Anatomie der Katze. Poul Vad
alles andere, ein langer, unterschiedsloser Augenblick zwischen Geburt und Tod. Doch oben in der anderen Welt, bei den Menschen, hatte sich alles verändert. Der Krieg war vorbei, Paris machte sich auf eine heroische Zukunft gefaßt, und nun gab es wieder Mengen von Abfall in allen Mülleimern. Das interessierte mich jedoch alles überhaupt nicht, und was die Ratten betrifft, so hatten sie augenscheinlich vollständig vergessen, weshalb ich in ihre Welt aufgenommen worden war. Ich brauchte ihnen nicht mehr bei der Futtersuche zu helfen. Auf Geheiß des Königs brachten sie mir das Beste, was sie beschaffen konnten. Ich lag mit schwellendem Bauch in einem dunklen Winkel, wo ich völlig ungestört sein konnte, denn ich fühlte die Zeit für meine Niederkunft näherrücken und wurde von angstvollen Gedanken gepeinigt, die sich natürlich alle um das Kind, das ich zur Welt bringen sollte, drehten.
Die Wehen ließen mich laut stöhnen. Die Ratten, die sich in der Nähe aufhielten und es hörten, flüchteten erschreckt. Sie hatten noch nie etwas Ähnliches gehört und fürchteten, daß mir etwas Böses und Schädliches, etwas Unnatürliches geschehen sei, das auch ihnen etwas zuleide tun könne. Das Gerücht lief von Mund zu Mund, der König, der sich selbst näherte, um zu hören, ob die Gerüchte wahr gesprochen hätten, erteilte den strengen Befehl, alle Ratten sollten sich außer Hörweite meiner unheimlichen Laute begeben. Das Echo der letzten gemeinen Litaneien der fünfunddreißig fettwanstigen Königinnen erstarb unter den Gewölben, und ich war mir selbst überlassen. Was half es, daß ich die Königin der Kloaken gewesen war? Zum erstenmal erfüllten mich die niedrigen Gewölbe, das Dunkel, das stehende Wasser der Kloaken und der faulige Gestank mit Abscheu, und als ich vor Angst und Schmerz schrie, gellte mein Ruf nur in eine Leere, die mir das Gefühl gab, das einsamste Geschöpf der Welt zu sein. Nun bin ich aber ganz verloren, dachte ich zwischendurch, wenn die Schmerzen abklangen, und dieser Gedanke sollte mir die Niederkunft natürlich nicht leichtermachen.
Die Geburt fand zu einem Zeitpunkt statt, als ich völlig umnebelt war. Ebensosehr von der fürchterlichen Angst, mit der mich die Einsamkeit erfüllte, wie von den Schmerzen, doch einen Augenblick später war ich wieder zu mir gekommen und hatte meine Umsicht und Tatkraft wiedergewonnen. Das Kind war ein Junge, das merkte ich schnell, denn er hatte einen ungewöhnlich langen Pimmel, dünn und schleimig wie ein Wurm, und außerdem hatte er von Geburt an dünne, spitze Nagerzähne; die verlor er jedoch mit sechs Jahren und bekam dann richtige Menschenzähne in den Mund, was sein Aussehen im übrigen stark veränderte und seinen Kopf weniger rattenartig erscheinen ließ.
Ich legte mein Kindchen sofort an die Brust, es saugte begierig, obgleich das, was da herauskam, keine richtige Milch war, sondern irgendein saurer Saft, der den Magen eines gewöhnlichen Menschenkindes dazu gebracht hätte, sich vor Schmerzen zu verkrampfen. Es lag sicher daran, daß ich so viele Wochen hindurch nicht an der Luft und am Licht gewesen war, sowie an der Kost, die ich gegessen hatte, daß meine Brüste nun eine Nahrung hervorbrachten, die, wie sich zeigte, genau das war, was das Neugeborene brauchte. Abgesehen von den Dingen, die ich bereits erwähnt habe, unterschied der Junge sich nicht sonderlich von einem normalen Menschenkind, wenn man einmal von den Augen absieht. Aber natürlich wäre es völlig verrückt, wollte man von den Augen absehen, um so mehr, als sie so ungefähr auch das erste waren, was mir auffiel. Denn als er an meiner Brust lag, schaute er mit ihnen direkt in meine empor, und sie waren rund, stecknadelkopfartig und konnten sich nicht schließen, da ihnen die Lider und Wimpern fehlten. Er selbst sagt, daß es ihm keine Schmerzen bereite, aber ich glaube, das liegt daran, daß er sich so sehr daran gewöhnt hat, daß etwas in seinem Kopf weh tut, daß er sich nicht darüber im klaren ist, daß wir das Schmerz nennen. Wenn er plötzlich imstande wäre, die Augen zu schließen, würde es ihn sicher mit Schrecken erfüllen, daß die Welt nicht mehr da ist. Angenommen, sie käme nie wieder!
Sobald ich gehen konnte, trug ich ihn auf den Armen umher. Nun, da ich nicht mehr stöhnte oder schrie, hatten die Ratten nicht mehr so viel Angst vor mir, doch es war, als hätten sie die Lust verloren, etwas mit mir zu tun zu haben.
Vielleicht hatten meine Töne, die ihnen so unheimlich vorkamen, sie mißtrauisch gemacht. Sie strichen hastig an mir vorbei und verlangsamten das Tempo erst wieder, wenn sie von mir weg waren. Den König sah ich überhaupt nicht. Ich wanderte in den Gängen umher, oft bis zur Hüfte im Wasser, wie ich es gewöhnt war, und suchte nach ihm, doch überall, wo ich hinkam, kehrten mir die Ratten den Rücken zu, wichen zurück oder flüchteten geradezu. Mit der Zeit empfand ich mit immer größerer Deutlichkeit, daß ich ausgestoßen war, und wurde von einem Gefühl der Verzweiflung übermannt, das mich zum Äußersten trieb. Mein Gemüt muß völlig verdunkelt gewesen sein, ich entsinne mich auch nur ganz schwach an das, was geschah, während ich immer erschöpfter und verzweifelter im Dunkeln umherwanderte. Vermutlich geschah überhaupt nichts. Ich war nur allein. Zuletzt stellte ich mich an einer Stelle, wo, wie ich wußte, der König vorbeizukommen pflegte, mit dem Hintern in die Luft auf, in der Hoffnung, ihn auf diese Weise zu mir locken zu können. Ich richtete mich erst auf, als ich entdeckte, daß mein kleiner Sohn, den ich neben mich gelegt hatte, einen Pimmel bekommen hatte, der lang und steif war und wie eine Weidenrute schwankte.
Zu dem Zeitpunkt war ich wohl nahe daran auszurasten, ja, ich glaube, das war der schlimmste Augenblick von allen, denn ich hatte keine einzige vernünftige Idee oder einen Plan im Kopf und eigentlich auch keinen unvernünftigen. Wenn da jemand vorbeigekommen wäre und zu mir gesagt hätte, spring in den Kanal, der geradewegs in die Seine führt, und da kannst du mit deiner entarteten Nachkommenschaft ersaufen, dann hätte ich das auf der Stelle getan.
Meine nächste Erinnerung ist etwas Entsetzliches. Es war, als bedürfe es irgendeines Schreckens, um mich zum Leben zu erwecken und meinen Verstand zu retten.
Durch die Kanäle begann Blut zu fließen. Es sickerte die Wände hinunter, es tropfte von den Decken, es bahnte sich seinen Weg durch die Gänge, und in der klammen Luft wirkte es lauwarm und verbreitete einen süßlichen Gestank. Die Ratten gerieten außer sich. Sie stoben umher, als sei irgendeine Naturkatastrophe geschehen. Einige von ihnen wälzten sich in dem Blut und gebärdeten sich schreiend und pfeifend, während sie darin herumrollten, so daß es nach allen Seiten spritzte. Es war eine richtige Schweinerei. Andere scheuten es, waren aber dennoch davon in den Bann gezogen, denn jedesmal, wenn sie geflohen waren, kehrten sie wieder zurück und schnupperten daran. Ich bin völlig sicher, daß bei dieser Gelegenheit eine Menge Ratten total den Verstand verloren. Und gleichzeitig tropfte das Blut immer weiter und lief als dicker Strom, der die ganze Zeit über anschwoll und immer klebriger wurde. Sein Geruch erfüllte mich mit einem Gefühl des Ekels und des überraschten Erkennens. Als ich mein Kind gebar, war das Blut, das aus mir herausgeströmt war, dünn wie Wasser gewesen, fast farblos und mit einem nicht sehr starken, doch seltsamen scharfen und säuerlichen Geruch, als sei es mit Essig vermischt. Jetzt wußte ich plötzlich wieder, was richtiges Menschenblut ist, und ich begriff auch, weshalb die Ratten so verstört waren. Ich begann eine merkwürdige Sehnsucht nach den Menschen zu empfinden, und gleichzeitig verwandelten sich der Abscheu und der Ekel, die das Blut in mir hervorgerufen hatten, in Trauer und Mitgefühl.
Ich tobte vor Trauer, denn es liegt mir nun einmal nicht, in Jammer und Elend zu versinken, doch als plötzlich in den Kanälen Menschen auftauchten, konnte ich schon merken, daß ich lange aus ihrer Welt weggewesen war.
Die Welt der Ratten ist so still und friedlich. Die Ratten flitzen lautlos umher, und die langsamen Bewegungen des Schlamms, wenn er in den Kanalleitungen dahintreibt, löst nur ab und zu ein leichtes Plätschern oder ein schwaches Brodeln aus. Aber die Menschen, die nun auftauchten, die machten vielleicht ein Theater! Sie taumelten herum wie betrunken, und obgleich sie gedämpft sprachen, klang es wie der schlimmste Lärm und Spektakel. Hinzu kam, daß sie riesig wirkten, doch das lag sicher nur daran, daß ich so viele Monate lang nur die Ratten vor Augen gehabt hatte: groß und plump, wie gewaltige Maschinen, die nicht ganz richtig zusammengeschraubt sind. Sie wußten weder aus noch ein, das war ganz deutlich – wußten nicht, wo sie hingehen und was sie überhaupt mit sich anfangen sollten. Wenn mehrere zusammen waren, begannen sie sich schnell zu streiten und teilten sich in zwei oder mehrere Parteien. Einige von ihnen gerieten in Schlägereien und ertranken, weil sie hinfielen und während der Schlägerei zu Boden gingen oder in den Fluß hinausgeführt wurden, weil sie viel zu entkräftet waren, um sich an den glatten Steinen festzukrallen. Andere machten sich zielbewußt auf den Weg, allein oder in ganz kleinen