GUARDIANS - Der Verlust. Caledonia Fan
besaß zwar ein Telefon, war aber jetzt geschlossen und der Betreiber, der in San Andrés wohnte, längst auf dem Heimweg. Und das Satellitentelefon war verschwunden. Sie konnte keine Hilfe herbeirufen.
Ein Mann bot ihr an, sie mit dem Wagen nach San Andrés zu bringen. Doch sie lehnte ab. Es wäre ihr ein Leichtes, den Toyota kurzzuschließen, aber sie wollte nicht wegfahren, solange sie nicht wusste, was geschehen war. Wenn es sein musste, würde sie die ganze Nacht neben dem Auto stehen bleiben und warten.
Die Aufregung und die abendliche Kühle ließen Tamira zittern, als sie sich bei den Männern für die Hilfe bedankte. Nanita, von ihrem Sohn herbeigeholt, konnte sie schließlich mit energischem Drängen dazu bewegen, wieder in ihr Haus zu kommen. Die Frau war erfreut, etwas tun zu können. Sie legte ihr eine Decke um, machte Wasser für ein Bad heiß und setzte ihr Tee vor.
Während sie sich bemühte, ihr Zittern in den Griff zu bekommen, um wenigstens die Tasse anfassen zu können, überlegte Tamira fieberhaft, was sie tun sollte. Sollte sie doch das Angebot des Mannes annehmen? Nein, selbst für Einheimische war die Straße in der Dunkelheit gefährlich.
Sie stützte die Stirn in die Hände.
Viele Möglichkeiten für unvorhergesehene Zwischenfälle hatten sie vorher durchgesprochen, doch eine, bei der gleich zwei von ihnen einfach spurlos verschwanden, war nicht dabei gewesen.
Verschwanden …
Spurlos verschwunden, wiederholte eine Stimme in ihrem Kopf.
Etwas machte Klick in Tamiras Gedächtnis. Sie riss die Augen auf und starrte auf die blankgescheuerte Platte des Küchentisches. Was, wenn der Stealer bei all dem seine Hände im Spiel hatte? Wenn sie hier von ihm erwartet worden waren? Und wenn man das Telefon gestohlen hatte, damit sie keine Hilfe herbeirufen konnte? La'ith mit seiner Gabe dürfte ein absoluter Glücksgriff für ihn sein. Sollte sich das Ganze etwa als eine ausgeklügelte Falle entpuppen?
Misstrauisch schielte sie zu Señora Vermosa hinüber, die summend an dem einfachen Herd stand und Kartoffeln schälte. Romarus jüngere Brüder spielten in einer Ecke mit einem Kreisel und kicherten jedes Mal, wenn sie zu ihnen hinüberblickte.
Mit einem Schlag fühlte sich Tamira entsetzlich einsam. Die Angst um die beiden Gefährten begann sie zu lähmen. Der Gedanke, dass sie sowohl La'ith als auch Tiana orientierungslos und ohne jegliche Erinnerung an ihr voriges Leben wiederfinden könnten, verursachte ihr Gänsehaut.
Reiß dich zusammen, herrschte sie sich in Gedanken an' es kann alles ganz harmlos sein.
Doch sie vermochte nicht sich selbst etwas vorzumachen. La'ith war nicht zum verabredeten Zeitpunkt dagewesen und auch später nicht gekommen, also war es nicht harmlos. Es war schlimm. Tamira biss die Zähne zusammen. Sie wusste, dass sie in dieser Nacht keinen Schlaf finden würde.
Plötzlich vermisste sie ihre ältere Schwester. Die traumatische Kindheit hatte zwar Spuren bei ihnen beiden hinterlassen, aber durch gemeinsames, eisenhartes Training und strenge Selbstdisziplin hatten sie zusammen den Weg zurück ins Leben und in die Normalität gefunden. Ihre Schwester war schneller gewesen, sie hatte die Ermordung der Eltern besser verkraftet und ihr ganzes Sinnen und Trachten darauf gerichtet, ihr dabei zu helfen.
Nanita Vermosa holte Tamira in die Wirklichkeit zurück, indem sie ihr die Decke von den Schultern nahm, sie an der Hand fasste und über die Hintertür nach draußen führte. Hinter der Hütte war ein schmaler, überdachter Verschlag, in dem eine Badewanne aus Zink stand. Ein bunter Vorhang bildete den einzigen Sichtschutz vor fremden Blicken.
Tamira war das egal. Sie fror sowohl innerlich als auch äußerlich und sie war dankbar für die warmherzige Fürsorge der Frau.
Romarus Mutter tätschelte ihr mitfühlend den Arm und flüsterte ihr beruhigende Worte zu. Tamira nickte, dann verschwand sie mit einem leisen Gracias in dem dampfenden Verschlag und streifte die klatschnassen Shorts und das Shirt ab. Ihre Boots waren voller Schlamm. Langsam stieg sie in das heiße Wasser und seufzte wohlig.
Eine Hand langte unter dem Vorhang hindurch und nahm ihre nassen Kleider weg. Auch die Schuhe verschwanden. Dann hörte Tamira durch das offene Fenster die energische Stimme von Romarus Mutter im Haus. Sie ließ sich tiefer ins Wasser sinken und legte den Nacken auf den harten Rand der Zinkwanne.
Automatisch fielen ihr die Augen zu. Eine Weile döste sie vor sich hin, bis eine tiefe Männerstimme sie aufschreckte. Romarus Mutter erwiderte etwas. Tamira verstand den Wortwechsel nicht, denn das Trommeln des Regens auf dem Wellblechdach übertönte alles.
Jetzt kam Nanita wieder heraus, brachte ein bunt gestreiftes Tuch zum Abtrocknen und murmelte hastig, dass ihr Mann von der Arbeit zurückgekommen sei. Als sie ihm erzählt hatte, was für ein Gast unter ihrem Dach weilte, war er zuerst nicht begeistert gewesen. Fremde im Haus erregten unnötiges Aufsehen im Dorf. Doch die Gebote der Gastfreundschaft waren stärker und er gab nach. Im Anschluss hatte er staunend von seiner Frau gehört, was am Nachmittag geschehen war und schließlich sogar überlegt, ob er mit anderen Männern noch einmal auf die Suche nach den Verschwundenen gehen sollte. Nur der strömende Regen und die Gefahren, die in der Dunkelheit im Dschungel lauerten, hatten ihn davon abgehalten.
Eine Stunde später rollte sich Tamira auf einer Matte auf dem Küchenfußboden zusammen. Die ganze Familie hatte gemeinsam zu Abend gegessen und war danach zu Bett gegangen. Nach und nach verstummten alle Geräusche in dem einzigen Schlafraum der engen Hütte.
Sie lag still und starrte mit brennenden Augen in die Dunkelheit. Irgendwo tropfte Wasser. Wahrscheinlich war das Dach an einer Stelle nicht ganz dicht.
Ein unhörbarer Seufzer entrang sich ihr. Wo mochten La'ith und Tiana sein? Was war ihnen passiert?
Irgendwann musste sie eingeschlafen sein, denn der Schrei eines Tieres im Dschungel ließ sie erschrocken zusammenfahren und den Kopf heben. Mehrere andere Tiere fielen in das Geschrei ein, es war ein fürchterlicher Lärm. Vielleicht hatte ein Jaguar eine Gruppe Brüllaffen beim Schlafen gestört.
Es war noch stockdunkel draußen. Zwischen den Lamellen des Fensterladens ließ sich kein Tageslicht erkennen. Wann würde die Sonne aufgehen?
Seufzend schloss sie die Augen wieder. Der Regen, der auf das Dach trommelte, konnte einen in den Wahnsinn treiben. Sie hatte es nicht für möglich gehalten, dabei einschlafen zu können. Doch die Erschöpfung war stärker gewesen.
Beim Gedanken an den gestrigen Abend wurde sie erneut von Verzweiflung überrollt. Tiana und La'ith waren verschwunden. Wären sie wiederaufgetaucht, hätte man sie mit Sicherheit geweckt. Aber niemand hatte ihren Schlaf gestört.
Zuerst musste sie heute also mit dem Bus nach San Andrés fahren und mit Sadik telefonieren. Er würde wissen, was zu tun war, und vielleicht sogar auf der Stelle herkommen, mit Gaz und dem Polizisten Trajan im Gepäck. Schließlich war Tiana dessen Schwester.
Da lag sie nun, sie, die den Guardians beibrachte, in schwierigen Situationen nicht den Mut zu verlieren, sich auf das Wesentliche zu besinnen und die eigenen Emotionen zu kontrollieren. Er war absurd, aber gerade jetzt schnürte ihr die Angst die Kehle zu. Diese Reise war ihre Idee gewesen, La'ith und Tiana hatten sie begleitet und nun waren sie …
Am liebsten hätte sie ihre eigenen Gedanken ausgesperrt, um diese Stimme im Kopf nicht mehr hören zu müssen. Entschlossen setzte sie sich auf und begann mit den Konzentrationsübungen, mit denen sie immer die Unterrichtsstunden im Mentaltraining eröffnete. Die gewohnten Abläufe und Worte, die sie leise vor sich hinsprach, beruhigten sie und die Panik wich zurück. Es würde alles in Ordnung kommen.
13. Juni 2024, Donnerstag, 21:30 Uhr
Im Dschungel, Guatemala
Das Muli suchte sich trittsicher seinen Pfad auf dem schlammigen Untergrund. Ununterbrochen strömte der Regen, aber Nacho störte das nicht.
Es war am einfachsten, das Tier vorangehen zu lassen, denn es kannte den Weg. Und da es inzwischen stockfinster war, hatte es sowieso keinen Sinn, die Führung zu übernehmen.
Er ärgerte sich, dass so viel Zeit