Langsame Entfernung. Gisela Steineckert
erste Oper ist, und sie haben über dich gelächelt, und außerdem hast du zwar kein Gesicht gemacht, aber er wollte, dass wir gehen. Hinterher meintest du, dass die Königin der Nacht bloß ihre Tochter wiederhaben will, deswegen ist sie doch kein schlechter Mensch.
Nein, er hat dich nicht zu sehr verwöhnt. Als du ausgerechnet ihn mit der Frage nach der Entstehung des Menschen ausgezeichnet hast, hat er es dir so klug erklärt, dass wir alle was davon hatten. Ja, du hast recht, wir haben gelacht, aber wir waren auch stolz auf die Eleganz und Logik seiner spontanen Darbietung, die dir völlig ausreichte. Zu diesem Thema haben nur du und ich später noch eingehender geredet.
Von diesen und jenen Dingen
die glücklich machen
oder misslingen
nimm deine Finger
dein Herz aus der Last
neben der Leiter
geh einfach drei Schritte weiter
Frei von Liebe
frei von Hass
einander nicht mehr begegnen
wie würde das aussehn – einander segnen
und sich freizusprechen
Man kann eine Liebe nicht leben
wie eine Liebelei
da muss es Maße geben
die machen nie wieder frei
Jeder einzelne Tag
Einfach weiter, das ist leicht gesagt. Wenn ich versuche, den heutigen, einen ganz normalen Wochentag, aufzuteilen in Notwendigkeiten und Entspannung durch einfach mal nicht mitmachen, nicht antworten, nicht zurückrufen, sich bei niemandem bedanken, nicht absagen, umbestellen, den Stift aus der Hand legen, keine Antwort suchen … die Liste ließe sich verlängern. Ein ganz normaler Tag – wie bitte? Aber dieser heutige, ganz normale Donnerstag holt mich aus der Reserve.
Da ist ein Mann gestorben, den ich nicht nur gut leiden konnte. Er war ein sehr guter Lehrer, begabt dafür, leidenschaftlich engagiert.
Wir haben uns öfter aus Anlässen getroffen, ja, etwa wenn eine neue Organisation gegründet wurde, die gefehlt hatte und Leuten nun nützen konnte: Damals, die Gesellschaft für Bürgerrechte und Menschenwürde, die hatte diesen oder einen vom Sinn her gleichen Namen. Den habe ich vergessen, aber nichts von der Arbeit, die uns dort zusammenführte. Mich hatte Wolfgang Harich überredet, und Professor Heinrich Fink war auch dabei.
Heiner Fink, schreibt die Zeitung, lebt nicht mehr. Ich werde diesen Freund, diesen aufrechten Menschen nie vergessen und habe meiner an dieser Stelle zu kritisierenden Zeitung gestern einen Brief geschrieben, weil ich mich gegen die kaltherzige Abfertigung seines Lebens wehre.
Kurze Zeit vor der Inbesitznahme der Humboldt-Universität hingen dort lange Stoffstreifen, beschriftete. Auf denen stand: »Unsern Heiner nimmt uns keiner.« In meiner Zeitung hatte ein einziger Bürger sich über die karge Traueranzeige geäußert. Das ohne Widerspruch zu dulden, wäre ein weiteres Mal Unrecht an einem aufrechten unschuldigen Mann gewesen.
Professor Heinrich Fink habe ich Mitte der Sechziger getroffen. Damals begab sich in Berlin eine unerwartete Kommunikation von jungen Schreibern, Sängern und Musikern, die der ziemlich dürren Atmosphäre etwas Leben einhauchen wollte. Hacks schrieb über den Oktober im siebzehner Jahr, Biermann machte sich gerade an seine damals frechen, aber schönen Lieder, gegen die erst einmal nur Perry Friedman und Manfred Krug etwas hatten. Und Hacks lehnte ab, als Biermann mit ihm die Konterrevolution in der DDR anführen wollte. In jener Zeit, also Mitte der Sechziger, gab es, nicht nur in Berlin, auch in den anderen großen Städten der DDR, ungezählte Zirkel, Klubs und sich gründende musische Gemeinschaften, mit vielen grübelnden Köpfen, noch mehr Vorschlägen, die zu oft nicht verwirklicht werden konnten oder aber durch das Wort von einem, der was zu sagen hatte und an verstopften Ohren vorbei entschied, eben doch als Beispiel ins Leben traten. Denen wurde nachgeeifert. Ich war mit meinen ersten Texten mittendrin und damit war verbunden, dass ich versuchte, auch eine Meinung zu gewinnen unter den vielen, denn eine eigene hatte ich noch nicht.
Eines Tages lud Professor Doktor Fink ein: Er wohnte damals in Weißensee, wenn ich mich recht erinnere, in einem alten großen Haus mit Dachterrasse. Er stellte sie uns zur Verfügung. Eingeladen hat er die junge Sarah Kirsch, den Biermann, Heinz Kahlau, Jens Gerlach, zwei junge Dichterinnen, deren Namen mir entfallen sind, und zwei Jungs mit besonders großer und kritischer Zunge. Fink meinte, wir sollten uns hier mal Zeit nehmen, und wir könnten ruhig laut reden, es wäre niemand im Haus.
Das haben wir getan. Ich weiß nicht mehr, als was ich mich gerade fühlte, lebte damals kurze Zeit mit dem Dichter Heinz Kahlau, dem es nicht an Talent fehlte, aber an jeglicher Toleranz – vor allem dem Gedanken einer Gleichstellung der Geschlechter gegenüber. Ich war Anfängerin, ja. Aber er erklärte mir, wie wenig das besagt, denn es gibt Stunden-Tage-Monatstalente, das sind die einen, und dann gibt es noch solche, wenige, für die Ewigkeit. Ich fragte ihn, wo er mich einstufe, er meinte, so ’ne Viertelstunde am Vormittag … Und dich selber, wie siehst du dich? Er machte eine große Handbewegung: so um ein bis zwei Jahrhunderte rum.
Er hat schöne Liebesgedichte geschrieben. Am Anfang auch für mich. Am Tag auf dem Dachboden haben alle geredet, und wenn auch aus all dem Gesagten am Ende für das Vaterland nichts rausschaute, so kann es doch im einzelnen Streiter oder Vermittler etwas bewirkt haben. Was?
Die Lieder sind geblieben, manche werden bleiben, und es gibt immer einen Sänger, der sie singen kann.
Damals gingen wir eigentlich ziemlich zufrieden davon; manche kurz danach für immer, Kahlau und ich auseinander, andere nach drüben. Wir trafen uns in diesem Kreis nie wieder, aber jeder, auch wir Anfänger, hat weiter gearbeitet und also seinen Teil eingebracht. Wenn ich es mir anschaue, ist es gar nicht so wenig. Die Verse von Kahlau haben auch überlebt, manche als Liebeslieder. Das ist gut so. Ich kann mich nicht besonders an ihn erinnern, an einiges nicht genau. Aber er hat zu mir gesagt: »Ob du von jetzt an Tag und Nacht schreibst oder ich vormittags für ein paar Minuten, da kommt für die Welt dasselbe raus.« Nein, sie waren auch damals nicht alle so, und ich hatte nun, viel später, einen ausgeprägten Einsteher für die Gleichberechtigung der Frauen, manchmal sogar ganz für mich allein in der Wohnung.
Andererseits
Es war nicht, als er mir meine Arbeit und die Abwesenheiten ungerecht vergalt.
Es war nicht, als er unwillig wurde, weil wir einen zu langen Weg geahnt mühselig zurückgelegt hatten – warum eigentlich da? Warum?
Und wieder ließ ich es zu, gekränkt zu werden, statt Wirkung zu suchen, die ich aber auch weit überschätzte. Das mag sein. Aber ich wollte nicht Schmerz bereiten, der mich gepeinigt hätte.
Es war nicht, als wir uns in die Arme nahmen, in gleicher Trauer, wegen der Nachricht, die uns überwältigte.
Aber wir mussten sie nicht aufnehmen, sie war an den Horizont zu schieben, sie war umzudeuten, war zu verdrängen.
Es war so, und es blieb unser Rezept: Liebe verständlich machen, müde gewordene Gefühle neu wecken und erfrischen. Stärken, was nie aufgegeben werden darf. Die Hingabe, die Geduld, Umsicht für alles, was der andere braucht. Und es war Arbeit. Sie bestand aus Verzicht, Zurückstecken, aus Missachtung der eigenen spontanen Wünsche und Ansprüche, aus ständigem Verändern von Geplantem.
Zu viel Verzicht schuf ein Zuwenig an Ruhe, zu wenig Zeit – es ging immer um Aufschub, immer um demnächst.
Ich ließ keinen Vergleich zu, schob die Bilder, die sich einmischen wollten, in die Schublade. So war es aufgehoben als Erinnerung, lag wie im Schrein, zur Bewahrung.
Und ich verbreitete die vorerst tröstende Unwahrheit, man könne das Urteil … Und es käme auf uns an – nein, auf mich.
Also kümmere dich darum, dass er um siebzehn Uhr Ruhe erwarten und die Nachrichten