Langsame Entfernung. Gisela Steineckert

Langsame Entfernung - Gisela Steineckert


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Lieder sollen Spuren des Alltags in sich haben, auch von fremden Schicksalen. Lieder tragen die Kultur in sich, die im Laufe allen Lebens wächst und allen gehört. Ihr Interpret holt sie aus der Alltagssprache in die schönen Augenblicke auf der Bühne.

      Er muss sich dort hüten vor Tonfolgen und Worten, die er selber nicht lieben kann. Von solchen Versuchen schwillt der Mülleimer der Musikwelt.

      Der Anspruch an den Sänger verlangt, vor allem Lieder zu singen, die sein Publikum gern wieder hören möchte. Warum? Auch, weil sie mit ihrer Art zu leben etwas zu tun haben und, vielleicht auch, weil er nun ihre Erwartung, ihre Sehnsüchte beim Singen ausspricht, der Sänger, und sein Zuhörer darf sich entscheiden, ob er sein Herz auch mit reinhängt oder außen vor bleibt.

      Er muss sein Publikum immer in einer Neugier zurücklassen, auf die er mit neuen Liedern antworten kann. Er sollte es wenigstens versuchen.

      Aber wie muss jemand sein, um so zu singen, so zu erzählen.

      Es scheint ein Geheimes zu wirken, eine Fähigkeit, Leben in ganz unterschiedliche Erfahrung einfließen zu lassen, damit wir Zuhörenden uns daran bereichern und mit dem Herzen antworten können.

      Empfindsamkeit gehört dazu, als wäre die Menschheit eine einzige begehrte Person, ein Kind auf den Armen der Mama, ein Atemzug Geheimnis, ein Respekt vor Ängsten, die mitten in der Nacht aufbrechen zu einem hellsichtigen Moment zwischen Schlaf und Vorsicht.

      Da muss jemand allein und mit anderen lachen können, aber auch manchmal die Hand vor die Augen halten, um weniger vorauszusehen. Welche Bereitschaft, sich erkennen zu lassen, gehört dazu, sich so zu öffnen.

      Da denken wir beim Hören: nun weiß ich, wer du bist – vielleicht!

      Was ich für dich schreibe, gibst du mir zurück – reise­fertig.

      Woraus sich dieser Mensch wirklich zusammensetzt, das weiß ich nicht und werde es nie wissen wollen. Wenn es mir gelingt, und ich etwas schreiben kann, was für den Sänger oder die Sängerin etwas bis dahin nicht Gewusstes ist, wobei sie sich sogar neu entdecken, was die Seele bestärkt und was ehrliches Bekenntnis ist, zu Sehnsucht oder Trauer bei Verlust, das kriege ich zurück. Wenn es so gesungen wird, dass auch ich es glaube; wenn es den Flaum der Erfindung verliert und sich beim Singenden in der Seele und im Gedächtnis niederlässt und mir also weggenommen und geadelt wird als fremder Besitz, dann ist alles gut.

      Einen Anteil an Sachlichkeit und Unerreichbarsein müssen mir die Sänger bieten, damit ich einen Weg suche, sie etwas verkünden zu lassen, was sie selber über sich vorher nicht wussten.

      Sie müssen uns Zuhörer zwingen, wenigstens eine Weile zu denken: Jetzt kenne ich dich. Jetzt weiß ich, wonach du suchst und wofür du lebst. Unter­halb von ­Tränen oder Lachen passiert da bei mir kein neuer Einfall.

      Geh vor mir, wir haben es beide mit der Unvollkommenheit zu tun, aber für den Moment des Schreibens oder der Wiedergabe erlösen wir uns aus der Grenze, die uns eben noch aufgehalten hat.

      Alles, was du nicht in dir aus der Unvollkommenheit holen und also nicht zum Lied machen kannst, das darfst du nicht anrühren, denn mir werden nicht die ­Tränen kommen, wenn du es zum ersten Mal singst.

      So haben wir es verabredet. Und so soll es uns bleiben.

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