Jakobs Weg. Jörg H. Trauboth

Jakobs Weg - Jörg H. Trauboth


Скачать книгу
es ist hoffnungslos!«

      Dabei blickte er sich in der Cafeteria um. BKA-Chef Mönch war eingetreten und saß etwas weiter im Gespräch. Er zeigte Hunter diskret an, dass er keinen persönlichen Kontakt mit der Besucherin haben wolle.

      »Vielleicht gelingt es dir in deiner Recherche, Hanna, die Leidensfrage der Deutschen zwischen dem Verhältnis von Grundrechten und der Sicherheit von Menschen mit einem neuen Blick zu betrachten, insbesondere, wenn es um die Schwächsten geht, um unsere Kinder.«

      Hanna schwieg. Dann fragte sie unvermittelt. »Wie viel Zeit in der Vorratsdatenspeicherung braucht ihr?«

      »Andere europäische Staaten speichern sechs bis zwölf Monate. Sechs Monate, Hanna, wenigstens einhundertachtzig anlassbezogene Speichertage, und wir hätten viele an der Angel.«

      Als er sie zum Ausgang des Amtes führte, zog er verlegen einen Reiseführer über den Camino Francés aus der Jackentasche.

      »Du willst den nicht wirklich ganz lesen«, meinte er. »Aber denk’ wenigstens an die Wandersocken. Achte auf einen Strumpf mit Fersenlasche, sie verhindert, dass die Socke im Schuh rutscht.«

      Sie gab ihm die Hand.

      »Natürlich werde ich ihn durcharbeiten. Du bist lieb, Joe, danke für diesen Tag.«

      »Wir sehen uns in Saint-Jean-Pied-de-Port, Frau Feldmann.«

       4.

       SÜDLICHES SAUERLAND

       – Dornenkrone –

      Das Video war zu Ende. Der Internatsleiter Dr. Johannes Hartmann saß wie erstarrt vor seinem Notebook. Sein Gesicht war fahl, weniger wegen der anonymen Post, sondern wegen der tödlichen Krankheit. Der Darmkrebs schwächte seinen Körper zunehmend von Monat zu Monat. Die Ärzte hatte ihm prognostiziert, dass er sein Rentenalter in zwei Jahren kaum erreichen dürfte und ihm empfohlen, den Körper in der letzten Phase seines Lebens zu schonen. Der Amtsnachfolger, ein ehrgeiziger Pater aus dem Haus, stand bereits fest, doch Johannes wollte den Platz nicht räumen. Er hatte schon vor Jahren auf eine große Karriere in Rom verzichtet. Das Vorzeigeinternat war sein Lebenswerk. Er war vielfach ausgezeichnet worden, regelmäßig kamen Schüler zum Jahrestreffen und identifizierten sich mit dem Collegium Maria Hilf, das inzwischen sogar Salem den Rang abgelaufen hatte. Sein Haus hatte den Skandal vor zwanzig Jahren erfolgreich durchgestanden. Gott sei Dank hatte er das Projekt ROSE gerade noch rechtzeitig beenden können. Dass es offensichtlich irgendwo im Netz ohne sein Zutun weiterlief, interessierte ihn nicht mehr. Er war nach dem Skandal auf der Hut und hatte seinen pädophilen Neigungen im Internat bei sorgfältig ausgesuchten Schülern individuell und stets im gegenseitigen Einverständnis nachkommen können. Hartmann wusste, dass der einvernehmliche Sex trotzdem als sexueller Kindesmissbrauch galt oder wie es inzwischen hieß sexuelle Gewalt gegen Kinder.

      »Blanker Unsinn«, dachte er. Er unterhielt sogar mit einigen betroffenen Schülern noch eine tiefe Brieffreundschaft, die ihm viel bedeutete, denn sein sexuelles Verlangen fand inzwischen nur noch im Kopf statt.

      Wenn es ein Problem gegeben hatte, dann durch den schmerzlichen Verlust seines herzkranken Hausmeisters Sergey Michailow, der ein Vierteljahr zuvor nach kurzer, schwerer Krankheit in seiner Datscha einem Herztod erlegen war. Sergey war der perfekte Hausmeister und für alle Schüler ein Fels in der Schulbrandung gewesen. Seine russische Seele legte sich wie Balsam über alle Streitigkeiten, wenngleich es schien, dass er in den letzten Jahren zunehmend depressiv geworden war. Das Internat hatte ihn geliebt und entsprechend war auch die Trauerfeier in der Kapelle besucht, die Hartmann seit jenen dunklen Ereignissen nie wieder Raum der Ergebenheit genannt hatte.

      Hartmann löste sich aus seinen Gedanken und sah auf die erpresserische Post mit einem Video von damals. Er erhob sich langsam und spürte zum ersten Mal, dass er wohl nicht mehr die Kraft besaß, eine Wiederauflage der Beschuldigungen durchzustehen. Dabei hätte es ihm gleichgültig sein können, denn eine juristische Wiederaufnahme war angesichts der eindeutigen Rechtslage nicht mehr zu befürchten. Doch darum ging es ihm nicht – sein Lebenswerk war in Gefahr, wer immer als Bedrohung dahinterstand. Es gab einen unsichtbaren Gegner, der ihn auf den letzten Metern zur Strecke bringen wollte.

      Johannes Hartmann verspürte das dringende Bedürfnis, zu seinem Herrn zu sprechen, dem er schon so viel anvertraut hatte, der aber gleichwohl immer seine schützende Hand über ihn gehalten hatte. Johannes griff seinen Gehstock und eilte zur Kapelle.

      Er setzte sich in die erste Reihe, senkte seinen Kopf in beide Hände – und weinte. Dies geschah in den letzten Jahren des Öfteren. Er weinte wie der Apostel Johannes, der das – so die Überlieferung – damit begründete, dass die Brücke zwischen Hölle und Paradies nur mit Tränen überschritten werden könne.

      »Warum, Herr, hast du mir erneut diese schwere Prüfung auferlegt. Ich habe doch von dem Treiben in diesem Raum abgelassen.«

      Sein Herr schwieg.

      »Meine Neigung, mich liebevoll zu Jungen hingezogen zu fühlen, ist ein menschlicher Teil von mir, kein bösartiger, du weißt es. Ist meine Neigung nicht vielmehr Ausdruck meiner Liebe, die mir von dir geschenkt wurde, Herr?«

      Er blickte zum Kreuz auf. Aber so sehr er in sich hineinhorchte, er fand keinen Zugang zum Sohn Gottes.

      »Gib mir wenigstens ein Zeichen, Herr, dass meine Schuld durch die Organisation ROSE gesühnt ist. Ich bereue zutiefst.« Johannes sah Christus flehentlich an, doch er sah nicht mehr als jene vertraute Dornenkrone über dem leidvollen Gesicht. Der Internatsleiter stutzte, blickte genauer. In der Dornenkrone erfasste er ein kleines, schwarzes Etwas. Er vermutete angehäuften Schmutz, denn dort oben wurde praktisch nie geputzt. Vielleicht ein kleines Nest?

      Doch Hartmann war ein Perfektionist und wollte das geklärt wissen. Er ging zum Kreuz und stellte sich auf eine kleine Bank, nun konnte er das Objekt besser einsehen. Er rückte seine Brille zurecht und erkannte eine schwarze Kugel mit einem Loch darin.

      Der Schock fuhr ihm durch alle Glieder. Unwillkürlich hielt er sein Gesicht bedeckt, als wollte er sich vor einer Kameraaufnahme verstecken. Er ließ sich entsetzt auf die Bank gleiten und weinte erneut. Johannes hatte das Gefühl, vom Paradies direkt in die Hölle zu fallen.

      Die Glocke schlug an. Gleich würde der amtierende Pater die Andacht halten.

      Nach wenigen Minuten hatte Hartmann sich wieder gefangen und saß an seinem Schreibtisch. Immer, wenn er ganz tief unten am Boden war, stand er auf und ging in die Offensive. Aber das wurde zunehmend schwerer.

      »Christiane, komm bitte zu mir, schlechte Nachrichten, ganz schlechte Nachrichten.«

      Sie betrat das Büro, las den Text, sah das Video, beugte sich über ihren Bruder und streichelte ihn.

      »Diese Bilder kommen direkt aus der Dornenkrone Christi unten in der Kapelle.«

      Christiane stieß entsetzt hervor: »Du hast eine Kamera gesehen?«

      »Ja, gerade, per Zufall. Ich bat den Herrn um ein Zeichen, und er gab es mir.«

      »Wer will dich hier fertigmachen, Johannes, hast du irgendeine Idee?«

      »Ich bin ratlos, Christiane. Vielleicht ein Schüler, ein Lehrer oder mein designierter Nachfolger. Vielleicht will man mich mit Schande aus dem Amt jagen! Das werde ich nicht zulassen! Ich werde dieses Phantom finden!«

      »Aber wie, Johannes? Wir haben eine Liste der damaligen Schüler und aller Lehrkräfte. Jene Besucher, die du ins Haus geholt hast, sind namentlich nicht bekannt, und selbst deren Tarnnamen sind mit der Löschung von ROSE längst vergessen, hast du mir damals gesagt.«

      »Ja, das stimmt. ROSE starb mit mir als deren damaliger Kopf. Und trotzdem hat jemand Einzelheiten herausgefunden! Wie zum Teufel konnte das geschehen?«

      Christiane antwortete nicht. Sie war für die Verwaltung zuständig, nicht für den damaligen Missbrauch. »Ich hole


Скачать книгу