Voller Stolz hatte sie den Schein mit der Registrierungsnummer entgegengenommen und während der ganzen Busfahrt in der Hand gehalten. Im Amt hatte man ihr von Schulen für besonders Begabte erzählt und Penelopes Internat empfohlen.
Romaru war sofort begeistert gewesen von der Idee, in England zu lernen. Und auch dafür hatte die kleine unscheinbare Frau von ihrem Mann die Erlaubnis erkämpft. Sie zählte auf, was für großartige Möglichkeiten Romaru damit offenständen und wie er mit einer guten Ausbildung die Familie finanziell unterstützen könnte.
Tamira verstand. Es war ein weiterer geplatzter Traum für den Vater gewesen. Falls er gehofft hatte, eines Tages nicht mehr bei den großen Firmen mit ihren illegalen Rodungen schuften zu müssen, dann war diese Hoffnung nach dem Wiederauftauchen seines ältesten Sohnes gestorben.
Dass er seine Gabe nicht mehr besaß, hatte niemand bemerkt, bis die Mutter ihn am Tag darauf am Fluss beobachtete. Die Tiere waren nicht zu ihm gekommen. Sie hatte es für einen Zufall gehalten, doch auch die Hunde des Dorfes und die Mulis des alten Gummizapfers Jorge schenkten ihm keine Beachtung mehr. Da hatte sie ihren Jungen gefragt, warum die Tiere ihn mieden. Und seine Antwort war nur ein verständnisloser Blick gewesen.
All das hatte Nanita hastig hervorgesprudelt, von Schluchzern unterbrochen und ab und zu mitfühlend ihren Sohn betrachtend.
Nachdem der Junge erleichtert das Häuschen verlassen hatte, blieb Tamira noch einen Augenblick am Küchentisch sitzen, um zu überlegen, wie sie weiter vorgehen sollten. Letztendlich hatte das Gespräch nicht viel gebracht. Die Polizeistation in Flores aufzusuchen erschien ihr unsinnig. Dort würde man ihnen nicht weiterhelfen können.
Gerade wollte sie aufstehen, um nachzuschauen, ob La'ith und Tiana zurück waren, da wurde sie am Arm festgehalten.
"Warten Sie, bitte. Ich möchte Ihnen noch etwas zeigen", flüsterte Romarus Mutter und schaute nervös zur Tür, als müsse sie sich vergewissern, dass sie tatsächlich allein waren.
Wieder fiel Tamira auf, dass sie viel jünger sein musste, als sie wirkte. Dreißig vielleicht, wenn überhaupt. Sie sank auf den Stuhl zurück und wartete.
Die Frau schob die Hand in die Tasche ihres bunten, landestypischen Rockes und holte einen vielfach gekniffenen Zettel heraus. "Das hing an unserer Tür, als ich mit Romaru an dem Tag nach Hause kam. Mein Mann darf nicht erfahren, dass ich Ihnen das zum Lesen gebe. Er glaubt, dass ich den Brief weggeworfen habe. Wir haben Angst, große Angst." Mit diesen Worten hatte sie das Blatt entfaltet und legte es nun mit bebenden Fingern vor Tamira auf den Tisch.
Der 'Brief' bestand lediglich aus zwei Zeilen. Doch der Inhalt beantwortete viele Fragen.
'Zu niemandem ein Wort davon, was mit Ihrem Sohn geschehen ist. Zu niemandem! Wir wissen, wo ihre Familie lebt und dass der Junge zwei kleine Brüder hat.'
Tamira nickte verstehend. Sie faltete den Bogen wieder zusammen und wollte ihn zurückgeben, doch die Frau schüttelte hastig den Kopf. "Behalten Sie ihn!", stieß sie hervor. "Ich lebe in ständiger Angst, dass mein Mann herausbekommt, dass ich Sie angerufen habe. Wenn er erfahren sollte, dass ich den Zettel heimlich aufgehoben habe, um ihn Ihnen zu zeigen, weiß ich nicht, was er tut. Aber ich wollte, dass Sie wissen, warum wir nichts unternommen haben."
Wieder nickte Tamira. "Das verstehe ich. Wir werden weg sein, wenn Ihr Mann nach Hause kommt." Sie ergriff die Hände von Romarus Mutter und drückte sie sanft. "Sie haben sehr viel Mut bewiesen, Señora Vermosa. Es tut mir so leid, was Ihrer Familie passiert ist."
"Nanita", schniefte die Frau und lächelte unter Tränen. "Mein Name ist Nanita."
"Ich bin Tamira. Und jetzt werde ich nachschauen, wo meine Freunde sind, damit wir zurückfahren können. Vielen Dank. Sie haben uns sehr geholfen."
13. Juni 2024, Donnerstag, 15:30 Uhr
Carmelita, Guatemala
Sie hatten das große Plateau im Osten des Dorfes erreicht, auf dem das Mahagoniholz aus dem Regenwald zwischengelagert wurde. La'ith war bis zum Rand des Areals gegangen und dort stehengeblieben. Vor ihm lag ein Steilhang, der nach Süden abfiel. Zu seinen Füßen dehnte sich dichter Dschungel.
Der Angriff kam völlig unerwartet. Tiana, die nahe der Hütte gestanden hatte, sank beinahe lautlos zu Boden. Doch La'ith hatte das kaum hörbare Platschen, mit dem ihr Körper im Schlamm landete, vernommen.
Er fuhr alarmiert herum, kam aber nicht mehr dazu, etwas zu tun. Das, was ihn traf, war um ein Vielfaches stärker. Und das hatte seinen Grund.
Es sollte ihn töten.
Ort und Zeitpunkt für den Angriff waren perfekt gewählt. Während Tiana liegenblieb, wo sie gefallen war, sah die Situation für ihn wesentlich schlechter aus.
Der plötzliche, grelle Schmerz im Kopf, der jegliche andere Wahrnehmung mit einem Schlag ausschaltete, ließ ihn auf die Knie fallen. Alles versank in undurchdringlicher Schwärze. Er kippte zur Seite, rutschte über den Rand und rollte bewusstlos den Abhang hinab. Schlaff wie eine Gliederpuppe prallte sein Körper dabei mehrfach gegen Baumstämme und blieb schließlich weit unten im Wald liegen. Die üppig wuchernde Vegetation hatte ihn verschluckt wie ein gefräßiges, grünes Monster.
Hinter dem Wellblechschuppen, der in der Mitte des Holzlagerplatzes stand, kam eine Person mit einem Kapuzenponcho hervor. Sie ging gemächlich hinüber an den Rand des Plateaus und sah hinunter. Forschend fixierte ihr Blick das grüne Dickicht zu ihren Füßen. Unten regte sich nichts. Nach einer Weile schien sie überzeugt, dass der Begleiter der Zielperson außer Gefecht gesetzt war. Sie drehte sich um und stieß einen scharfen, kurzen Pfiff aus.
Gleich darauf trat ein kräftiger Mann mit raspelkurzen Haaren und ausdruckslosem Gesicht aus dem Schuppen und ging zu der bewusstlosen Tiana. Mit einer Leichtigkeit, als wäre sie eine Strohpuppe, hob er sie auf seine Schultern. Sein Gefährte mit dem Poncho war inzwischen auch herbeigekommen, stellte sich neben ihn und einen Wimpernschlag später waren alle drei verschwunden. Das Plateau lag verlassen. Der Regenwald dampfte und der nun wieder herabrauschende Regen schluckte die Geräusche des Dschungels fast vollkommen.
13. Juni 2024, Donnerstag, 16:50 Uhr
Carmelita, Guatemala
Als Tamira aus dem Haus trat, fand sie weder La'ith noch Tiana vor der Tür. Stirnrunzelnd sah sie auf den MFA. Der abgesprochene Zeitpunkt für die Rückfahrt war gekommen.
Einen Moment sah sie zum regenverhangenen Himmel hinauf, dann setzte sie sich auf die oberste Stufe der Veranda. Irgendwo anders zu warten erschien ihr sinnlos. Die beiden waren sicher gleich