GUARDIANS - Der Verlust. Caledonia Fan
laufen müssen, um Nacho zu holen. Dann hieß es, mit dem Tier einen weiten Bogen zu schlagen, um zu der Stelle zurückzukehren. Das Dickicht war schier undurchdringlich und seine Machete hatte viel zu tun, bis sie endlich wieder da waren. Beinahe wäre er unterwegs auf eine Korallenschlange getreten. Doch Nacho scheute und deshalb hatte er sie rechtzeitig bemerkt. Das Muli wäre um Haaresbreite auf und davon gewesen, nur sein rascher Griff nach dem Zügel hatte es verhindert. Sonst ein absolut zuverlässiger Gefährte, zeigte das Tier eine unbeschreibliche Furcht vor Schlangen. Und da es im Regenwald reichlich davon gab, passierte es ab und zu, dass es die Ohren flachlegte und bockte oder gar seinen Reiter abwarf, um panisch davonzustürmen.
Doch trotz aller Hindernisse und zunehmender Dunkelheit hatten er und sein vierbeiniger Kamerad es geschafft und die Stelle wiedergefunden.
Alles war unverändert gewesen. Der Mann hatte dagelegen, bewegungslos, mit dem Gesicht nach unten. Aber er lebte. Arrojo hatte auf ihn aufgepasst.
Mit viel Mühe war es ihm gelungen, den Bewusstlosen auf den Rücken des Mulis zu hieven und dort festzubinden, damit er auf dem Weg nicht herunterrutschte. Dabei war ihm das Gerät aufgefallen, das der Mann am Handgelenk trug. Rasch hatte er es abgenommen, ausgeschaltet und eingesteckt. Dann waren sie zusammen aufgebrochen, um zu seiner Bleibe zurückzukehren. Nacho mit seiner Last vornweg, dahinter er und Arrojo am Schluss.
Die Hälfte des Weges hatten sie inzwischen geschafft. Bald würden sie sein Heim erreicht haben.
"Todo estará bien, compañero", murmelte er, obwohl er wusste, dass der andere ihn nicht hörte. "Alles wird gut."
~~~ KAPITEL 5 ~~~
14. Juni 2024, Freitag, 03:00 Uhr
Darach Manor, England
"Sie sind zwei volle Stunden über der Zeit. Da ist was passiert!"
Trajan lief im Besprechungsraum hin und her wie ein Tier im Käfig.
"Zum Donnerwetter, jetzt setz dich endlich hin. Du machst uns alle verrückt!", grollte Sadik. Er wurde selten laut, deshalb blieb Trajan stehen und drehte sich überrascht zu ihm um.
"Was denkst du, woran es liegt?", verlangte er zu wissen.
Der Ausbilder und Chef der Guardians stöhnte. "Das hatten wir doch schon mindestens dreimal. Ich habe keine Ahnung. Es kann so viel sein. Netzprobleme, eine Panne mit dem Wagen, schlechter Straßenzustand, was weiß ich. Vielleicht übernachten sie in dem Dorf. Es ist Regenzeit, vielleicht hat es einen Erdrutsch gegeben, der die Straße weggerissen hat?" Er hob in einer ratlosen Geste die Hände. "Wir haben Tamiras GPS-Signal. Sie ist in Carmelita. Keine Ahnung, wieso das von Tiana und La'ith verschwunden ist. Vielleicht sind sie in einer Höhle und der Dschungel kann das Signal ebenfalls abschirmen. Ich weiß es doch nicht." Seufzend fuhr er sich mit der Hand durch den angegrauten Schopf. "Ich versuche weiter stündlich sie damit zu erreichen." Er legte seine Rechte auf das Satellitentelefon, das vor ihm auf dem Tisch stand. "Etwas anderes als warten können wir nicht. Wenn sie sich bis morgen Mittag nicht gemeldet haben, fragen wir im Hotel nach. Bis dahin halten wir die Füße still. Alle, auch du."
Der Blick, mit dem er Trajan ansah, sprach Bände. Er würde keine Missachtung dieser Anweisung dulden. Wenn es nötig war, warf er seine Autorität als Chef der Guardians in die Waagschale.
Doch Trajan, der sein nervöses Hin-und-her-Wandern wieder aufgenommen hatte, fuhr herum. "Verdammt, das ist keine Mission der Guardians", brüllte er erbost und funkelte Sadik wütend an. "Du hast mir gar nichts vorzuschreiben! Und wenn ich heute Nacht noch nach Guatemala fliegen will, kannst du mich nicht aufhalten!"
Heftig atmend rang Tianas Bruder um Beherrschung. Er wusste, dass Sadik ebenfalls besorgt war, nur hatte der sich besser im Griff. Aber es war ja auch nicht seine Schwester, deren GPS-Signal vom Satelliten nicht mehr empfangen wurde.
Der Polizist wusste, dass er dem Chef eigentlich dankbar sein sollte. Wenigstens einer musste einen kühlen Kopf behalten. Er selber war momentan nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.
"Wir verstehen deine Sorge, Trajan, aber Sadik hat Recht." Gaz, der neben seinem Bruder saß, warf einen Blick auf die Uhr. Mitternacht war vor drei Stunden gewesen. "Es hilft niemandem, wenn du dich aufreibst vor Sorge. In Flores ist es erst kurz nach neun. Der Anruf kann also immer noch kommen. Ich schlage vor, wir gehen jetzt alle schlafen. Am Morgen sehen wir weiter." Nachdem er sich bei seinem Bruder vergewissert hatte, dass er zustimmte, klatschte er beide Hände auf die Oberschenkel. "Na dann."
"Gute Nacht euch allen." Sadik war ebenfalls aufgestanden, machte aber keine Anstalten, den Besprechungsraum zu verlassen. Das altmodische Satellitentelefon stand hier auf dem Tisch und er würde - wie versprochen - stündlich einen Versuch unternehmen, die drei in Guatemala zu erreichen. Es musste sich sowieso ständig jemand im Raum aufhalten, damit ein eventuelles Klingeln nicht überhört wurde.
"Ich bleibe hier beim Telefon", verkündete Trajan.
"Keine gute Idee." Sadik schüttelte den Kopf. "Lass mich hier schlafen. Du musst nachher zum Dienst und deine Nacht ist schon kurz genug. Ich verspreche dir, dass ich dich wecke, wenn eine Nachricht eintrifft."
Tianas Bruder nickte zögernd, fast widerwillig, dann verschwand er.
"Was denkst du?", fragte Gaz leise, nachdem alle hinausgegangen waren.
Um ein Uhr hatte Tamira sich melden wollen. In Flores war es da abends um sieben. Früher konnten sie nicht aus Carmelita zurückkommen. Doch Sadiks Handy hatte bislang nicht geklingelt.
Der seufzte.
"Du weißt die Antwort. Es ist irgendetwas schiefgegangen. Auch wenn ich Trajan beruhigen konnte - ich selbst glaube nicht, dass wir am Morgen etwas von ihnen hören werden. Vor Mittag wird sich nichts tun, dann ist es dort gerade erst sechs Uhr früh. Ich bin sicher, dass etwas geschehen ist. Hoffentlich verschwindet Tamiras Signal nicht auch noch."
Gaz erwiderte nichts. Ihm war vorhin schon klar gewesen, dass Sadik vorhatte, hier auf dem Sofa den Rest der Nacht zu verbringen. Sein Bruder fühlte sich verantwortlich, obwohl es keine Mission der Guardians war.
"Dann schlaf gut", brummte er und gab ihm einen Fauststoß an die Schulter. Mit einem Seufzer drehte er sich um und verließ den großen Raum mit den bequemen Ledermöbeln, in dem man alle Besprechungen abhielt und der auch gern als Aufenthaltsraum genutzt wurde.
Sekunden später fiel das schwere Eingangsportal dumpf hinter ihm ins Schloss und er lenkte seine Schritte entlang der solarbetriebenen Leuchtstreifen am Gehweg hinüber zum Kutscherhaus.
14. Juni 2024, Freitag, 05:30 Uhr
In Guatemala
Tiana erwachte in vollkommener Finsternis. Einen Augenblick brauchte sie, um sich zu erinnern, was passiert war. Der Holzplatz … Regen …
Stimmen drangen an ihr Ohr. Die Sprecher befanden sich nicht bei ihr im Raum. Und sie sprachen spanisch.
Dann bemerkte sie, dass sie eine Augenbunde trug und ihre Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Sie konnte ihren MFA nicht erreichen. Auch ihre Knöchel hatte man zusammengebunden. Sie lag auf einer weichen Unterlage und es war nicht kalt.
Tief durchatmend besann sie sich auf Tamiras Unterricht. Erstens: Den eigenen Zustand überprüfen! Hören klappte einwandfrei und wenn man von den Fesseln absah, konnte sie sich bewegen. Offensichtlich war sie unverletzt, nur Kopfschmerzen spürte sie. Das war beruhigend.
Sie atmete erleichtert auf. Im Ertragen von Schmerzen war sie nie gut gewesen und hatte sich als Kind damit reichlich Spott von ihrem Bruder eingehandelt.
Zweitens: In welcher Situation befinde ich mich? Was ist passiert?
Dass sie mit Tamira und La'ith nach Guatemala gekommen war und warum, wusste sie. Auch dass La'ith sich den Spanner hatte vorknöpfen wollen und sie mit ihm gegangen war. Über die schlammige Straße hatten sie sich in Richtung Osten bewegt, an ihrem Auto vorbei. Schweigend, weil sie wegen La'iths Bemerkung noch immer beschämt und verärgert