Jakobs Weg. Jörg H. Trauboth

Jakobs Weg - Jörg H. Trauboth


Скачать книгу
gemeinsamen Duschen gezielt ihre Genitalien. Wenn sie sich abwandten oder vor Schmerz aufschrien, wurden sie als minderwertige Nichtsnutze beschimpft, die es nicht wert seien, im Collegium Maria Hilf zu lernen.

      Diese Vorbereitungsfolter war auch für den Hausmeister Sergey die Hölle. Wie die Delinquenten sehnte er den dritten Tag herbei, an dem ein Erzieher auftrat und die Jungen achtsam mit Öl und warmen Tüchern pflegte. Sie erhielten Essen im Überfluss und empfanden nur noch Dankbarkeit, denn sie wussten, dass das Schlimmste überstanden war. Was jetzt kam, war auszuhalten, so hofften sie jedes Mal erneut.

      Aus dem Glockenstuhl des ehrwürdigen Internats schlug es acht Mal. Sergey sah, wie die Körper der Jungen verkrampften und im Raum der Ergebenheit plötzlich klassische Musik ertönte. Er kannte diese Musik bereits von anderen Festen, es war das Lieblingsstück des Internatsleiters – das berühmte Klarinettenkonzert von Mozart.

      Die sechs aufgereihten Jungen warteten. Sie hatten jetzt die Arme um die Schultern des Nachbarn gelegt, standen dort wie eine Mannschaft und waren doch jeder für sich entsetzlich allein. Sergey sah, wie Jakob sich an Elias klammerte, der dieses aber abwehrte. Elias brauchte, so schien es, seine Kraft für sich allein.

      Die hölzerne Seitentür der Kapelle im Altarbereich öffnete sich. Nach und nach traten zehn maskierte Personen im schwarzen Pilgergewand ein und reihten sich auf. Die sechs Internatsschüler ließen voneinander ab, starrten auf die maskierten Fratzen, deren verfestigtes Lächeln sie bis ins Mark verängstigte, obwohl sie diesen Ku-Klux-Klan-Anblick kannten. Der Hausmeister wusste, dass in diesem Augenblick das Trauma vom letzten Durchgang und all denen davor erneut aufbrach.

      Er faltete seine Hände: »Heilige Maria. Bitte lass‘ es schnell vorübergehen … lasse die sechs nicht so sehr leiden … ich schwöre dir bei meiner Mutter, dass ich dieses Leid beenden werde … gib mir die Kraft dazu …«

      Gefühllos erfasste die Kamera den Raum der Ergebenheit, in dem Lucifer selbst das Ritual übernommen hatte und dabei Mozart dirigierte. Einer der Maskierten trat aus der Reihe hervor. In den Gesichtern der Opfer stand diese eine Frage geschrieben: Wer ist es, wen wird er wählen?

      Sie standen sich schweigend gegenüber, der nun vorgetretene Peiniger mit dem Rücken zum Altar, die sechs nackten Jungen mit ihren knabenhaften Körpern. Der Peiniger ließ langsam sein Pilgergewand fallen und erhob die Arme wie zu einem Segen. Sergey sah durch die Kamera in der Dornenkrone Jesus Christi auf einen kleinen, kräftigen Männerkörper mit breiten Fettpolstern auf den Hüften.

      An den aufgerissenen Augen der Jungen erkannte er, dass sie plötzlich entsetzliche Angst bekamen. Es würde wehtun, furchtbar wehtun.

      Die Klarinetten setzten voll ein. Der nackte Fremde ließ die Arme sinken, der Zeigefinger der rechten ausgestreckten Hand fuhr wie ein Laserstrahl durch die Reihe, von links nach rechts und wieder zurück. Sergey sah, wie die Jungen bei jedem kurzen Stopp zusammenzuckten.

      Der Finger blieb an einem Körper hängen. Jakob erstarrte – und mit ihm Sergey.

      Die anderen fünf Jungen wichen zurück. Sergey wusste, dass sie für diesen Durchgang erlöst waren, denn die Entscheidung des Nackten galt für sie zugleich als Zeichen, den Raum rückwärts und in demütig gebeugter Haltung zu verlassen und sich auf ihren Einsatz vorzubereiten. Eine Begegnung einzeln, zu zweit oder in der ganzen Gruppe, so wie die Regie des Teufels es wollte.

      Sergey zoomte auf den vorgetretenen Mann. Er erkannte auf dem nackten Rücken des Maskierten eine große, tätowierte Rose. Auch die anderen neun Maskierten ließen ihre Gewänder fallen, auch sie waren mit einer Rose tätowiert. Jakob trat schwankend nach vorn und kniete sich vor seinen Peiniger. Er blickte mit gefalteten Händen über den maskierten Mann hinweg direkt auf das Kreuz. Sergey wich zurück. Sein Instinkt sagte ihm: „Du musst da hinein, Jakob erlösen!“ Sergey zitterte am ganzen Körper, warf sich auf sein Bett und hielt sich die Ohren zu. Doch es nutzte nichts. Er hörte durch das Kissen Jakobs stumme Schreie und die lauten der Peiniger, die sich offensichtlich bei den sexuellen Handlungen ablösten.

      Die Tortur wollte kein Ende nehmen.

       Wann um Himmels willen hört das auf?

      Sergey wälzte sich hin und her.

      Plötzlich Ruhe. Die Musik war verstummt.

      Sergey hob den Kopf, schärfte seine Wahrnehmung. Da war nichts mehr, nicht ein einziger Laut. Er schlich sich langsam aus dem Bett zum Handy und sah, wie einer der Peiniger den auf dem Bauch liegenden Jakob heftig und unbarmherzig an den Schultern rüttelte.

      »Steh auf, du Mistkerl! Was glaubst du, warum wir diesen langen Weg hergekommen sind!«, brüllte er mit einem leicht russischen Akzent.

      Jakob rührte sich nicht.

      Sergey sprang entsetzt auf. Er fürchtete, Jakob sei tot. Sein Jakob.

      Einer aus der Gruppe beugte sich tiefer und ertastete Jakobs Halsschlagader. Er schien sich nicht sicher zu sein.

      »Du verdammter Simulant!«, schrie der mit dem russischen Akzent durch die raumerfüllende Musik. »Du taugst nichts mehr, weg mit dir … für immer!«

      Ein anderer versuchte, ihn von Jakob wegzuziehen. Aber der Wütende war nicht zu stoppen. Er trat mit voller Wucht in Jakobs Unterleib, der bäumte sich mit einem markerschütternden Schrei auf, brach zusammen, raffte sich wieder auf und floh taumelnd zur Tür. Doch nicht zur befohlenen Eingangstür, sondern zu der gegenüberliegenden, die direkt zu der Terrasse führte.

      Sergey eilte in vier großen Sätzen zu seinem Fenster, von dem aus er die Terrasse einsehen konnte. Er sah voller Entsetzen, wie der nackte Jakob sich schwankend der Mauer näherte, sie erkletterte, das Geländer überwand und in das tief unter ihm liegende dunkle Wasser starrte.

      Dann beugte sich sein Körper langsam nach vorn.

       2.

       HAMBURG – ZWANZIG JAHRE SPÄTER

       – Die Einladung –

      Hanna Dohn eilte an diesem Montag schon um 07:30 Uhr in ihr Büro. Es würde eine hektische Woche für die langjährige Investigativ-Journalistin werden. Sie hatte mit einem Team zu den spektakulären Fällen sexualisierter Gewalt gegen Kinder in Lügde, Bergisch Gladbach und Münster eine überzeugende Story produziert, die die Redaktion des Nachrichtenmagazins bewogen hatte, den sexuellen Missbrauch von Kindern als Titelstory zu bringen. Dabei hatte sie besonderen Wert auf die psychologischen Hintergründe der Fälle gelegt.

      Sie legte ihren Mantel ab und ging zum Schreibtisch. Wie konnte es möglich sein, dass in Lügde über zehn Jahre scheinbar unbemerkt von der lokalen Öffentlichkeit diese entsetzlichen Vergehen an Kindern stattfanden?

      »Natürlich gab es Mitwisser«, dachte sie, als sie hinaus auf das Elbufer blickte.

      »Was geschah wirklich im Polizeiapparat, in dem Ermittlungen verschleppt wurden und wichtiges Beweismaterial verschwand, obwohl eine Job-Center-Mitarbeiterin das Jugendamt schon zwei Jahre zuvor alarmiert hatte? … Warum duckte sich die Bevölkerung überwiegend weg, als die unbegreiflichen Vorgänge auf ihrem Campingplatz sowie die Produktion und Verbreitung von Kinderpornografie allen offenbar wurde?«

      Hanna hatte im Artikel die Frage gestellt, was in Menschen vorging, wenn sie sich wie in einer Pandemie eine Gesichtsmaske überzogen, um sich gegen das Virus der Wahrheit zu schützen. Doch Lügde war nur ein kleiner „Hotspot“ für das Virus. Hanna musste erkennen, dass das Virus Missbrauch im ganzen Land zu Hause war, leise und unbemerkt von der Öffentlichkeit. Über eintausend Einzeltaten, begangen an Kindern von vier bis dreizehn Jahren, organisiert im Internet und durchgeführt von nur wenigen Menschen, deren Beziehungsgeflecht aus der Hölle jenes Wohnwagens bis in unzählige Haushalte der Republik hineinreichte. Ein idyllischer, westfälischer Ort, in dem unschuldige Menschen lebten, war durchwoben von Tätern und Mitwissern, wie es durch ihre Recherchen nach und nach ans Licht kam.

      Über


Скачать книгу