Der Wald der verlorenen Schatten. Danbi Eo
seiner Stimme. Auch er sagte nichts und konzentrierte sich nur auf mich am Telefon. Die Zeit verging, wir lauschten lediglich dem Atmen, erfühlten die Existenz des anderen am Telefon.
»Schlaf mit mir, nur das.«
Auf meine Worte erwiderte Dongwoo nichts.
»Schlaf mit mir, nur das. Ohne ein Liebespaar zu sein«, sagte ich noch einmal.
»Lass uns endlich Schluss machen, Hyoju.«
»Möchtest du das nicht?«
»Hyoju.«
Dongwoo sprach erneut meinen Namen aus. Seine Stimme klang liebevoll, aber sein Ton war entschieden. Keiner sagte mehr ein Wort. Ich hoffte, dass unser Gespräch weitergehen würde, aber das ging es nicht.
»Dongwoo.«
»Ja?«
»Was habe ich dir gegenüber so falsch gemacht?«
Meine Augen taten mir weh. Ich fürchtete, dass mir gleich Tränen über die Wangen laufen würden, daher hielt ich den Mund offen und bewegte meine Zunge.
»Es hat nur sein Ende gefunden, weil es keine weitere Geschichte mehr zu erzählen gab. Du hast nichts falsch gemacht«, sagte er.
Ich sah so klar und deutlich die Geschichte, die er und ich uns bis in alle Ewigkeit zu erzählen hätten; doch er sagte, dass es keine Geschichte mehr gab, die weitererzählt werden könnte.
»Lass es uns bitte nur einen Monat lang noch mal versuchen.«
»Es tut mir leid«, sagte er, darauf folgte ein langes Seufzen.
Ich biss mir auf die Lippe, meine Finger zitterten entsetzlich. Schließlich beendete ich vor Dongwoo das Telefongespräch. Ich krümmte mich im Liegen. Mein Herz hämmerte. Ich schloss die Augen, konnte jedoch nicht einschlafen. Aufgrund des Alkohols schlug mein Herz mittlerweile noch heftiger und schneller. Das Schlagen war anfangs nur im Herzen zu spüren, irgendwann dehnte es sich bis in den Kopf aus. Auch in meiner Handfläche, in der noch mein Handy lag, spürte ich, wie mein Herz zu hämmern begann. Mein Handy klingelte nicht. Bis zum Tagesanbruch blieb es stumm, und genau deswegen wachte ich ständig auf und schlief schlecht.
Das Vibrieren meines Handys weckte mich. Ich blickte aufs Display, um den Anrufer auszumachen. Es war nicht Dongwoo. Ich atmete einmal tief ein und aus und las noch einmal die Nummer des Anrufers. Sie war mir vollkommen unbekannt. Will vielleicht die Firma, bei der ich gestern ein Vorstellungsgespräch hatte, über mein Nasenbluten hinwegsehen, weil sie dringend eine Buchhalterin braucht? Eine leise Hoffnung keimte in mir auf, und ich nahm den Anruf an.
»Hallo.«
»Hallo.«
Es war ein Mann in ziemlich hohem Alter. Im Hintergrund hörte ich die Stimmen vieler Menschen.
»Ja, was möchten Sie, bitte?«
»Ist das der Anschluss von Frau Hyoju Seo?«
»Ja.«
»Oh, sehr gut. Äh, also Ihre Großmutter mütterlicherseits ist gestern gestorben.«
»Was?«
»Ihre Großmutter ist gestorben.«
Großmutter? Ich verstand nicht, wovon der Mann am Telefon redete. Ich setzte mich auf und fragte ihn: »Wer sind Sie?«
»Ich bin der Gemeindevorsteher hier.«
»Ich glaube, dass Sie falsch verbunden sind.«
»Sind Sie nicht Frau Hyoju Seo? 29 Jahre alt. Ihr Vater heißt Jeonghoon Seo und Ihre Mutter Nanhee Kim.«
»Ja, das stimmt schon, aber …«
»Dann bin ich richtig bei Ihnen. Ich schicke Ihnen jetzt die Anschrift Ihrer Großmutter.«
»Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe keine Großmutter.«
Ich saß am Bettrand und starrte auf den Boden, der sich vor mir bewegte.
»Sie hatten eine Großmutter, davon haben Sie nur nichts gewusst.«
»Hören Sie auf, das ist nicht witzig.« Mein Ton war unfreundlich, streng. Ich war genervt, weil ich sehr schlecht geschlafen hatte, und der Alkohol von letzter Nacht war auch nicht unschuldig daran.
»Glauben Sie, dass ich nichts Besseres zu tun habe? Die Trauerfeier soll bald stattfinden, und dafür braucht man den Haupttrauernden, die Angehörigen«, sagte der Mann, der sich als der Gemeindevorsteher vorgestellt hatte. Er gab nicht nach.
Bis heute wusste ich nicht einmal, dass ich eine Großmutter hatte, und nun wollte man, dass ich die Haupttrauernde auf ihrer Trauerfeier gab. Meine Stimme wurde tiefer, bevor ich mich versah: »Hören Sie mir mal bitte gut zu. Sagen wir mal, dass Sie recht haben und es sich um meine Großmutter handelt. Dennoch habe ich auf keinen Fall vor, für jemanden, den ich nie gesehen habe, die Rolle der Haupttrauernden zu übernehmen.«
Der Mann blieb kurz still. Dann fragte er mich: »Was soll ich dann mit der anderen Sache machen?«
»Womit?«
»Ihre Großmutter hat Ihnen ein Erbe hinterlassen.«
»Was?«
»Ein Erbe, das Erbe meine ich.«
Das Wort »Erbe« drang tief in mein Ohr ein. Ich hielt den Mund, weil ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte.
»Hallo? Sind Sie noch dran?«
»Ja, ich bin noch dran.«
Nicht die Nachricht über den Tod einer Blutsverwandten, von der ich nichts gewusst hatte, sondern das Erbe, das diese Blutsverwandte mir anscheinend hinterlassen hatte, ließ mich am ganzen Körper zusammenschrecken. Aus Angst, dass der Mann am Telefon meine veränderte Einstellung bemerken könnte, hielt ich den Atem an.
»Ich sende Ihnen auf jeden Fall die Adresse. Und das Erbe ist ohnehin eine Angelegenheit, die ich nicht willkürlich regeln kann.« Der Mann klang beleidigt und beendete unverzüglich das Gespräch.
Daraufhin erhielt ich eine SMS mit der besagten Adresse. Ich betrachtete sie lange, nahm eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank und trank sie gierig zur Hälfte leer. Danach fühlte ich mich, als ob mein Kopf etwas klarer würde. Der strenge Soju-Geruch blieb irgendwo weit hinten im Gaumen. Das Fenster stand offen, von draußen hörte ich eine Stimme über einen Lautsprecher, die defekte Geräte wie Waschmaschinen, Computer, Klimaanlagen und Fernseher ankaufen wollte. Langsam dahinrollende Reifen, ein ratternder Motor. Wie die lärmenden Geräusche von draußen dröhnte es auch in meinem Kopf, den allerlei Gedanken durchzogen.
Seit 22 Jahren lebte ich alleine. Ohne jegliche familiäre Unterstützung hatte ich mein Leben gemeistert; ich musste Vorurteile über mich ergehen lassen und auf vieles verzichten. Dafür lernte ich, die Zähne zusammenzubeißen und mich irgendwie durchzuschlagen. Und jetzt wollte man, dass ich die Haupttrauernde auf der Trauerfeier für meine Großmutter spielte, die ich nie kennengelernt hatte. Selbstverständlich hatte ich überhaupt keine Lust, diese Aufgabe zu übernehmen. Ich hatte keine Großmutter, folglich gab es auch keinen Grund, mich für ihre Trauerfeier verantwortlich zu fühlen. Der Tod einer alten Frau, die ich nicht kannte, interessierte mich kein bisschen.
Aber das »Erbe«! Dieses Wort ließ mich am ganzen Körper zusammenzucken, ohne dass ich es kontrollieren konnte. Wie erbärmlich! Anscheinend war der Spruch nicht aus der Luft gegriffen, dass man seinen Stolz sowie alles andere verliert, wenn man zu lange unter Geldnot leidet. Ich kämmte mir mit der Hand durch das Haar, steckte es hinter die Ohren und setzte mich vor den Kühlschrank. Ob Erbe oder nicht, im Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass ich von diesem entsetzlichen Kater befreit wurde.
Plötzlich klopfte es heftig an der Tür. »Frau Seo«, rief eine Frauenstimme nach mir.
Dieses kräftige Klopfen unterbrach auf einen Schlag meine Gedanken, die sich im Kreis zu drehen schienen. Ich hielt