Langsame Entfernung. Gisela Steineckert

Langsame Entfernung - Gisela Steineckert


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darüber, dass die Welt sowieso am Abgrund trudelt. Und dass wir eben nichts machen können. Egal! Du lebst. Was das ist? Nicht genug. Aber du bist einzigartig und mach bitte daraus keine einseitige Forderung an alle andern.

      Leise sein und die Stimme erheben / Wie am Ende / und wieder / Eine Seite vom Ich erleben / Sich zwischen Anfang und Mitte / An vorläufige Enden begeben / Und zwischen Aufschrei, Heulen und Lachen / Das Eigene irgendwie ­machen und leben.

      Einmal nicht wie immer

      Den schönsten Augenblick meines Lebens, an den würde ich mich gern lebhaft erinnern, möchte mich mit mir selber gern auf ihn einigen.

      Der Wunsch ist ein Kind der Nacht. Wenn die Alltagssorge ein grimmiges Haupt erheben will, dann sucht die Seele eine Vorstellung, der man sich getrost aussetzen kann. Manches muss ich nicht versuchen. Wohin ich noch reisen möchte? Nirgendhin.

      Aber ihr hattet doch mal eine Vorstellung von Postschiffen und Fjorden. Damals, als es für euch noch kaum möglich war, dorthin zu reisen. Da hast du doch gelacht und an dein Buch über Skandinavien erinnert, das viele Auflagen hatte, obwohl du nie in Skandinavien gewesen bist.

      Stimmt, das war eine der Geschichten aus der DDR, und sie soll auch dort bleiben.

      Ich wollte doch nie wirklich mit einem Postschiff unterwegs sein und schon gar nicht um die Fjorde fahren. Es war ein Liebesgedanke für den anderen und meine Zustimmung für einen unterstellten Wunsch. Er hat an den damals auch keinen weiteren Gedanken verschwendet.

      Wenn ich reich wäre, wie würde ich dann leben wollen? Wer wird das nicht gefragt? Reiche Leute, aber zu denen gehören wir nicht.

      Welches Haus, welches Auto, welche Landschaft, welche Sicherheiten?

      Sind das Träume? Nicht meine! Unseren Kindern, ­unseren, egal, wer sie gezeugt, wer sie geboren hat, zwei warme Hände voller guter, manchmal sorgfältig über­legter Hilfe, unverzichtbarer Teil unseres Wohlfühlens, die halten wir immer offen.

      Wäre es ein schöner Augenblick des Lebens, nicht mehr für den Unterhalt arbeiten zu müssen, nicht mehr zu prüfen, ob sich von der hohen Kante nicht doch noch was abzweigen lässt, weil es gerade woanders gebraucht wird?

      Bei dieser Frage stellt sich kein Gefühl ein, außer einem leichten Unbehagen. Mehr Bücher, als ich mir jetzt leiste, wenn ich mir als Belohnung etwas Gutes tun will, könnte ich nicht lesen. Ich hätte nicht die Zeit, in der Fülle zu grabschen, statt mit Lust zu wählen.

      Es ist mir egal, mit welchem Auto ich ans Ziel gefahren werde, am liebsten zur Arbeit, die fast immer wohl­tuende Begegnungen mit anderen Menschen bringt. Mein erstes Auto war ein P70, danach fuhr ich mit einem Trabant, das würde ich heute lieber nicht tun, weil er zu wenig Sicherheit bot. Da helfen auch keine hübschen Erinnerungen an solche Erlebnisse, die mit einer Gefahr endeten. Ich habe überlebt, als mich ein übermüdeter Soldat, der die deutlichen Stoppzeichen übersehen hatte, auf der Kreuzung mit seinem Jeep rammte. Es gab im Trabant keine sichernden Gurte, wir mussten uns also überschlagen. Es gab auch keinen Feuerlöscher, das war eigentlich strafbar. Außer, man hatte eine Bescheinigung, dass es derzeit keine zu kaufen gab. Dann kriegte man kein Strafmandat. Gekränkt hat mich nur, dass die Polizei mir eine Strafanzeige gegen den total überforderten jungen Fahrer ­einreden wollte.

      Die Armee wollte, dass ich die Trümmer privat irgendwie nach Berlin befördern solle.

      Nach einem Brief von mir an den zuständigen Minister, in dem mehr Sorge über den Zustand des ­jungen ­Soldaten zu lesen war als über das verlorene Auto, kümmerten sich Kundige tadellos um Beseitigung der ­Trümmer.

      Unter meinen Lieben befinden sich Fußball-Fans und Autofreaks. Ein neues Auto, das ich mir kaum leisten kann, erfreut mich nicht mehr als der endlich wieder gefundene »Zarter«, mit dem man die Eiweiß-Verbindungen im Bratfleisch unterbrechen kann, so dass unsere Koteletts nun auf der Zunge schmelzen, oder das könnten, was auch Quatsch ist und sowieso nicht stimmt.

      Wenn ich koche, bin ich lobsüchtig. Aber Wilhelm war der weitaus bessere Koch und hat uns alle seine kostbaren Rezepte aufgeschrieben. Die nutzen wir bei Karpfen, Gans und köstlicher Gemüsesuppe.

      Mein Leben könnte sich durch mehr Geld nicht verändern. Ich würde in unserer Wohnung bleiben, trotzdem Süßstoff statt Zucker in den Tee tun und freund­liche Menschen gern zum Essen bei uns oder in dieselben Restau­rants einladen, auf deren Koch man sich verlassen kann.

      Meine Klamotten im Schrank könnten gelegentlich durch eine Bluse bereichert werden, aber nötig ist das auch nicht, solange es genügend Teile gibt, die ich lange nicht getragen habe, obwohl sie mir heute besser passen als früher.

      Ich kenne den Burschen Schmalhans und erinnere mich, allein erziehend und allein zuständig, dass er mir sehr nüchtern auf die Beine geholfen hat.

      Wahr ist aber auch, dass ich nie lange auf der Stelle stehen blieb. Unterwegs wuchs die Lust am Weiter­denken. Bis heute? Ja, mit kurzen Unterbrechungen, manche davon sind unverschuldet. Nicht alle!

      Ich weiß es noch

      Es war nie im Schlaf, weil er den nie störte. Es war nie im unpassenden Augenblick, weil er den mehr fürchtete als ich.

      Es war nie mit hungrigem Magen, da kochte er lieber, nachts sogar, im Morgengrauen hatte er eine Idee, und nicht nur für uns, er konnte seine Bereitschaft für spontane Großartigkeit viel später gut gebrauchen. Da lag ich mit der Enkelin in seinem großen Bett, und er nahm nebenan mit meinem kürzeren vorlieb, die langen Beine ein Stück in der Luft, aber ehe er Ruhe fand, öffnete er noch einmal unsere Tür – was für ein überraschend langer Kellner – und es gab eine Nachfrage wegen eventueller Genüsse zur Nacht. Die gab es, und ganz treuherzig meinte das Stimmchen neben mir: »Pommfriets, darauf hätte ich Appetit.« Der Mann ging in die Küche, holte seinen Spezial­topf aus dem Schrank und servierte schließlich einen ­großen Teller mit den gewünschten knusprigen Teilchen, etwa eine Dreiviertelstunde nach der Bestellung. Es blieb kein Krümel übrig. Die beiden waren verbündete Kumpel, und schon als kleines Mädchen stellte sie ihm alle ­besonderen Fragen und holte sich seine Antwort.

      Über manchen Dialog lachen wir bis heute, anderes gehört nun zu unserer Art, miteinander umzugehen. Wahrscheinlich entstehen Bräuche in anderen Familien genauso.

      Es ist mir nie aufgefallen, wie oft ich das sage, wenn jemand von draußen reinkommt, »Atme erst mal aus …«, das sage ich auch zu mir selber, wenn es wieder einmal hastig zugeht – obwohl ich gerade in der Familie die ausgleichende Ruhe liebe und immer möchte, dass sie jeder im Raum findet. Ich lasse keinen seine Schuhe ausziehen, unterstelle nicht, wie es dem Besucher grade geht oder was er von uns will. Das findet sich schon. Ich bin auch keine, die zur Überraschung aller plötzlich den Mantel vom Haken reißt, um auf der Stelle etwas in Gang zu setzen, für das es morgen zu spät wäre.

      Es war nicht alles so einfach wie die Gefühle. Seine Herkunft stand auf einem ganz anderen Blatt als meine, die bis heute nicht einmal klar nachweisbar ist. Das wird sich nun auch nicht mehr ändern.

      Er kam aus einer »Familie«, hoch angesehen. Jedenfalls bis die Nazis kamen. Ich stand dort beim ersten Mal wie in einem fremden Salon, in dem man sich kaum hinzusetzen traut.

      Seine Mutter war ein Engel für die Kinder. Es ist nicht allen gleich gut bekommen. Mancher kam sein Leben lang nicht zu sich selber. Auf Wilhelm traf das nicht zu.

      »Der als dein Mann, der war ein Felsen«, sagen mir Frauen, die sich an dich erinnern. Du, immer neben mir, vor einer Veranstaltung vorher noch die Autos der Frauen umparkend, du mit den aufmerksamen Ohren für die Probleme, vorsichtig ratend, manchmal sehr kräftig empfehlend, sobald von einem egoistischen Ehemann die Rede war. Da waren oft Probleme über Jahrzehnte herangewachsen. Die waren nicht am gleichen Abend zu lösen.

      »Weck ihnen den Gedanken an die Möglichkeit, aber verlange nicht Eile.«

      Du hast ihnen geholfen, und mir auch. Dein Respekt und dein erstaunliches Erinnern, so wie deine unermüd­liche Bereitschaft, Leuten aus der Patsche zu helfen,


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