Langsame Entfernung. Gisela Steineckert
es, wie er auf mich zukam, mich in die Arme nahm, übertrieben dankbar, und als wäre ich auf allen Vieren den ganzen Weg zu ihm gekommen; das war sehr komisch, warum sonst hätten wir so laut und irgendwie unpassend gelacht? Weil er mich da verehrt hat?
Es war in Harrachov, als er unter seinem Regencape hervorkam und auf den Steinen niederkniete, als ich ihm gefolgt war in den Platschregen, in den steilen Aufstieg, und ich sollte doch Tee trinken, lesen, ihn einfach allein gehen lassen.
Aber du hattest beides geahnt: dass ich es bewältige, und dass du am nächsten Tag krank sein würdest. Beides trat ein, deine Erkältung, harter Husten, und die ganze Welt schwarz in schwarz.
Kommt jeden Tag vor und ist einmalig
Er suchte für seine Verbundenheit, die eigentlich Hingabe war, meist Beweise, irgendwelche Belege. Dabei hatte er Einfälle, die das nicht brauchten. Es ging nicht um ein Ziel, zu dem man sich hinquälen musste. Wir hatten alles getan, alles geregelt, alles auf uns genommen, auch amtliche Urteile und unfreundliche Voraussagen, und hatten immer noch uns. Wir waren uns nicht langweilig geworden, einander nicht überdrüssig, wir konnten noch herzlich miteinander lachen, uns schön streiten, uns erinnern …
Es war so: Als wir uns das erste Mal sahen und den Blick viel zu lange hielten, fielen wir unseren damaligen Begleitern auf. Wir hatten uns zwar vorher nie gesehen, und er hatte nur unfreundliche Bemerkungen über mich in die Welt gesetzt, aber die hatten mich erreicht. Nun waren wir beide zur Arbeit erschienen, als Jury bei einem internationalen Liederfestival. Er als Chefredakteur, ich als freischaffende Autorin.
Er kam im Hotel in Begleitung einer schlanken Dame aus dem Fahrstuhl, und das war also der Mann, der mich eine rote Ziege genannt hat, die das Land mit blutigem Dilettantismus überziehen will, mit ihrer überflüssigen Förderung der Singe-Zähne. Er redete, und wir konnten den Blick nicht abwenden. Ich denke, wir haben uns, bei diesem einen Blick, ganz an die anderen Augen verloren. Es war bei ihm so und bei mir auch.
Fünf Monate später, im Juli 1973, mitten in den bunten Vorbereitungen für die Weltfestspiele, waren wir verheiratet. Mit einem Strauß aus dunkelroten Rosen gingen wir zu Fuß von der Schönhauser Allee in die Mitte von Berlin und mischten uns unter die Singenden, Redenden, Tanzenden, mir liefen dauernd die Tränen, vor Freude, und ich musste lachen, mit jedem, der gerade lachte, und wir konnten kaum atmen vor lauter guten Vorsätzen. Und wirklich, ich habe an jenem Abend gehofft, vielleicht sogar geglaubt, dass hier nicht nur Nähe, Freude, sogar eine ewige Liebe entstanden war, sondern dass wir die Weltuhr berührt haben, gerade etwas Schönes in die Zukunft pflanzen, etwas, das Ungutes lähmen könnte.
Es war so, wir waren so, unsere Rocker schon damals mit großen Plänen, es keimte, weit über die Erwartung hinaus würde es auch bei uns im Land zu Veränderungen kommen, also weniger behördliche Kleinlichkeit und Bürokratie, weniger Enge in Herzen und Köpfen.
Niemals habe ich vergessen, wie die Chilenen mit unseren jungen Leuten unter Regenschirmen auf der Erde saßen, Hände drückten, sie waren so viele, so viele Umarmungen, und mit wunderbaren Liedern haben sie die Liebe erwidert, die ihnen so offen gezeigt wurde – und wir waren stolz darauf, sie für ihren Kampf zuhause zu ermutigen. Es war beinahe, als wären wir mit ihnen und Víctor Jara unterwegs. In ein besseres Leben, eins fast ohne Angst, ohne Unterdrückung, ohne Mord.
Später bin ich Víctor Jaras Frau begegnet. Sie war mit den Kindern in Berlin, um in der Volksbühne über ihn zu sprechen. Sie sagte mir, es sei nicht wahr, dass man ihm die Hände zerschlagen habe. Sie hat ihn gesucht, ohne die Kinder, und sie hat ihn gefunden. Sie sagte, sie habe die Kinder aus Chile herausgebracht, und es sei nun ihre Lebensaufgabe, über Víctor zu sprechen, denn er darf nicht vergessen werden.
Wir sprachen nicht näher über das, was in ihrer Stimme auch mitschwang: Er wollte es vorher nicht glauben, er hat trotz aller Erfahrung an Recht und Gerechtigkeit geglaubt – und »ich hatte schon lange Angst«.
Der Augenblick gehörte ganz der Trauer um diesen liebenswerten jungen Künstler, der bei seinem Besuch von den »Oktobris« zu ewiger Freundschaft und Zusammenarbeit aufgenommen wurde, durch seine Nähe eben ein Freund, mit dem zu singen reine Freude war.
Wir gingen nachhause, überladen mit Ahnung, aufgeregt, streitbar, am liebsten hätten wir gleich über alles gesprochen – und sind dann doch in unruhigen Schlaf gefallen, ohne die Rosen versorgt zu haben, ohne in den Medien nach dem Stand der Weltgeschichte zu fragen.
Ich war damals zweiundvierzig Jahre alt, nun zum dritten Mal verheiratet, er war ein Jahr jünger – mit zwei Töchtern zu den meinen, mit anderen Erfahrungen in der Kindheit, also verwöhnt, viel gebildeter, ein Studierter. Wir mussten sehen, wie es gehen könnte. Besser, als wir zunächst dachten. Erst gegen Morgen, mitten in der Hochzeitsnacht, wollten wir uns trennen – grundlos!? Er fing an, seine paar Sachen zu packen und schwieg mich an. Aber dann sprach er es doch aus: Ich hatte beim gemeinsamen Abendessen, der Empfehlung des Kellners folgend, eigenmächtig, ohne Absprache, gebratene Forellen bestellt. Die er später nie zubereitet hat, die er schon immer nicht mochte. Er hatte recht, es war ein Übergriff, aber um das zu denken, musste ich es erst einmal begreifen.
Ohne die Tränen von mir hätten wir in jener Juninacht 43 Jahre unserer Ehe wohl versäumt – zwei Leute, die von sich glaubten, sie seien vorurteilslos. Schöner lehrreicher Anfang.
Wir sind eine Großfamilie
verwandt, verflochten oder befreundet
wir leben mit unseren Erben
auch unverwandt gucken die uns unverwandt an
wiegen wollten wir sie, trösten
ansingen und auf sie hörn
unsere kleinen Erben haben aus uns
eine Großfamilie gemacht
Ich bin bloß die fast Hundertjährige
die durchs Fenster reingeklettert ist
um drinnen ja nichts zu verpassen
Als er nackt am meinem Fenster stand, statt in die Badewanne zu gehen, habe ich ihn wahrscheinlich weniger geliebt als beim Anblick des gedeckten Tisches, wenn er die Familie eingeladen hat. Ich weiß noch alles.
Das Wunder, einen denkenden
kochenden, spöttischen, grantigen
vorsichtigen, übermäßig viel erwartenden
Mann zu lieben
das ist mein Alltag
wie kann ich ihn halten
wenn die Schwäche seine Stärke
überwindet
ich werde bleiben
damit er mich wiederfindet
Wir kennen uns so gut, dass ich fast immer weiß, was er sagen würde. Neulich nachts habe ich ihn gefragt: »Sind es die alten oder ganz neue Probleme, die uns so zu schaffen machen?«
Er sagte: »Es gibt keine neuen, es sind unsere alten Probleme, die feiern Urständ’« – »Und wie haben wir es geschafft, mit denen fertig zu werden?« Er sagte: »Wir haben uns immer entschieden.«
Ja, ich kann mich erinnern. An diese und jene Lösung, aber doch auch Aufschiebung, falsche Ansätze, unnötiges Umdenken … Was sagt die Familie?
Laura sagt, dass er recht hat.
»Als ich geboren wurde, hat er mich auf den Arm genommen und gesagt: ›Du bist unser Kind.‹ War es dann nicht so? Ich bekam sein großes Zimmer mit den dicken Vorhängen und die generelle Erlaubnis, auch nach neun Uhr abends noch Appetit auf frische Pommes zu äußern – und sie zu kriegen.«
Er hat dich aber nicht wirklich verwöhnt. »Nein, nur im Tierpark, mit einer Handvoll Kärtchen für Reiten, Schaukeln, Besichtigungen, Eis und gelegentlicher tapferer Annäherung an gut bewaffnete Tiere, was eigentlich nicht erlaubt war.«
Und beim ersten Mal in der Loge, wo die Königin der Nacht ihre Tochter vom Zauberer wiederhaben