Langsame Entfernung. Gisela Steineckert

Langsame Entfernung - Gisela Steineckert


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seine Peinigung durch Scham, sorge immer für frisches Obst, übernimm nötige Anrufe, teile sein bevorstehendes Dunkel.

      Wenn er nicht mehr sehen kann, kann er hören. Es gibt heutzutage – ja, als wir uns darum kümmerten, stießen wir auf einen Reichtum an Hörbüchern. Etwas, das ihn interessierte und beschäftigte. Und während es ihn zurückholte in vorher normalen Umgang mit dem ­Alltag, konnte er auch anknüpfen an seine Bildung, denn er wählte aus, er ging um mit den neuen und den alten Schätzen, die er kannte, besser als ich.

      Jede Veränderung hat ihre Oberfläche, aber ob Tiefe oder Untiefe, das ist schon Auswirkung, die sich von der Ursache entfernt.

      Er hat mich nicht allein gelassen damit, sondern überredete mich zum Atemholen, allein an die Ostsee zur ersten Kur meines Lebens. Daraus entstanden lange Gespräche am Telefon, erstaunliche tägliche Briefe, und eine Wiederkehr von Normalität, die für beide heilsam war.

      Wir sagten uns, dass ein Teil unserer Ängste nicht als Diagnose gesehen werden kann, sondern allzu dunkle Ahnung ist, vielleicht sogar falsche Deutung.

      »Das Leben meint es doch eigentlich sehr gut mit uns. Und die Wissenschaft arbeitet Tag und Nacht am Stand ihrer Kenntnisse, aus denen dann alle Möglichkeiten ­erweitert werden.«

      »Du schickst mir tausend Küsse? Ich gebe sie Dir zurück, damit Du sie aufteilst über eine lange Zeit … weit über dieses Jahr hinaus.«

      »Ich bemerke, dass ich mit dir immer über die Zukunft rede. Was sie für uns bereithält, wissen wir so genau nicht.« Sie wollte sich uns als eine Zeit aufzwingen, für die schon eine erhebliche Anzahl von »das geht dann auch nicht mehr« gesichert schien. Einiges haben wir einfach unbeachtet gelassen; anderes nun gerade gemacht, aber es wird seinen Platz einnehmen, ohne dass wir ihn eifrig zum Mittelpunkt erklären. Ich habe Sehnsucht nach dir, das ist ein sehr lebendiges Ziel, das sich nicht woanders hinschicken lässt. Ich geh noch ein paar Schritte ans Meer, dann schreibe ich dir.

      Das vergessene Meer

      da liegt es, von Muscheln gerändert

      atmet schwer

      hat sich nicht verändert

      ertrinken

      versinken

      die Angst pocht nicht mehr wild

      gelassen weiß ich die Gefährdung

      es stört meinen Schlaf kein Bild

      das hier ist nur zu betrachten

      es zieht keine Hand hinab

      wie stark und gewiss wir uns machten

      vor dem heiter gewählten Grab

      Wir sind wie durch Erde verbunden

      im Leben und danach

      für Millionen Stunden

      Ich schreibe auf, was und wie es gewesen ist. Aber eben merke ich, dass beim Aufschreiben auch ein Zeitraum erscheint, in dem Bedrohung und Reichtum der Gedanken und Gefühle sich irgendwie ausglichen. Das blieb nicht so, denn es dauerte mehr als ein Jahrzehnt, mit verfrühten Hoffnungen und auslegbaren Bemerkungen der Fachleute.

      Mehr als ein Jahrzehnt – von der Ahnung über die Wahrnehmung bis zum Ende.

      So widersinnig es scheinen mag: Wir haben es gelebt und blieben bei allem eine sehr lebhafte Familie, in der es Respekt und Liebe gab – und die eine harte Lehre annehmen musste, eine geschichtliche, und jeder mit seinem eigenen Leben und mit der Welt.

      Es kamen Menschen hinzu, die zuerst dienstlich helfen sollten, dann helfen wollten – die Freunde wurden und geblieben sind. Mir sage niemand, dass der Mensch einsam und hilflos sein muss.

      Eine neue Lage

      Ich bin jetzt alt. Manche machen manches anders als ich, also falsch.

      Ich bin alt, ich weiß alles besser: zum Beispiel, was sich lohnt, per Video oder DVD aufgenommen zu werden, wie man etwas vervielfältigt – gab’s ja früher nicht; ich bestücke meinen Geschirrspüler vernünftig und spüle alles vorher ab, denn schon ein Teeblatt kann das Scheißding ausschalten. Ich kann mit Phone, Laptop, Internet, Kopierer und all dem Zeug umgehen. Handynachrichten versende ich nicht und will auch keine Selfies machen oder sehen.

      Wahrscheinlich könnte ich heute nicht mehr in zwei abgeblätterten Emailleschüsseln ohne Fit das Geschirr handhaben, ich kann nicht mehr sticken, stricken, flicken. Vermutlich auch nicht mehr aus zwei Kartoffeln, einer halben Zwiebel und einer halben Bockwurst ein Mahl für zwei Personen zubereiten. Das konnte ich, als ich es musste.

      Wenn ich mich erinnere, besaß ich als Siebzehnjährige drei Kleider, eins immer hässlicher als das andere, auf Punktkarte gekauft.

      In einem davon habe ich mit siebzehn Jahren, als Jungfrau! den falschen Mann geheiratet. Das könnte ich heute auch nicht mehr.

      Ich staune, wie tüchtig ich musikalische Einfälle von einem Band auf meinem Gerät abhöre, das ist mehr als vierzig Jahre alt, kann nur noch, was es für die Arbeit soll. Ein Wunder, und ich kann mir mit Ratschlägen für herrliche Veränderungen die Wände tapezieren. Eines Tages! drohen mir meine Lieben. Ja, dann wird es wohl nicht mehr funktionieren, und ich kaufe mir etwas, das ich weder blindlings bedienen kann, noch wird es mir Töne schicken, zu denen mir sofort apfelblütengleich schöne Wörter einfallen. Mein Gerät humpelt, nimmt nix mehr einfach so auf, aber es ist meins, und nächstes Mal zähle ich für Annalen mal alle Lieder auf, die mit seiner Hilfe entstanden sind. Auch für Dirk, für Vroni, Jürgen oder Maschine.

      Ich vergesse neuerdings vor lauter Fülle auch manches Wichtige.

      Aber eines Tages, wenn ich mal viel Zeit habe, stelle ich mich mit einer Kiepe auf dem Rücken an den Wegrand und murmle meine Weisheiten. Vielleicht verkaufe ich sie auch, früher gab es an der Autobahn Pilze, die ich im Wald nie gefunden hätte. Bist du nicht Freund, hast du nicht Freund. Wer andre bescheißt, sollte hingucken, ob er dabei nicht seine eigenen Hosen anhat.

      Meine Enkelin Laura benutzte zwei Sätze, die hat das Leben als Wahrheiten bestätigt. Der eine lautete:

      »Schön hinsetzen.« Wir sollten den Raum nicht ohne ihr Einverständnis verlassen.

      Das war doch wichtig. Der zweite Satz: »Alles muss so sein wie immer.« Klingt traditionalistisch, aber es ist eine unabdingbare Wahrheit, denn es meint, dass wir uns bleiben müssen, dass wir nie vergessen dürfen, woran wir glauben und was wir eigentlich auf dieser Erde wollen.

      Und: Wer einen andern als Verräter abtut, ohne Genaues zu wissen und nur, weil jemand das gesagt hat, der verrät das Beste: eine Chance. Mehr ist beim vorsichtigen Schritt aus der Ungewissheit vielleicht nicht zu haben. Aber alles ist besser als die Einsamkeit.

      Vielleicht könnte ich noch sagen: Schlag keinen Schwächeren und nie ein Kind. Dafür hält das Leben Strafen bereit, die überlebst du nicht wirklich.

      Und wenn mir nichts mehr einfällt, da am Straßenrand, dann geh ich nach Hause, mit leerer Kiepe, und hoffe, dass ich nicht wieder was falsch gemacht habe. Mit dieser Angst hätte ich früher anfangen sollen.

      Ach, das war ja in der DDR. Wie die war?

      Eines Tages rief der König der Tiere die Affen zu sich. Er sagte: »Ihr müsst aufhören, die ganze Zeit herumzuhampeln und zu klettern. Ich verbiete es euch.«

      Die Affen sagten: »Das geht nicht. Wir müssen hampeln und klettern. Wir haben immer gehampelt und sind immer geklettert. Wir müssen das tun.«

      Der König der Tiere sagte: »Ich verbiete es euch trotzdem.«

      Mal einfach gesagt: So war die DDR, auch so!

      Also: Klettert, hampelt und springt rum. Wenn ihr müsst! Wenn nicht, dann macht, was ihr wollt. Erst mal. Nicht immer!

      Die Liebe und die Lieder

      Die Lieder der Welt sind ein märchenhafter Schatz, aus dem sich


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