Anatomie der Katze. Poul Vad

Anatomie der Katze - Poul Vad


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Alleruntersten, den Gefürchteten, Verhaßten und Verachteten, in deren Königreich in diesem Augenblick eine andächtige Stimmung herrschte, als erwarteten sie, Zeuge eines Rituals zu werden, dessen magische Kraft ihr Schicksal mit einem Schlag wenden – oder es vielleicht bestätigen und sie damit in der Identität des Hasses und der Boshaftigkeit bestätigen – würde, die ihr namenloser Gott war.

      Der ganze Körper des Rattenkönigs war von Narben übersät, ihm fehlte ein Auge, und er hinkte schwer auf dem linken Hinterbein. Nichtsdestoweniger strahlte er eine Kraft aus, die die Stellung, die er einnahm und die im übrigen nicht durch äußere Zeichen der Würde angegeben war, völlig erklärte. Für jedes Bein hatte er sieben Königinnen und sieben für den Schwanz. Sie saßen in fächerförmigen Reihen vor ihm, streckten abwechselnd auf Befehl des Königs den Hintern in die Luft und sangen dazwischen im Chor mit heiseren, zischenden Stimmen verschiedene Litaneien, deren obszöner Inhalt so platt, so ordinär und geradezu ehrlos war, daß es zu meiner großen Überraschung fast schön klang, was wahrscheinlich nicht beabsichtigt war.

      Nun erwartete ich natürlich, daß mit mir irgend etwas geschehen würde, und die erwartungsvolle Stille der tausendköpfigen Schar ließ mich das Schlimmste befürchten. So dumm war ich jedoch, daß ich selbst zu dem Zeitpunkt meinen Leichtsinn nicht bereute. Denn obgleich ich Angst hatte, auch Angst um mein Leben, war meine Neugierde dennoch so groß, daß sie die Angst aufwog. Wenn ich denn wirklich in dieser Unterwelt, die völlig den Gesetzen und Bestimmungen der Menschen entzogen war, in irgendeinem Ritual geopfert werden sollte, dann war das jedenfalls nicht sinnloser als der Tod, den Franzosen und Deutsche einander mit ausgeklügelten Mordwaffen zufügten und den kennenzulernen ich so reichlich Gelegenheit gehabt hatte. Eher im Gegenteil.

      Meine bangen Ahnungen wurden jedoch beschämt. Eine nahezu unmerkliche Bewegung des königlichen Kopfes ließ die tausendköpfige Schar aufbrechen. Es war, als würde die gesamte Umgebung auf einmal lebendig, doch das geschah in tiefstem Schweigen, und im Verlauf eines Augenblickes lagen der Platz, die Wände, die Gewölbe völlig öde da. Übrig waren nur noch der König, seine Königinnen – die ihren kreischenden Gesang abgebrochen hatten – und ein paar andere Ratten, die an Minister oder Diplomaten oder auch Gewohnheitsverbrecher erinnerten. Es zeigte sich, daß die Ratten die Lage sehr düster beurteilten. In der großen, hungernden Stadt blieb fast nichts übrig für die Ratten. Eine Zeitlang konnten sie schon hungern, dauerte die Unterernährung jedoch zu lange, dann würden sie zu entkräftet sein und deshalb eine leichte Beute für ihre Feinde abgeben. Gleichzeitig hatten die Menschen angefangen, sich für sie zu interessieren, nicht nur, um sie auszurotten – das kannten sie, und darüber lachten sie –, sondern um sie zu essen. Das war etwas ganz Neues für die Ratten, sie fühlten sich gedemütigt bei dem Gedanken, von den verhaßten Feinden verzehrt zu werden. Es überraschte sie auch, daß der Preis, der in den Fleischergeschäften für eine Ratte verlangt wurde, im Verhältnis zu dem Preis von anderem Fleisch so lächerlich war. Nur ein Spatz war billiger! Eine Ratte konnte man für zwei Francs bekommen, während eine Katze zehnmal so viel kostete. Mit anderen Worten, ich konnte merken, daß ihr Selbstgefühl getroffen war. Ratten hatten nichts gegen Haß und Verachtung. Sie fanden es in Ordnung, daß die Menschen sie mit allen Mitteln, auch den giftigsten, bekämpften, doch an dem augenblicklichen Zustand erschien ihnen einiges entehrend. In einem Fleischerladen zu enden, das war für eine Ratte ein ebenso fürchterlicher Gedanke wie für einen Calvinisten die Aussicht, in der Hölle zu landen.

      Doch die Ratten wichen auch vor den ungewöhnlichsten Handlungen nicht zurück. Deshalb hatten sie beschlossen, einen Menschen zu sich zu locken, der in ihrer Gewalt sein sollte. Das würde die Moral der ganzen Gesellschaft stärken. Und was man einmal tun konnte, konnte man dann auch wiederholen. Aber außerdem wollten sie sich diesen Menschen dann auch zu Diensten machen. Zwar waren sie selbst Meister, wenn es darum ging, in der Stadt Stellen zu finden, die die beste Ausbeute erbrachten, doch die augenblicklichen Zustände hatten die Menschen dazu gezwungen, sorgfältiger zu sein. Auf diese Weise wurde ich Gefangene, ein lebendiges Opfer, das in bestimmten Abständen allen Ratten vorgezeigt wurde, und gleichzeitig ihr Helfer im Kampf um das Dasein.

      Es klingt vielleicht seltsam, wenn ich das sage, aber ich muß gestehen, daß es mir in der Gesellschaft der Ratten gutging. Das liegt sicher an meinem leichtsinnigen Gemüt, und ich will gern glauben, daß mit mir was nicht in Ordnung ist. Ich hatte nie einen Gedanken an die Tatsache verschwendet, daß unter dem Boden der Gesellschaft noch ein Boden liegt. Ich begann zu denken, daß man unter den Untersten immer noch jemanden findet, der noch weiter unten ist. Das Besondere an den Ratten war ihr wütender Stolz. Obgleich er mir nicht immer unbedingt berechtigt erschien, begriff ich, daß hier einer der Gründe ihres Überlebens lag. Ich ging deshalb bereitwillig darauf ein, ihnen zu dienen, und kannte die Verhältnisse »da oben« so gut, daß ich ihnen wirklich viele wertvolle Auskünfte geben konnte. In der hungernden Stadt gab es noch immer viele, die sich mästeten. Ich wußte, wo es Abfalleimer gab, die ebensosehr oder noch mehr als unter normalen Umständen überflossen. Es war, als würden die Bäuche der Reichen noch unersättlicher, wenn alle anderen hungerten und Not litten; als müßten sich ihre Gaumen an noch größeren Mengen der besten Jahrgangsweine, die ihre Keller füllten, laben; als verlange ihr Bewußtsein, daß noch größere Haufen als normalerweise in den Abfalleimern landeten, deren Inhalt, der nicht in verkehrte Hände fallen durfte, von den ergebensten Dienern bewacht wurde, die mit ihren eingefallenen Wangen, den vorspringenden Knochen und der fahlen Haut von der Treue zeugten, mit der sie der gnädigen Herrschaft dienten: Die Hunde konnten die besten Stücke bekommen, der Rest mußte verrotten. Das war, kurz gesagt, wie geschaffen für die Ratten. Aber deshalb schissen und pißten diese feinen Damen und Herren auch sehr viel mehr als gewöhnlich, und ich hatte von vielen Armen gehört, die sich buchstäblich kaputtschufteten, weil sie die Kloeimer in der Faubourg Saint-Honoré leeren mußten und selbst kein Brot auf dem Tisch hatten.

      In meiner Entrüstung über diese fürchterlichen Zustände wurde es mir eine wahre Leidenschaft, den Ratten zu helfen, und zuletzt hatte ich nichts anderes im Kopf als ihr Wohl und Wehe. Deshalb überraschte es mich irgendwie auch nicht, als mir Seine Majestät vorschlug, ich solle in die Reihe der Königinnen eintreten. Aufgrund meiner nur allzu menschlichen Natur würde ich notwendigerweise eine Sonderstellung einnehmen, aber dagegen hatten die übrigen fünfunddreißig Königinnen nichts einzuwenden. Sie nahmen mich unter sich mit den einzigartigsten, abscheulichsten Litaneien in fünfstimmiger Polyphonie auf, und ich fühlte meine Seele von einer Tristesse durchdrungen, die ich nie zuvor gespürt hatte und die mich stark und unbeugsam machte, als der König mit seiner zischenden, pfeifenden Stimme an die versammelten Ratten gewendet verkündete: Königin über die Kloaken von Paris!

      Ich streckte sofort meinen Hintern in die Luft, und in der Stille, die folgte, pflanzte er seinen Rattensamen in mich. Hinterher tanzte ich zu den gespenstischen Tönen der Litaneien Cancan.

      Nun, da ich etwas von der Ratte in mir hatte – und bald merkte ich, daß es darin zu wachsen begann –, fühlte ich, daß mein Leben weitgehend verändert war. Etwas war geschehen, und dieses Etwas bewirkte, daß ich nie mehr dieselbe sein würde wie zuvor. Mit der Hälfte meines Wesens war ich eine der Verdammten geworden, nicht mehr nur ein Gast, ein Tourist in der Hierarchie der Erniedrigung, sondern ich war jetzt imstande, ihren Stolz und ihre Scham zu teilen, während ich es gleichzeitig noch immer so betrachten konnte, als befände ich mich außerhalb. Deshalb begann ich nun auch Dinge zu sehen, für die ich früher keinen Blick gehabt hatte oder die ich ganz einfach nicht hatte sehen können. Die Ratten waren eine gleichförmige Masse gewesen. Nur der König und die ihn Umgebenden unterschieden sich von den anderen. Aber so war es ja überhaupt nicht. Es gab kleine Unterschiede, die einem plötzlich ins Auge sprangen. Im Laufe der Zeit bewirkten diese Unterschiede, daß mir der König eigentlich auch nicht so anders vorkam als alle die anderen. Doch, halt! Es gab einen Unterschied. Der bestand gerade darin, daß er König war. Ich begann zu fühlen, daß diese Entdekkungen meine Seele zerreißen würden. Ich war Mensch und doch nicht Mensch, weil ich eine Ratte in mir hatte. Ratte, wirklich Ratte war ich natürlich auch nicht – obgleich ich nun die klamme Berührung des Schlamms als Liebkosung empfand und mich schon längst damit abgefunden hatte, daß meine Haut gelb und grün wurde, daß auf dem Kopf, unter den Achseln und zwischen den Beinen der Schimmel wuchs und ein Haufen halb verrotteter Kartoffelschalen als Abendessen dienen mußte.

      Ich


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