Jakobs Weg. Jörg H. Trauboth
schaute in seinen Park, in dem die Trauerweiden ihr erstes zartes Grün zeigten und die riesigen Rhododendronbüsche in Weiß und in allen Rottönen blühten. Durch die geöffneten Fenster hörte er das Lied der Amseln und den vertrauten Ruf der Tauben.
Der neue Hausmeister hatte gerade seine Arbeit beendet und winkte ihm zu. Hartmann erwiderte den Gruß eher mechanisch. Er konnte das machtvolle Frühjahr dort draußen, das vielleicht sein letztes war, nicht mehr an sich heranlassen. Christiane kam zurück, gemeinsam gingen sie jeden Namen durch, spekulierten, kreisten ein – und gaben schließlich auf.
»Und nun?«, fragte sie.
»Nun, der Herr will, dass ich der Einladung folge und den Jakobsweg gehe. Ich werde hoffentlich den finden, der etwas von mir will.«
»Sag’ das bitte noch mal!«
»Ich werde pilgern, Christiane!«
»Ich fasse es nicht! Hast du deinen Verstand verloren? Du weißt, dass man dich dort in der Gruppe kennt und du selbst als Verdachtsperson gesehen werden könntest?«
»Das wäre doch unlogisch, Schwester, warum sollte ich mir das eigene Grab schaufeln?«
»Vielleicht, weil du Sühne suchst und so durch die Einladung die Täter zusammenbringst, dasselbe zu tun.«
»Du weißt, dass es nicht stimmt. Ich folge allein dem Ruf des Herrn, auch wenn es all‘ meine Kraft erfordert.«
Christiane Hartmann hatte noch nicht aufgegeben, ihn von dieser absolut verrückten Idee abzubringen. Statt sich einen schönen Lebensabend zu gönnen, verspielte ihr Bruder seine vermutlich letzten Tage. Sie googelte schnell den Weg von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Burgos.
»286 Kilometer, bergauf, bergab. Das willst du dir antun in deiner Verfassung? Weißt du, was körperlich auf dich zukommt?«
»Ja, der Herr wird mir den Weg weisen.«
»Johannes Hartmann, du bist ein Sturkopf. Nun gut. Ich lass‘ meinen Bruder nicht allein gehen, ich komme mit!«
Er hatte es gehofft und sah sie dankbar an.
Sie wandte sich zur Tür.
»Doch gemach, Johannes. Ich hole mir erst einmal den Hausmeister. Er soll die Kamera abbauen und mögliche Spuren verfolgen. Wir gehen durch alle Zimmer und in die Außenbereiche. Vielleicht ist unsere Pilgerwanderung gar nicht mehr notwendig.«
Kopfschüttelnd verließ die energische Frau den Raum.
5.
SCHAUMBURGER LAND
– Zeus –
Gottfried Stein empfing in dem Bunker grundsätzlich keine Besucher. Den ehemaligen Warnamtbunker der höchsten Schutzklasse 9, den er für den Schnäppchenpreis von achttausend Euro im Schaumburger Land erworben hatte, schützte er konsequent vor fremden Blicken, insbesondere, nachdem er auf der untersten der vier Ebenen seine Technik installiert hatte. Piotr Ruskow war die einzige Ausnahme.
Er sah ihn im Monitor vor der Tür stehen. Sie kannten sich seit den Besuchen in Maria Hilf und hatten zwei Gemeinsamkeiten: Harter Sex mit Kindern und mit Kinderpornografie Geld zu verdienen. Das Geschäft im Netz lief trotz aller Rückschläge durch die Polizeiarbeit hervorragend. Stein, der sich im Netz als ZEUS tarnte, hatte im dritten Untergeschoss seines Bunkers einen Vertrauensraum eingerichtet. Dort fanden die Kinder Computerspiele und Süßigkeiten, die allerdings Kokain oder Cannabis enthielten und sie enthemmten. Der Ukrainer Piotr Ruskow war als Bus- und Lastwagenfahrer regelmäßig zwischen Osteuropa und Deutschland unterwegs. Er schaffte ihm die „Ware“ in den Bunker und setzte sie, nachdem er sie meistens selbst im Lastwagen vergewaltigt hatte, anschließend wieder in Berlin aus, wo sie der Schleuserbande zurückgegeben wurden. Doch heute sollte Piotr ohne Ware kommen, und zwar sofort, hatte Stein gesagt, als er von ihm erfuhr, dass Piotr eine merkwürdige Einladung zum Pilgern bekommen hatte.
Gottfried Stein vergewisserte sich, dass Piotr Ruskow allein gekommen war. Die Videoüberwachung zeigte außer seinem kleinen, dicken, bärtigen und wie immer schmuddeligen Freund keine Besonderheiten.
»Uviydit’, komm herein«, sagte er und entsperrte die Sicherheitstür, bei der sich ein Einbrecher auch mit Bohrmaschine und Winkelschleifer vergeblich abgemüht hätte. Er lebte quasi in einem Tresor, der 1959 atombombensicher erbaut worden und für die mehrfache Sprengkraft der Hiroshimabombe ausgelegt worden war.
Die Türen öffneten und schlossen sich auf dem Weg in das zweite Untergeschoss automatisch. Piotr kannte den Weg in die Privaträume des Hausherrn.
Gottfried Stein saß kaum erkennbar im Halbdunkel hinter einem Schreibtisch aus Stein. Er liebte Steine und lebte gern in Mauern. Außenlicht benötigte er nicht in seinem schwarz gestrichenen Bunkerraum, der als einzige Dekoration einen riesigen Flachfernseher aufwies, von einer mannshohen, stählernen Actionfigur abgesehen. Steins Hand bewegte sich zur hohen Tischlampe. Der Schein fiel auf sein blondes, gegeltes Haar, das wie immer perfekt mit einem Linksscheitel gekämmt war. Er trug ein schwarzes Jackett über seinem offenen, weißen Hemd. Seine grazilen, ringlosen Finger glitten zum Goldkettchen um seinen Hals und spielten damit. Nichts an ihm war besonders auffallend oder gar überraschend, außer seiner vollkommen unmännlichen Fistelstimme.
Er erhob sich und umarmte seinen Gast.
»Möchtest du etwas trinken, mein lieber Piotr?«
Natürlich wusste er, dass Piotr Ruskow jetzt einen Wodka pur erwartete.
Die Flasche stand auf der hochglänzend polierten Marmorplatte des Steinschreibtisches bereit, dazu zwei Wodkagläser. Stein füllte beide Gläser einen Daumen breit.
Er trank fast nie Alkohol. Wenn er es wie heute mit Piotr tat, war das eine große Ehre.
Das war nicht uneigennützig, denn Gottfried brauchte Piotr für schmutzige Aufträge, die oft nur mit einem Schlagstock oder Schalldämpfer zu erledigen waren.
»Vitaye moho druha, Prost, mein Freund!«
»Vitaye moho druha, Gottfried!«
Sie leerten das Glas in einem Zug und Stein füllte das Glas seines Gastes unaufgefordert auf. Er selbst stieß mit Wasser an.
»Prost, mein Freund.«
Piotr kannte und verachtete diese Unsitte, aber so war der Chef, voller Prinzipien und mit einem perfekten Doppelleben. Tagsüber war er als gefragter IT-Berater unterwegs, und nachts im Darknet als der geheimnisumwitterte Zeus, der seine atombombensichere Festung als Refugium brauchte, wie er seinen Bus.
Piotr schaute fasziniert auf die Actionfigur. »So einer stand doch auch bei dem Typen in Traben-Trarbach, diesem Johann.«
»So ist es.«
»Was war das für ein Typ, Gottfried? Man hört so einiges.«
»Nun, ohne Zweifel ein genialer IT-Spezialist, so wie ich, aber anders als ich, äußerst leichtsinnig. Er verkaufte seinen Kunden ein Bulletproof-Hoster – so eine Art Festung gegen alles. Tatsächlich ist der Bunker an der Mosel das auch, autarke Energieversorgung, physisch definitiv nicht einnehmbar. Nur ein bisschen zu teuer, monatliche Stromkosten zum Betrieb der Computer und der Kühlanlagen über fünfzehntausend Euro.«
»Die muss man erst einmal verdienen«, meinte Piotr.
»Stimmt, ebenso die Entwicklung der Verschlüsselungs-Apps für Dealer im Deep Web.«
»Das konnte der auch?«
»Nicht nur das! Der clevere Johann entwickelte einen Stealth-Service, eine Art Tarnkappe, die Kunden im Netz unsichtbar werden ließ. Tja, die Geschäfte waren riesig, aber die Gewinne leider mager.«
»So etwas hinzubekommen geht ja wohl nur mit hochbegabten Leuten, oder?«
»In der Tat, er hatte junge, sehr begabte