Jakobs Weg. Jörg H. Trauboth

Jakobs Weg - Jörg H. Trauboth


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des Innenministers, dass man offensichtlich erst die Spitze eines Eisberges berührt habe.

      Hanna lehnte sich zurück, legte ihre Hände unter das lange, schwarze Haar in den Nacken, schloss die Augen und überdachte ihre Story. Als ausgebildete Psychologin fand sie die Erklärungen dafür, warum Menschen sich durch Wegschauen zu schützen versuchten und geradezu erleichtert waren, wenn ein anderer Missbrauch in einem anderen Ort bekannt wurde. In diesem Fall im knapp 300 Kilometer entfernten Bergisch Gladbach.

      Dort – so hörte Hanna im Gerichtssaal – hatte sich ein Berufssoldat an seiner leiblichen Tochter, seinem Stiefsohn und seiner dreijährigen Nichte sexuell vergangen. Als den Richtern bekannt wurde, dass auch hier ein Netzwerk mit allein zwanzig Beschuldigten aus Nordrhein-Westfalen aktiv war, in dem 85 Terrabyte Datenmaterial sichergestellt wurde und nach ersten Ermittlungen dreißig Jungen und Mädchen missbraucht worden waren, fühlten sich einige in Lügde nicht mehr ganz so schlimm berührt, andere geradezu erleichtert, so war Hannas Eindruck.

      Sie schrieb über den dicken Sockel eines Eisberges, der sich durch das ganze Land zog. Über Täter, die immer raffinierter und deutschlandweit in jährlich über fünfzehntausend Fällen Kinder missbrauchten. Das Dunkelfeld sei laut Behörden unbekannt, aber um ein Vielfaches höher. Die WHO schätzte die Zahl der Fälle in Deutschland auf eine Million pro Jahr. Hanna erkannte schnell, dass sie nicht in einem typisch deutschen Verbrechen recherchierte, sondern in einem internationalen. Sie konnte es kaum fassen, dass in den USA Internetfirmen in nur einem Jahr 45 Millionen Bilder und Videos meldeten, auf denen zu sehen war, wie Kinder missbraucht wurden.

      Die Redakteurin zitierte den Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum in Ulm, dass „Missbrauch die Dimension einer Volkskrankheit“ erreicht habe. Sie schrieb, dass hinter diesen Zahlen Generationen von Opfern standen, deren stummes Leid auch nicht ansatzweise erfasst werden konnte, und von Opfern, die bereits als Kinder oder im Erwachsenenalter zu Tätern wurden.

      Während die Staatsanwaltschaft zu oft die Verfahren wegen Verjährung einstellte, schrieb Hanna über den Mord an der Seele und folglich von dem Erfordernis, dass auch dieser Mord nie verjähren dürfe. So sollte auch ihre Titelstory lauten: Mord an der Seele. In der Redaktion hatten sie lange darüber diskutiert, ob man diese Bezeichnung angesichts der möglichen fatalen Wirkung auf Missbrauchsopfer überhaupt wählen dürfte. Welches Opfer möchte hören, dass die eigene Seele ermordet wurde?

      Die Abstimmung für den spektakulären Titel ergab ein klares „Ja“. Man hoffte, dass Betroffene ihn als Wachrütteln der Öffentlichkeit verstehen würden.

      Aber der Journalistin fehlte noch der Aufhänger. Etwas Spektakuläres. Sonst würde es schwer werden, das Material als Titelstory durchzubekommen. Es bräuchte eine Nachricht von Sprengkraft, mit der sie der Polizei möglichst voraus war. Etwas Exklusives, das die Stärke des größten deutschen Nachrichtenmagazins einmal ausgemacht hatte. Doch die Zeiten des Exklusiv-Status waren auch im Nachrichtenmagazin nahezu vorbei.

      »Weitere Post für Sie, Frau Dohn.«

      Hanna sah auf den jungen Kollegen, offensichtlich ein Volontär und dann auf die Anschrift:

      Frau Hanna Dohn

      PERSÖNLICH

      Kein Absender. Natürlich nicht.

      Hannas Herz klopfte plötzlich laut. Das war also die Sendung, die ihr gestern ein anonymer Absender mit einem Passwort angekündigt hatte! Der Absender hatte dafür eine E-Mail an die Investigativ-Adresse des Nachrichtenmagazins geschickt, die professionell mit einer Pretty Good Privacy (PGP)-Adresse verschlüsselt worden war. Passwort und ein Umschlag in zwei getrennten Sendungen, professionell adressiert, das klang vielversprechend.

      »Mein Chef bietet an, dass wir die Post für Sie öffnen«, sagte der junge Mann.

      Hanna prüfte den Briefumschlag. Der Poststempel ließ ad hoc keinen Aufgabeort erkennen, der Umschlag erschien ihr unauffällig. Da gab es zwar eine Verdickung in der Mitte, aber keinen Draht, keine Flecken, kein Loch oder irgendetwas, das auf eine Briefbombe hinwies. Diesbezüglich konnte sie sich auf die postalische Vorprüfung im Haus verlassen.

      »Alles okay«, meinte sie dankend. »Ich warte bereits sehnlichst auf diesen Brief.«

      Der Volontär sah sie sorgenvoll an, bevor er den Raum verließ.

      Sie klappte ihr Schweizer Messer auf, das ihr Kurt drei Jahre zuvor mit seinem eingravierten Namen überlassen hatte, bevor er als Kriegsreporter in die Welt entschwand, sie mit ihrer gemeinsamen, mittlerweile sechzehnjährigen Tochter allein ließ, und von dem sie hörte, dass sein Alkoholproblem eher schlimmer geworden sei.

      Sie zog sich Einweghandschuhe an, um mögliche Spuren nicht zu verwischen, setzte vorsichtig das Messer an die obere Kante des Umschlages, schnitt behutsam auf und zog ihn vorsichtig auseinander. Zwischen zwei zusammengelegten Pappstreifen sah sie einen USB-Stick. Sie musste sich eingestehen, dass sie nun doch erleichtert war. In ihrem Geschäft war sie auf alles gefasst, einschließlich auf bioterroristische Anschläge mit Substanzen wie Anthrax.

      Sie verschloss die Tür, steckte den Stick in ihren privaten Computer und gab das in der E-Mail übermittelte Passwort Maria Hilf ein.

      Schon als sie am Vortag die vorbereitende E-Mail gelesen hatte, fiel ihr jener Missbrauchsfall ein, an dem sie damals als junge Journalistin und noch mitten im Psychologie-Studium hatte mitarbeiten dürfen. Es war auch das erste Mal gewesen, dass ihr Name im Bericht als Mitautorin genannt worden war. Sie erinnerte sich, dass der Fall im Sauerland durch den Suizid eines jungen Schülers ins Rollen gebracht worden war. Die Polizei fand nach und nach Hinweise zu einem organisierten Missbrauch, der mindestens einige Jahre währte. Dann verloren sich die vagen Spuren. Offensichtlich waren die Täter abgetaucht oder, was viel wahrscheinlicher war, sie hatten sich neu organisiert.

      Die Vernehmungen von Lehrern und Erziehern und auch die Befragung von Internatsschülern führten ins Leere, über dem katholischen Internat Maria Hilf hing eine einzige Glocke des Schweigens. Von dem befreundeten BKA-Beamten, Joe Jaeger, dort wegen seiner vielen Ermittlungserfolge auch Hunter genannt, wusste Hanna, dass die Verbindungen der Organisation ROSE, wie sie sich nannte, bis ins Ausland reichten und dass die damals noch amateurhafte Spurensuche keinen Treffer ergeben hatte. Auch Hannas Recherchen in der Umgebung des Internats waren erfolglos geblieben.

      Aber Hanna und Hunter blieben fest davon überzeugt, dass sie in einem brisanten Fall recherchiert hatten, zumal am Bauch des Suizidenten Spuren von Sperma gefunden worden waren.

      Hanna hatte sich sofort nach Erhalt der E-Mail bei dem Kollegen in der Rechtsabteilung informiert. Sie brauchte juristische Klarheit, wollte vorbereitet sein, denn es konnte alles sehr schnell gehen. Der Kollege hatte ihr nach einem Blick ins Strafgesetzbuch bestätigt: „Bei Straftaten, die vor dem 30.6.1994 begangen wurden, begann die Verjährung bei Beendigung der Tat, die Verjährung betrug damals zehn Jahre. Seitdem wurde eine Hemmung der Verjährung sukzessive bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers eingeführt. Leider sind viele Altfälle bereits verjährt. Je weiter der Fall zurückliegt, umso komplexer wird die Rechtslage. Es kann durchaus sein, dass in Ihrem Fall das sogenannte Tatzeitrecht gilt und der Missbrauch noch unter eine zehnjährige Verjährungsfrist fällt. Dann hat der Täter nach relativ kurzer Zeit nichts mehr zu befürchten.“

      Hanna war sich fast sicher gewesen, dass der anonyme Informant aus der Verjährungsfrist herausgefallen war, sonst hätte er den Fall zur Anzeige gebracht und nicht das Nachrichtenmagazin informiert.

      Sie hatte den Kollegen noch nach dem Strafmaß bei sexuellem Kindesmissbrauch gefragt. »Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Frau Dohn, wir sprechen neuerdings von sexualisierter Gewalt gegen Kinder, nicht mehr von Kindesmissbrauch

      »Warum das?«

      »Damit soll das Unrecht der Taten schon in der Definition klar beschrieben werden. Der Gesetzgeber wollte in der Begrifflichkeit weg von Kindern als Gebrauchsgegenstand.«

      »Das macht in der Tat Sinn«, meinte Hanna. »Sprache schafft Bewusstsein. Und wie steht es nun mit der Bestrafung?«

      »Die


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