Anatomie der Katze. Poul Vad
Verzweigungen des schleimigen Dunkels. Schließlich gaben sie nacheinander auf und legten sich überall zum Sterben nieder, eingesperrt in einen Wahnsinn, der vielleicht irgendwie die Grausamkeit des Endes milderte.
Anfangs waren die Ratten völlig von Sinnen über diese brutale und seltsam sinnlose Störung der traditionsreichen Harmonie ihrer ererbten Welt. Bald jedoch nahmen sie eine beobachtende Haltung ein, studierten aus ehrerbietigem Abstand, wie die Streitenden einander in den Untergang trieben, lauschten den lispelnden Stimmen der Wahnsinnigen und hielten Wache bei den Sterbenden, die deshalb ihre letzte Einsamkeit von einem Kreis kleiner, glühender Augenpaare bevölkert sahen, die Stunde um Stunde näherrückten.
Und was konnte ich tun? Ich war selbst völlig gelähmt vor Entsetzen und war so lange von den Menschen fort gewesen, daß ich Angst vor ihnen hatte. Sie wirkten so unberechenbar, wer wußte, was ihnen einfallen würde? Schließlich aber nahm ich mich doch zusammen und ging zu einem hin, der sich in einer Ecke niedergelassen hatte oder dort umgefallen war und um den bereits eine Menge neugieriger Ratten einen Kreis gebildet hatten. Die scheuchte ich weg, und obgleich sie pfiffen und zischten, wagten sie dennoch nicht, mir den Gehorsam zu verweigern. Es war eine Frau, die dort lag. Ich näherte mich vorsichtig, bereit zu verschwinden, wenn sie auch nur das kleinste Zeichen von Angriffslust zeigen sollte. Doch das tat sie nicht. Sie war eingeschlafen, und ich setzte mich neben sie mit meinem Kind auf dem Arm und wartete darauf, daß sie aufwachte. Sie war sicher schrecklich ermattet, denn sie schlief sehr lange, aber zuletzt schlug sie doch die Augen auf. Da sie natürlich erwartet hatte, genauso allein zu sein wie zu dem Zeitpunkt, als sie sich hingelegt hatte, erschrak sie ein wenig, aber ich saß ganz still und begnügte mich damit, sie anzuschauen, so daß sie schnell begriff, daß ich ihr nichts tun wollte. Ich habe vergessen zu erzählen, daß sie verbunden und augenscheinlich schwer verletzt war und daß ihr Gesicht so weiß war wie eine Kalkmauer. Es war deutlich, daß sie nicht mehr lange leben würde. Ihre Augen waren zwar schwach und verschleiert, hatten aber dennoch eine seltsame Kraft in sich, und ich saß immer weiter da und schaute sie an, als sei es das erste Mal, daß ich ein Paar Augen sah. So empfand ich es auch. Denn die Augen der Ratten, von denen ich umgeben gewesen war, waren völlig anders. Dann ging mir ein Licht auf. Ihre Augen hatten nämlich überhaupt nichts Ungewöhnliches, sie waren ganz normal, so, wie Augen nun einmal sind, aber weil ich direkt aus der Gesellschaft der Ratten kam, schien es mir, daß ich diese seltsame Kraft sah, von der ich gerade erzählt habe. Ja, Pustekuchen! Ich kann mir vorstellen, daß sie vielleicht Fleischersfrau oder so etwas gewesen ist, jedenfalls war sie sehr einfach gekleidet, und ihre Hände – ja, nun war sie natürlich so entkräftet, daß sie einfach nur dalagen – waren solche Pranken, wie man sie von harter Arbeit bekommt.
Aber sehen Sie, mit den Ratten ist das so, sie sind zwar mutig, und sie helfen auch einander, so, wie ich es erzählt habe, und opfern sich freudig für die gemeinsame Sache, wenn es sich als unumgänglich erweist, aber sie waren schreckeinflößend. Sie waren zu vollkommen, kann man schon sagen. Sie hatten etwas Metallisches an sich. Sie hielten zusammen, aber sie mochten sich dennoch nicht, und selbst ihre Todesangst war merkwürdig taub, als sei sie eher eine Art Krankheit des Nervensystems. Aber die Frau hier, die hatte Angst, und das verstehe ich gut, so, wie ihre Lage war. Sie hatte Angst vor dem Sterben. Und genau das konnte ich ihr ansehen. Und ich konnte ihr ansehen, daß sie dankbar war, daß ich da war, obgleich ich ja nicht das geringste tun konnte. Oje, das war schrecklich! Sie lag da und starb mir ganz langsam unter den Händen weg, und ich konnte sie nur ansehen. Sie war zu schwach, um zu sprechen, sie konnte also nicht sagen, woran sie dachte. Vielleicht hatte sie Mann und Kinder, vielleicht lebten ihre Mutter und ihr Vater noch, vielleicht wollte sie einen Priester zum Beichten? Was weiß ich! Ich redete ein bißchen zu ihr, fast wie zu einem Kind, das man beruhigen und trösten will, und ich schwöre, daß ich sie nun schon genauso mochte, als wäre sie mein eigenes kleines Kind gewesen. Das Schlimme war nur, daß sie nicht die einzige war. Ich wußte, daß rund umher andere lagen, denen es ebenso schlimm oder vielleicht sogar noch schlimmer erging. Ab und zu hörte ich jemanden um Hilfe rufen, dann hatte ich die größte Lust, zu ihnen hinzueilen. Aber nein, das konnte ich nicht übers Herz bringen, ich konnte die, bei der ich saß, nicht verlassen. Die Rufe wurden immer schwächer, vermutlich sind sie ja alle im Dunkeln krepiert.
Na, aber zuletzt starb sie natürlich auch, und obgleich ich mich völlig versteinert fühlte, konnte ich ja nicht da sitzen bleiben wie ein Grabmal, außerdem mußte ich an mein Kind denken. Und nun hatte ich genug von den Ratten. Ich wollte zu den Menschen zurück, auch wenn sie sich noch so sehr totschlugen und überhaupt schändlich benahmen. Ich begann zu gehen, indem ich mich an die Mauer drückte, in den Winkeln verbarg und auf alle mögliche Weise die Ratten zu meiden suchte, während ich nach einem Ausgang suchte. Ich war zwar recht ortskundig, aber ehrlich gesagt war ich durch die jüngsten Ereignisse etwas wirr im Kopf und taumelte anfangs nahezu ziel- und zwecklos umher. Endlich sah ich dann Licht voraus, und während ich auf den fernen Lichtschein zustürzte, geschah etwas Merkwürdiges. Ich begann den Kanal zu riechen! Pfui Teufel, der stank vielleicht! Er stank nach Schlamm und feuchten Mauern und nach all dem, was herumtrieb, und nach Ratten, nicht zuletzt nach Ratten. So ein richtiger scharfer Geruch, der mir fast Brechreiz verursacht hätte. Vermutlich lag es an den sterbenden Menschen, die im Imperium der Ratten so viel Spektakel veranstaltet hatten, daß ich überhaupt die Möglichkeit erhielt zu entkommen. Es war ein reines Wunder. Ich wage überhaupt nicht, mir vorzustellen, was geschehen wäre, wenn der Rattenkönig jemanden hinter mir hergeschickt hätte. Sie hätten mir mit Leichtigkeit den Weg versperren können, und dann wäre mein Schicksal besiegelt gewesen und auch das meines Kindes.
Nun kam ich also raus, und seltsamerweise kam ich genau da raus, wo ich reingekommen war. Mir wurde ganz komisch, als ich so dastand und auf die Seine sah. Es war direkt schön. Es war, als wäre ich nach Hause gekommen. Mein armes Kind konnte nicht sehen. Es mußte sich die Hände vor die Augen halten, damit das starke Licht sie nicht kaputtmachte. Es zitterte und bebte, und plötzlich ging mir auf, daß es so mager war wie ein reines Skelett. Ab und zu nahm es einen Moment lang die Hände von den Augen und wandte die Schnauze, doch dann begann es auch sofort wieder zu zittern, es zuckte und zappelte, als bekäme es Krämpfe, so stark wirkte der Eindruck. Als ich auf die Straße hinauskam, schauten mich die Leute so seltsam an, und erst als ich mich in einem Spiegel sah, verstand ich, weshalb. Ich hatte völlig vergessen, daß mein Haar voller Schimmel und ich selbst fast halbnackt war, weil meine Kleider, die mürbe und morsch geworden waren, in Fetzen an mir hingen, und daß das, was von meinem Gesicht und von meinen Armen und Beinen zu sehen war, eine kränkliche, gelbgrüne Farbe zeigte und die Ähnlichkeit mit Menschenhaut völlig verloren hatte.
Ich wurde zum Schrecken für alle anderen im Haus; selbst als ich mich gewaschen und mein Haar gekämmt hatte, sahen sie mich noch immer an, als trüge ich irgendeine Deformität mit mir herum oder als sei ich die Hexe im Pfefferkuchenhaus. Doch das war mir egal. Die meisten von ihnen sind jetzt tot. Sie waren schwach, sie sind weg, aber ich war stark, und ich starb nicht. Ich verbarg meinen Theodor vor ihren Blicken. Tagsüber behielt ich ihn in der Wohnung und schloß die Fensterläden, um seine schmerzenden Augen zu schonen. Am Abend nahm ich ihn zuweilen mit und führte ihn durch Straßen und auf Boulevards, wo der Anblick der Menschenmengen in Bewegung ihn anfangs völlig verschreckte und wo er instinktiv zu den Kais hinunterlief, als suche er nach einem Eingang zu den Kanälen und wolle um jeden Preis zu ihrem widerwärtigen, klammen, schleimigen Dunkel zurück. Beim Anblick seiner rattigen Schnauze – bereits als Zweijähriger hatte er Flaum auf den Wangen und um den Mund – und seiner kugelrunden Augen ohne Lider und Wimpern wandten sich die Leute ab. Ich sah durchaus, welchen Ekel sie empfanden, obgleich sie natürlich versuchten, es zu verbergen, und einige sogar so taten, als fänden sie, er sei ein süßes kleines Kind. Doch er durchschaute sie, und Sie hätten ihn sehen sollen, wenn die Leute ihn unter dem Kinn kraulten: Dann fauchte er sie an, und dann zogen sie ihre fetten Finger schon weg!
Auf diese Weise war mir eigentlich bereits bestimmt, wie mein Leben jetzt weiterverlaufen würde. Ich mußte mich für meinen Sohn opfern, der nicht dazu geschaffen war, unter Menschen zu gehen, wo er nur auf Spott und Unverständnis stoßen würde. Ich knapste und knauserte, verließ den kleinen Raum nur, wenn es zwingend notwendig war, und brachte ihm gleichzeitig all die Erziehung bei, die er brauchen würde, wenn sich die Zeit näherte, wo er, ohne daß ihm ein Leid geschah, imstande sein würde, sich unter Fremde zu