Jakobs Weg. Jörg H. Trauboth

Jakobs Weg - Jörg H. Trauboth


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vor und organisierte das Catering für die „Gäste“. Nach deren Abreise kümmerte er sich um die Knaben. Der Hausmeister sollte sich blind stellen, aber je mehr er versuchte, die Augen zu verschließen, umso mehr sah er nun, was er längst geahnt aber immer verdrängt hatte. Ihm wurde bewusst, dass er als Mitwisser des grauenhaften Geschehens tiefer und tiefer in den teuflischen Sog hineingezogen wurde. Er verstand nicht viel von den deutschen Gesetzen, aber sein Inneres sagte ihm, dass er sich mitschuldig machte.

      Über die Monate sammelte sich Sergey wieder. Er wog zwischen seinem Vergehen und dem ab, was im Internat vor sich ging. Er fühlte, dass eine Entscheidung anstand. Doch traute er sich nicht, zur Polizei zu gehen – noch nicht. Der Doktor besaß sein schriftliches Geständnis, er wiederum hatte nichts in der Hand. Sergey hatte sich dazu entschlossen, zu handeln. Jetzt. Der Zeitpunkt war gekommen. Er blickte nach oben. Der Pater war vom Fenster verschwunden.

      Dieses Besucherwochenende wird die Wende bringen, für die Jungen und für mich, schwor er sich.

      Als „Facility Manager“, wie es im Arbeitsvertrag stand, war er für den Betrieb der Videotechnik im Internat verantwortlich. Vier Außenkameras, deren Bilder auf einem Monitor in seinem Dienstzimmer aufliefen. Im Gebäude war es ruhig. Die Schüler mit einem Zuhause hatten das Internat bereits am Nachmittag verlassen. Um 19:30 Uhr stand Sergey vor der Tür der Schulkapelle. Er hatte ein Zeitfenster von fünfzehn Minuten. Jetzt durfte nichts schiefgehen.

      Er spürte seinen Herzschlag. Langsam öffnete er die knarrende Tür. Der Raum der Ergebenheit war leer. Er eilte zum Altar. Die Installation der heimlich erworbenen Minikamera in der Dornenkrone Jesus Christi am Kreuz dauerte keine zwei Minuten. Die Berechnung war aufgegangen. Die sechs Jungen waren noch in der letzten Vorbereitung, während die Gäste gerade ihre schlichten Zimmer bezogen, um sich frisch zu machen und umzuziehen. Dort hing auf einem Kleiderbügel die Kutte, auf einem Tisch stand ein Abendessen mit Wein und Bier zur Auswahl bereit. Sergey blickte noch einmal durch den heiligen, leicht nach Weihrauch duftenden Raum, dessen Stille, wie er wusste, sich gleich in ein Martyrium wandeln würde. Er verschloss leise die Tür.

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      Der Internatsleiter, Pater Dr. Hartmann, betrachtete seine Schwester liebevoll. Das einst eher hagere Mädchen hatte sich in den letzten Jahren zu einer kräftigen, vollbusigen Frau entwickelt. Mit ihrem kurzen, schwarzem Haar und ihren grünen Katzenaugen strahlte sie auf ihn Weiblichkeit und Strenge gleichermaßen aus. Er legte zärtlich seine Hand auf ihre Schulter.

      »Hast du alles vorbereiten können, Schwesterherz?«

      »Ja, Johannes, wie immer, deine Gäste sind alle im Haus. Der Rest ist deine Sache, nicht meine.«

      »Wie viele sind wir heute?«

      »Insgesamt zehn, acht Männer und zwei Frauen.«

      »Ich liebe dich dafür, Christiane, dass du mir immer wieder die gesamte Vorbereitung abnimmst.«

      »Du weißt doch, dass du dich auf mich verlassen kannst. So war es, und so soll es bleiben«, sagte seine jüngere Schwester.

      Während sie ihm eine Liste der Teilnehmer mit deren Decknamen auf den Tisch legte, sah er sie an. Ohne seine vertraute Schwester wäre all das hier gar nicht möglich. Zu dem geheimen Treiben im Internat stellte sie nie eine Frage. Sie hatte dafür gesorgt, dass sich die Gäste untereinander nicht kannten und einzeln nach einem festen Zeitplan im Fünfzehn-Minuten-Takt eintrafen. Sie hatte dafür Sorge getragen, dass die Fremden in einem Häuschen am Parkplatz die durch den Hausmeister bereitgestellten Masken und Zimmerschlüssel entnehmen konnten. Alle Gäste wussten, dass sie bereits maskiert das ehemalige Kloster zu betreten hatten, dessen Infrastruktur den meisten längst bekannt war.

      Was im Raum der Ergebenheit wirklich geschah, interessierte Christiane überhaupt nicht. Sie hielt ihm den Rücken frei. Wenn das Internat von der Kirche überprüft wurde, fand die Kommission regelmäßig eine Musteranstalt vor, in der die Jugendlichen zeitgemäß erzogen wurden und in Interviews eine große Zufriedenheit und Identität mit dem Collegium Maria Hilf zeigten. Seine Exzellenz, der Erzbischof von Köln, hatte sich davon persönlich einen Eindruck machen können, indem er am Ende der Visite eine Chorprobe in der wunderschönen, schlichten Internatskapelle verfolgte, bevor er sich vor dem gekreuzigten Christus verneigte und den Rahmen des Marienbildes Mariahilf von Lucas Cranach dem Älteren küsste. Seine Exzellenz drehte sich abschließend zum Knabenchor um, bedankte sich mit Segenswünschen und verließ mit einem hervorragenden Eindruck die Kapelle.

      Pater Hartmann schaute aus einem Bürofenster in die lange Einfahrt. Sergey hatte den Befehl zu verschwinden befolgt. Er war sehr zufrieden mit ihm – und mit sich. Führen durch Herrschen mit harter Hand, das war seine Devise, auch wenn in der Internatsbroschüre geradezu das Gegenteil stand:

      Die uns anvertrauten Jungen werden mit Herz, Vernunft, Geborgenheit und Güte zu selbstbewussten, starken Persönlichkeiten erzogen.

      »Du musst dich umziehen, Johannes!« Sie sah, wie ihr Bruder sich das Pilgergewand überzog und mit machtbewusstem Gang zur Tür schritt. Als er sich mit einer schnellen Wende zu ihr umdrehte, erschrak sie – wie jedes Mal bei diesem Ereignis. Sie schaute auf eine weiße Maske, die sein Gesicht unter der Kapuze vollkommen abdeckte. Nur seine blitzenden Augen waren zu sehen. Der Maskenmund war zu einem eingefrorenen Lächeln geformt.

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      Sergey hörte in seinem Zimmer Stimmen auf dem Gang. Er lauschte … die Gäste schritten zur Kapelle. Er aktivierte die App, doch das Bild zur Kapelle baute sich nicht auf. Hastig drückte er die Knöpfe an der Internetbox. Nichts, das Handy blieb schwarz.

      Keine Verbindung.

      Reset am Router.

      Warten.

      Kein Bild.

      Für einen Moment fürchtete er, dass die Kamera entdeckt und entfernt worden war.

      Sein Kopf lief rot an. Er zog den Netzstecker und startete den Router neu. Nach einer gefühlten Ewigkeit flackerte ein Bild. Endlich. Es blieb stabil.

      Er drückte den Aufnahmeknopf und ließ sich erleichtert in den Stuhl zurückfallen.

      Im Raum der Ergebenheit standen aufgereiht sechs nackte Internatsschüler. Sergey kannte jeden einzelnen. Guido, Wolfram, Jan, Lutz, Elias und Jakob. Er hörte sie leise miteinander sprechen, die Tonübertragung war erstaunlich gut.

      Guido sagte zu Wolfram: »Hoffentlich sind die Wichser bald da.«

      »Wenn es die gleichen sind wie letztes Mal, können wir von Glück sprechen«, antwortete der.

      »Irgendwann reiße ich einem die Maske vom Kopf«, meinte Lutz laut. »Was glaubt ihr, was dann passiert?«

      »Nicht dir, sondern uns allen«, sagte Jan erschrocken. »Zum Beispiel Tod durch Ertrinken in der Bigge.«

      »Deine Mutter hätte dir wirklich Schwimmen beibringen sollen, Jan«, meinte Elias unter dem gespielten Lachen der anderen.

      Während sie offensichtlich so die anstehende Pein zu überbrücken versuchten, konzentrierte sich Sergey immer wieder auf Jakob, der ihm nahestand wie sein eigener Sohn. Jakob war wie die anderen Auserwählten im Raum auf sich allein gestellt. Ihre einzigen erwachsenen Bezugspersonen waren die Erzieher des Internates.

      Sergey zoomte über die App in die Gruppe der sechs Opfer und sah jetzt deutlich Jakobs Verzweiflung. Als Einziger bedeckte er seine Scham. Er zitterte am ganzen Körper, obwohl der Raum gut geheizt war. Sergey schüttelte entsetzt den Kopf. Er hatte viel gehört, doch nun sah er die demütigende Handlung live, den Beginn, wie ihm vollkommen klar war, einer furchtbaren, widerwärtigen Handlung. Was mochte in den Köpfen dieser nackten Jungen vor sich gehen?

      Sergey wusste bereits aus Gesprächen, was bis zu dieser Aufstellungsphase geschehen war. Die Vorbereitung lief nach einem festen Programm. Die Delinquenten nannten es Vorbereitungsfolter.

      Zwei


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