GUARDIANS - Der Verlust. Caledonia Fan

GUARDIANS - Der Verlust - Caledonia Fan


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in der Mitte. Nach Süden hin war sie in einen steilen Abhang übergegangen, von dessen Kante aus man weit über den Dschungel hinwegsehen konnte. La'ith hatte dort am Rand gestanden … und dann?

      Ja, da war der Filmriss. Was danach kam, fehlte. Auch wie sie hierher gelangt war, wusste sie nicht.

      Wie spät mochte es sein? Wie viel Zeit war vergangen zwischen Blackout und Aufwachen? Wo waren La'ith und Tamira? Auch hier und gefesselt? Sie hatte keine Möglichkeit, es herauszufinden, ohne sich bemerkbar zu machen. Alles, was ihr blieb, war intensiv zu lauschen. Doch außer den Stimmen, die sie vorhin schon gehört hatte, war nichts zu vernehmen. Ob die Freunde ihr GPS-Signal orten konnten?

      "Tamira? La'ith?", flüsterte sie kaum hörbar. "Seid ihr hier?"

      Es kam keine Antwort. Lauter zu sprechen traute sie sich nicht, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Doch nach einer Weile erschien ihr das albern. Irgendwann würde einer kommen und nachschauen, ob sie aufgewacht war.

      "Hallo?", fragte sie lauter und mühte sich, die Worte sicher klingen zu lassen. "Ist jemand da?"

      Die Stimmen verstummten und Schritte wurden hörbar, die näherkamen.

      "Ah, Sie sind wieder wach", ließ sich eine sonore Männer­stimme vernehmen. Ihr Englisch hatte einen ausgeprägten spanischen Akzent. "Als Erstes muss ich Sie warnen: Versuchen Sie nicht, Ihre Gabe bei mir einzusetzen, denn dann müssten wir Sie leider knebeln."

      Tiana erschrak. Woher wusste der Mann von ihrer Gabe?

      "Sie haben lange geschlafen", fuhr er fort. "Ich muss mich für die Unannehmlichkeiten und die mangelhafte Unter­bringung entschuldigen. Doch da Sie sowieso nicht lange unser Gast sein werden, sollten Sie es ertragen können. In zwei Tagen sind Sie wieder in Carmelita."

      In zwei Tagen?

      Plötzlich klopfte ihr das Herz bis zum Hals.

      "Welches Datum haben wir heute?", wollte sie wissen.

      "Den vierzehnten Juni, Señorita Nasavic."

      Er kannte nicht nur ihre Gabe, sondern auch ihren Namen … Eine weitere Alarmglocke schrillte in ihrem Kopf.

      Der Knockout war demzufolge gestern gewesen, am Nachmittag. Und übermorgen sollte sie wieder in Carmelita sein. Drei Tage?

      Zurück nach drei Tagen …

      Die Erkenntnis schlug wie ein Blitz in ihren Verstand ein. Und gleichzeitig sprang die Angst sie an, schiere, würgende Panik. Sie war allem Anschein nach in der Gewalt dieses Irren, der anderen die Fähigkeiten nahm.

      Mühsam beruhigte sie ihre Atmung. Panik hat keine Daseinsberechtigung, zu keiner Zeit, hörte sie Tamiras ruhige Stimme in ihrer Erinnerung, nur wer sich selbst beherrscht, ist in der Lage, die Situation zu beherrschen. Ein weiterer Satz, den sie schon unzählige Male gehört hatte.

      Nie war ihr in den Sinn gekommen, dass Tamiras Leitsätze einmal das Geländer vor dem gähnenden Abgrund ihrer Verzweiflung bilden würden. Schon gar nicht, nachdem sie bei den Guardians ausgestiegen war.

      Noch einmal atmete sie tief durch, dann hatte sie ihre Gemütsverfassung wieder im Griff. Dankbar schickte sie in Gedanken einen Gruß an Tamira in der Hoffnung, dass es ihr gut ging.

      "Wo sind meine Freunde?" Die Frage sollte gelassen klingen und sie hatte den Eindruck, dass ihr das gelungen war. Der dritte Teil begann: das Sammeln von Informationen.

      "Es tut mir leid, ich weiß es nicht. Von Ihrer Begleiterin wollen wir nichts und der Mann wurde beseitigt. Wir können keine Zeugen gebrauchen. Ich nehme an, die Tiere des Dschungels kümmern sich um seine Überreste."

      Das Geländer hielt nicht, was Tamira versprochen hatte. Es brach.

      Tiana verlor den Halt. Stumm schreiend stürzte sie in den Abgrund der Verzweiflung. Der Brustkorb wurde ihr zu eng. Sie meinte, nicht mehr atmen zu können. Wenn sie nicht von der Binde bedeckt gewesen wären, hätten ihre Augen ihr namenloses Entsetzen verraten. Die auf dem Rücken gefesselten Hände mit den in die Handflächen gepressten Fingernägeln konnte der Mann glücklicherweise nicht sehen.

      Es war La'ith, von dem er gesprochen hatte. Gerade war ihr erklärt worden, dass er getötet wurde. Einfach so. 'Beseitigt', als wäre er nichts anderes als ein lästiges Hindernis gewesen.

      Mit eisernem Willen zwang Tiana Luft in ihre Lungen. "Warum ist meine Begleiterin nicht auch hier?" Sie hatte erst gesprochen, als sie ihrer Stimme wieder vertraute.

      "Señora Genera hat eine Gabe, die für la dama Chel von keinerlei Nutzen ist. Die Frau ist deshalb uninteressant."

      Die Antwort war so sachlich, als würde der Kerl eine Weinsorte zum Essen auswählen. Dabei entschied er damit über die Zukunft von Menschen.

      Zorn stieg in ihr hoch, doch gleichzeitig spürte sie eine ungeheure Erleichterung. Wenn sie wirklich in der Gewalt dieses Verbrechers war, dann würde er ihr ihre Erinnerungen nehmen. Die an den Tod von Ahmad und die Ermordung von La'ith. Der Schmerz hätte endlich ein Ende. Sie würde die beiden nicht mehr kennen.

      Und Tamira ging es gut. Sie war nicht behelligt worden, wenn dieser Mensch die Wahrheit sagte. Nur bei dem Gedanken an ihren Bruder überfiel sie Wehmut.

      "Was wollen Sie von mir?", stieß sie hervor, bevor sie Gefahr lief, in Tränen auszubrechen. "Warum halten Sie mich hier fest?"

      Der Mann lachte leise.

      "Lassen wir die Spielchen. Sie wurden schon seit einer Weile observiert. Und seitdem Sie in Flores aus Ihrem schicken Privatjet gestiegen sind, waren Sie faktisch keinen Moment mehr unbeobachtet."

      La'iths Bemerkung über die Person im Wald fiel ihr ein. Er hatte Recht gehabt mit seiner Vermutung. Und auf dem Holzlagerplatz war der perfekte Zeitpunkt gekommen, zuzuschlagen.

      Ob La'ith noch dort war? Nein, der Mann hatte gesagt, die Tiere des Dschungels würden sich um seine Überreste kümmern. Sie hatten ihn irgendwo entsorgt, wie Müll …

      "Wir wissen, warum Sie hergekommen sind", fuhr der Mann fort. "Der Junge wird Ihnen nicht weiterhelfen können. Keiner von denen, die einmal bei uns zu Gast waren, wird es können. Dafür wurde gesorgt. Doch umsonst war Ihre Reise nicht. Sie haben uns quasi einen Dienst damit erwiesen, denn auch Sie stehen auf unserer Liste, ebenso wie Ihr Bruder und noch andere von Ihrer geheimen kleinen Organisation."

      Die letzten Worte jagten ihr einen Schauer über den Rücken. Der Mann wusste von den Guardians und mit Sicherheit auch, wo sich das Hauptquartier befand. Und die Schule ist in Gefahr, erkannte sie mit Schrecken.

      Bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, sprach er weiter. "Zwar war Ihre Ankunft nicht so früh geplant, doch das ist unerheblich. Natürlich werden Sie ebenfalls keine Erinnerung an uns und an diesen Ort haben, wenn Sie nach Carmelita zurückkehren. Aber das wissen Sie ja bereits."

      Er murmelte leise etwas auf Spanisch, dann hörte Tiana eine ebenso gemurmelte Antwort. Sie war also die ganze Zeit nicht mit ihm allein gewesen.

      "Wo bin ich?", stieß sie hervor und bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. An La'ith zu denken war gefährlich, denn dann drohte ihre mühsam aufrecht­erhaltene Beherrschung zusammenzufallen wie ein Kartenhaus.

      "Was nützt es Ihnen, wenn Sie es wissen? Dieser Ort ist gut verborgen, niemand kennt ihn, niemand kann ihn finden."

      Der Mann war kalt wie Eis. Einen Augenblick erwog sie, trotz seiner Warnung ihre Gabe anzuwenden, um ihn zum Reden zu bringen. Doch da war noch jemand im Raum. Und der Kerl hatte Recht: Solange sie zu niemandem Kontakt aufnehmen konnte, war es egal, wo sie sich befand. Sie würde allein klarkommen müssen.

      Mühsam schluckte sie.

      "Und wie geht es jetzt weiter?"

      "Wir warten. Bald ist la dama Chel wach. Alles Weitere wird dann entschieden."

      Schritte entfernten sich und das Klacken von Absätzen hallte im Raum. Sie blieb allein zurück. Aber erst als sie das Geräusch einer sich schließenden Tür hörte, brach


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