Anatomie der Katze. Poul Vad

Anatomie der Katze - Poul Vad


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schwerfällig auf den Hintern, um mit der Hand leichter Mgbt vom Fuß entfernen zu können, wo er sich festgebissen hatte. Nun zeigte sich jedoch, daß Dslf nicht weniger Geistesgegenwart, Mut und Todesverachtung besaß. Da Soll den Schwanz nicht losgelassen hatte, konnte Dslf die Hand nicht ordentlich angreifen. Resolut wand er sich deshalb hemm, biß seinen eigenen Schwanz fast ganz am Ansatz ab und ging darauf auf Solls nichtsahnende Hand los.

      Der Kampf wogte viele Stunden lang hin und her und wurde mit einer Grausamkeit geführt, die nicht geplant war, sondern der Situation entsprang und später zu einem unentbehrlichen Teil der Taktik der Ratten wurde. Es gelang den beiden Ratten, den Riesen vor Schmerz zu Boden gehen zu lassen, und nun war es Dslf, der zum Angriff auf Solls Gesicht überging. Er fürchtete zwar den Bart, den Mund, die Zähne – diesen mörderischen, fürchterlichen und stinkenden Schlund mitten im Kopf – und hielt sich die ganze Zeit vorsorglich davon fern, aber um so eifriger versuchte er, die großen, blutunterlaufenen Augen des Riesen zu erreichen. Solls eine Hand patschte ihn immer wieder weg, doch bevor der Kampf zu Ende war, war es ihm jedenfalls gelungen, das eine Auge des Riesen zu blenden, was Soll sehr viel Spott von seiten der anderen Riesen eintrug, die, so zeigte sich, fast bar jeder Fähigkeit zum Mitgefühl waren.

      Nun hatte Soll jedoch Mgbt vom Fuß weggerissen, dessen Sehnen mehr oder weniger zerfetzt waren und wo die Haut, infolge der Wildheit, mit der die Ratten gekämpft hatten, in Fetzen herabhing. Um nicht von der fürchterlichen Hand des Riesen gefangen zu werden, die die Knochen in dem Körper der Ratte hätte zermalmen können, wenn sie richtig hätte zupacken können, kroch Mgbt zwischen den Beinen empor und unter den kurzen Schurz, den Soll trug und mit dem er seinen behaarten Unterleib verbarg. Hier dann fand er den Weg in Solls Gedärm. So schleimig und glatt, wie es da war, war es eine Kleinigkeit für Mgbt, hineinzugleiten; es war dort auch sehr geräumig, so geräumig, daß er großen Schaden anrichten und dem entsetzten Riesen die schrecklichsten Wunden beibringen konnte. Nun wurde es Soll zuviel. Dieser Angriff brachte ihn an den Rand des Wahnsinns, weil er sich nicht mit den Händen verteidigen konnte, die im übrigen ja sowieso schon genug damit zu tun hatten, Dslf von dem zweiten Auge wegzuhalten. Soll fuhr so plötzlich empor, daß der unvorbereitete Dslf zur Erde purzelte, Soll stand grätschbeinig und krümmte seinen Bauch und ging in die Knie. Er löste einen Rutsch von Riesenfelsen, die auf Mgbt zudonnerten, eine kochende Masse voller zermalmter Steine, Kies und unverdauter Knochenreste, die sich am besten mit dem Lavastrom des Vesuvs oder anderer berühmter Vulkane im Ausbruch vergleichen läßt. Mgbt wurde zwar halb betäubt und war nahe daran, den Erstikkungstod zu erleiden, aber er hielt so lange durch, bis der Rutsch vorbeiging – er landete mit einem mächtigen Getöse, das im Umkreis vieler Meilen zu hören war, auf der Erde zwischen Solls Beinen. Zu Mgbts Pech hatte Soll gerade an diesem Morgen eine sehr solide Mahlzeit eingenommen. Er hatte Kies an den Ufern des Flusses Laugar aufgesammelt, hatte ein paar große Echsen gefangen, die ebenfalls dort lagen, und hatte seine Mahlzeit mit einigen großen Vögeln abgeschlossen, deren einzelne Federn bis zu vier Meter lang werden konnten – es waren also mit anderen Worten ein paar ordentliche Burschen. All das hatte Soll in der Zwischenzeit verdaut, die erste Portion Riesenfelsen war demnach nur der Anfang. Der benommene und halb betäubte Mgbt hörte weiter oben in den Därmen ein drohendes Donnern und war sich klar, daß es nun zu entkommen galt. Aber es war zu spät. Der nächste Rutsch aus Riesenfelsen war so heftig, daß Mgbt das Bewußtsein verlor, mit herausgeführt und unter dem Bergrutsch, der fast eine halbe Stunde dauerte, begraben wurde.

      Dort kam Mgbt um.

      Nun ging Soll. Dslf suchte seinen Stamm auf und erzählte, was geschehen war. Die Ratten wunderten sich und schauderten, aber sie begriffen instinktiv, daß für sie eine neue Zeit angebrochen war.

      Dslf sagte: Wir haben gegen Soll gekämpft, das Wichtigste aber ist, daß Mgbt sich umdrehte, den Tod sah und gegen den Tod gekämpft hat. Von nun an soll uns der Tod nie mehr kampflos haben, flieh vor ihm, wenn es möglich ist, aber geh auf ihn los, wenn es keinen anderen Ausweg gibt.

      Danach gingen die Ratten zu den großen Ansammlungen von Riesenfelsen, die wie aus der Erde geschossene Berge dalagen und unter denen Mgbt begraben lag. Sie dampften noch, und der Gestank, den sie in der Landschaft verbreiteten, erfüllte die Ratten mit dem Verlangen, die Gedärme aller Riesen, die sich auf der Oberfläche der Erde bewegten, in Stücke zu reißen.

      Eine Ratte entdeckte, daß auf der Erde zwischen den deutlichen Abdrücken der Füße des Riesen große rote Flecke zu sehen waren. Als sie näher daran rochen, zeigte es sich, daß es Blut war. Zwei der Ratten wurden losgeschickt, um festzustellen, was mit Soll passiert war.

      Nach Ablauf von anderthalb Tagen kam die eine von ihnen zurück und erzählte: Wir folgten den Blutspuren, die immer deutlicher wurden. Soll war erst nach Nordosten gegangen, hatte sich aber dann nach Norden gewandt. Nachdem er bis zum Rand der großen Ebene nach Norden gegangen war, war er nach Westen abgebogen, dann nach Süden, dann nach Norden und dann nach Westen. Er war mit anderen Worten augenscheinlich völlig verstört herumgeirrt, und es lief immer mehr Blut aus ihm heraus. Als wir ihn erreichten, hatte er sich hingelegt. Die ganze Zeit über lief das Blut aus dem Mastdarm, er hielt mit der einen Hand das blinde Auge, während er vor Schmerzen stöhnte und zwischendurch bitterlich jammerte. Als wir ihn so liegen sahen, freuten wir uns, daß die Ratten nicht so einsam umherirren wie die Riesen, und wir begriffen, daß wir dem Tod nie mehr Gelegenheit bieten dürfen, uns einzeln zu holen, sondern daß wir uns allesamt, sosehr wir können, wehren müssen. Soll wurde immer schwächer. Ab und zu schrie er etwas, als riefe er, aber niemand von den anderen Riesen kam ihm zu Hilfe. Diejenigen, die vorbeikamen – und es geschah, daß ein Riese am Horizont auftauchte und mehr oder weniger zufällig an der Stelle vorbeikam, wo Soll lag –, lachten entweder oder zeigten mit dem Finger auf das Auge, das nicht da war, oder sie schlichen vorbei, als schämten sie sich, und warfen nur im Vorübergehen einen verstohlenen Blick auf ihn. Zuletzt war Soll so entkräftet, daß er sich nicht rühren konnte. Wir krochen auf ihn hinauf, spazierten auf ihm herum und studierten seinen Körper, aber ansonsten ließen wir ihn liegen, weil wir uns erst über ihn hermachen wollten, wenn wir alle zusammen wären. Deshalb beschlossen wir, daß ich zurücklaufen und das, was Sie gerade gehört haben, erzählen sollte.

      Die Ratten brachen auf und machten sich auf den Weg. Als sie zu Soll kamen, war er tot. Sie warfen sich sofort auf die Leiche, und da sie viele und allesamt sehr hungrig waren, war es eine Kleinigkeit für sie, alles Eßbare zu verzehren, so daß das Skelett bald völlig sauber und blitzend weiß in der Sonne dalag. Sie lösten den Schädel vom Rest des Körpers und kullerten ihn nach Hause zu ihrer Siedlung. Sie wußten nicht, weshalb sie das taten und was sie damit anfangen sollten, aber wahrscheinlich fühlten sie, daß dieser Schädel, wenn sie ihn nur hätten, sie immer an den Tod und an die ersten Kämpfe der Ratten erinnern würde.

      So wurde mir die Geschichte erzählt, als ich in die Welt der Ratten gekommen war, eine Stadt wie eine Art unterirdisches Venedig, mit breiten Kanälen, schmalen Kanälen, Gassen, Pfaden und Plätzen, in eine ewige Stille versunken, die nur ab und zu von einem Platscher unterbrochen wurde, der immer so klang, als käme er von weit her. Ich wurde zur Versammlungsstelle der Ratten geführt, die gerade so ein großer Platz war, wo sie sich alle unter dem Vorsitz ihres Königs versammelt hatten. Es ist mir unmöglich zu erklären, wie ich überhaupt sehen konnte, denn aus der Welt von oben drang nicht der kleinste Lichtstrahl herunter. Alles lag jedoch in einen ganz schwachen Lichtschimmer gebadet da, wie in einer Mondnacht bei uns, wo man nur den Mond nicht sehen kann. Vielleicht lag es daran, daß meine Augen die gleichen Eigenschaften bekommen hatten wie die der Ratten, einfach, weil ich nicht nur widerstrebend mitgegangen, sondern, wie gesagt, stehengeblieben war, weil ich stehenbleiben wollte, in die Welt der Ratten eintreten wollte, damals, als sie sich mir so überraschend offenbarte.

      Die Ratten saßen mäuschenstill. Es waren Tausende und aber Tausende, eng aneinandergedrückt, so daß sie fast so etwas wie einen Teppich bildeten, der den Platz in seiner ganzen Ausdehnung bedeckte. Sie saßen in den anstoßenden Gängen, auf kleinen Mauervorsprüngen, selbst oben unter den niedrigen Gewölben, wie immer sie es geschafft haben mochten, sich da festzuhalten. Sie waren irgendwie ein einziges großes Tier, dessen Seele seine Wohnung in allen diesen kleinen Abbildern seines Körpers genommen und sich darin verteilt hat, denn irgendwie merkte ich, daß die ganze mächtige Versammlung von denselben Gedanken beherrscht wurde.


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