Anatomie der Katze. Poul Vad

Anatomie der Katze - Poul Vad


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ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht Grund gehabt hätte, mich darüber zu beklagen, daß ich wie ein Dummkopf stehengeblieben war; nicht ein einziger Tag, dem ich nicht dafür danken konnte, daß mir gerade in dem Augenblick das nötige Gehirnschmalz fehlte; denn seit dem Augenblick nämlich steht mein Leben im Zeichen der Ratten, und das ist nicht besonders lustig für einen Menschen, wie Sie sich sicher vorstellen können. Es wäre sehr bequem, wenn ich irgend jemand anderem die Schuld zuschieben könnte, denn dann könnte ich mich wenigstens wirklich über mein Schicksal beklagen. Aber ich sage mir: Wer mag sich schon jemanden anhören, der sich immer beklagt? Nein, dazu hat niemand Lust, und ich selbst auch nicht. Wie hart es also auch sein mag, letztlich sage ich mir immer: Kleine Camilla, du hast es nur dir selbst zuzuschreiben, daß es so gekommen ist. Wenn Sie dann nach diesen Worten so etwas wie einen kleinen Seufzer hören, dann haben Sie sicher nicht verkehrt gehört, denn mein Herz schnürt sich zusammen bei dem Gedanken an all die Freude und all das Glück, das mir hier im Leben entgangen ist, und ich muß aufpassen, damit ich meine Klagen nicht gegen mich selbst richte, denn welchen Zweck hätte das?

      Aber sehen Sie, wenn ich das gesagt habe, so muß ich doch schnell hinzufügen, daß es die eiskalten und grausamen Augen der beiden Ratten waren, die mich daran hinderten, meine Füße auch nur einen Millimeter wegzurücken. Ich war überzeugt, hätte ich auch nur die kleinste Andeutung eines Fluchtversuchs gemacht, so hätten sie sich irgendwie auf mich gestürzt, und das wurde mir später auch bestätigt. In solchen Situationen benutzen sie nämlich eine ganz bestimmte Taktik, die uralt ist – so heißt es. Die eine Ratte geht zum Angriff auf den Fuß des Opfers über, während die andere sich bereithält. Die Angreifende beißt sich mit einer so fürchterlichen Kraft und Plötzlichkeit fest, daß dies das Opfer sehr oft vor Schmerz lähmt und es auf der Stelle umfällt. Manchmal wird der Angegriffene natürlich versuchen, die Ratte abzuschütteln, indem er seinen Fuß schwingt, aber das ist praktisch unmöglich. Die zweite Ratte benutzt die Gelegenheit zu einem Biß in den anderen Fuß, und dann können nur noch die wenigsten sich auf den Beinen halten. Ich will gar nicht von denen reden, die imstande sind, sich zu bücken, um mit den Händen zu versuchen, die Ratte, die sich festgebissen hat, loszureißen. Dann ist es für die andere Ratte eine Kleinigkeit, sich mit einem Sprung in der Nase festzubeißen. Aber wie gesagt, die meisten fallen schnell um, und sobald der Arme am Boden liegt, sitzt Ratte Nummer zwei ihm mitten im Gesicht. Hier geht sie zuerst – und das geht so schnell, daß niemand abwehrend die Hände erheben kann – auf die Augen, danach reißt sie ein Loch in die Wangen, und durch ein solches Loch geht sie zum Angriff auf die Zunge über. Und als wäre das nicht genug, so hat die Ratte, die im Fuß festsaß, ihren Biß aufgegeben, aber bestimmt nicht, um sich hinzustellen und Zuschauer zu spielen. Ganz im Gegenteil, sie richtet den letzten und entscheidenden Angriff auf das Opfer. Die Ratte weiß ganz genau, wo die Mastdarmöffnung ist, und während sich der Bedauernswerte, der nun weder sehen und bald auch nicht mehr sprechen kann, vor Schmerzen windet, bohrt sie sich da hinein. Eine Ratte ist nicht zimperlich, ihr ist es gleichgültig, was ihr auf diesem Weg begegnet. Sie wird von dem, was sie eventuell in diesem Bereich antreffen kann, nur angefeuert und drängt sich mit noch größerer Rücksichtslosigkeit und mörderischer Kraft vorwärts. Zu dem Zeitpunkt ist es natürlich aus mit dem Opfer, das auch sehr bald stirbt, ohne richtig begriffen zu haben, wie es geschieht und was da eigentlich geschieht; die Ratten aber verlieren keine Zeit, sondern verlassen den Tatort so schnell und lautlos wie Schatten, und erst wenn sie in irgendeinem Versteck in Sicherheit sind, machen sie sich daran, sich zu reinigen und zu putzen, während sie über den überstandenen Kampf sprechen.

      Im allgemeinen verlieren sie darüber nun nicht sehr viele Worte, denn die Ratten neigen weder zur Angeberei noch überhaupt dazu, in ihren Taten zu schwelgen, denn für sie ist das eher eine Art Handwerk, eine Profession; und wenn Fachleute, egal, welcher Art, miteinander reden, dann ist kein Platz für Umschweife und Wortgeklingel.

      Dafür aber, doch das ist eine ganz andere Geschichte, besitzen die Ratten eine ganze Menge alter Sagen und Chroniken, in denen von den Taten, die ihre Vorväter vor vielen Generationen ausgeführt haben, die Rede ist. Freilich nennen sie selbst sie nicht Sagen oder Chroniken, sondern glauben voll und ganz, sie handelten von wirklichen Begebenheiten, die vor mehreren Jahrtausenden eingetroffen seien, damals, als die Ratten noch nicht in der Kanalisation, den Kellern und Kasematten von großen Städten oder einsam gelegenen Festungen wohnten, sondern dagegen in Erd- und Felsenhöhlen, gasigen Sümpfen oder verrottenden Wäldern in den Einöden, die damals die Erde bedeckten, und wo sie kämpften, um eine Existenz zu bewahren, die keineswegs dadurch erleichtert wurde, daß große konzentrierte Menschenmassen Kehricht und Abfall anhäuften. Das begann erst so ganz langsam, als sich die Menschen in den ersten Dörfern sammelten, in den ersten fest ansässigen Gemeinschaften, die einen Fleck in der Wildnis rodeten und die ersten Ratten dazu brachten, ihre Verstecke an den Flußufern zu verlassen. Die Menschen stammten jedoch von einem Geschlecht von Riesen ab, das im Gegensatz zu den Menschen nicht in Herden lebte, sondern einsam umherstreifte, weshalb sie auch immer mehr oder weniger wahnsinnig und verrückt waren. Damals waren die Ratten zwar auch größer als die heutigen, eine mittelgroße Ratte besaß die Größe eines Hundes – selten höher als ein Boxer –, die Riesen aber waren dafür so groß, daß ihre Exkremente einen mehrere Meter breiten Fluß stauen und damit große Überschwemmungen und Naturkatastrophen hervorrufen konnten. So, wie wir Wörter wie Kuhfladen und Pferdeäpfel haben, nannten die Ratten diese Ablagerungen Riesenfelsen, was sicher daher kommt, daß die Riesen, außer Bäumen, Echsen und Tintenfischen, gerne Felsstücke aßen – Gneis, Quarz und Kiesel –, die dem Stuhl ihr Gepräge gaben und dazu beitrugen, diesen phantastischen Formationen, wenn sie erstarrt waren, eine steinharte Oberfläche und oft und gern auch eine monumentale Massivität zu verleihen. Vor allem aber schätzten die Riesen eine ausgewachsene Ratte als Nachtisch und betrachteten das als eine große Delikatesse. Die Ratte Dslf wurde eines Tages von dem Riesen Soll gefangen. Das entdeckte die Ratte Mgbt, die Dslf zu Hilfe kam. Bis zu diesem Tag war niemals eine Ratte einer anderen Ratte zu Hilfe gekommen. Sie hatten immer nur die Flucht gekannt. Mgbt konnte sich selbst nicht erklären, wie es zugegangen war, aber irgendwie hatte er gesehen, wie Soll sich darauf vorbereitete, Dslf zu verzehren. Sonst hatten die fliehenden Ratten immer nur einen unerklärlichen, knirschenden Laut gehört, wenn ein Riese einen ihrer Kameraden gefangen hatte.

      Soll hielt seinen zappelnden Fang am Schwanze, und der Anblick von Dslf, der hoch oben in der Luft hing, den Kopf nach unten und Todesangst im Gesicht, bewirkte eine Revolte in Mgbts Seele und damit eine Änderung im Dasein der Ratten. Was war das Geräusch der knirschenden Knochen, das die fliehenden Ratten zu hören pflegten, gegen den Anblick der Hilflosigkeit der gefangenen Ratte? Die Ratten hatten nun einmal nicht die Phantasie, sich vorzustellen, was da geschah. Pfeifend stoben sie davon, bis sie sich außer Gefahr fühlten. Dann strebten sie zusammen, drückten sich dicht aneinander und versuchten zu vergessen, was geschehen war.

      Doch nun hatte Mgbt es mit eigenen Augen gesehen, und das war nicht angenehm. Der sabbernde Mund des Riesen war voller großer, scharfer Zähne, für eine Ratte besonders unheimlich, aber ganz pervers und unnatürlich war der Anblick der großen, hellrosa, feuchten Lippen, quabbelig und schmatzend, die von einer kräftigen, ungepflegten Bewachsung voller Essensreste, toter Fledermäuse und eingetrocknetem Rotz umgeben waren.

      Undeutlich spürte Mgbt, daß er nie so würde weiterleben können wie zuvor. Was immer er tat, er würde immer Dslf vor sich sehen, dieser Anblick würde seinen Schlaf stören und es ihm überhaupt unmöglich machen, auch nur fünf Minuten hintereinander seinen Seelenfrieden zu finden. Auch wenn er mit seinen Genossen zusammen war, würde er einsam sein, und plötzlich verstand er die Einsamkeit der Riesen und den Irrsinn, der sie – zur großen Verwunderung der Ratten – manchmal dazu brachte, sich selbst vor den Kopf zu schlagen, so daß er voller blauer Flecken und Blutergüsse war, oder dazu, ziellos herumzujagen, um sich danach plötzlich und unmotiviert hinzuschmeißen.

      Doch jetzt war nicht die Zeit für solche Erwägungen und Überlegungen, das fuhr nur so durch Mgbts Kopf, und im nächsten Augenblick sprang er, ohne sich zu bedenken, auf Solls Fuß los, der das nächste und im übrigen auch das einzige Angriffsziel darbot. Soll, der durch den unvorhergesehenen Schmerz völlig gelähmt war, wußte im ersten Augenblick nicht, was er unternehmen sollte. Es gelang Mgbt, eine Sehne des Fußes durchzubeißen, doch damit begann der Kampf erst richtig. Todesangst, Haß und


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