Anatomie der Katze. Poul Vad

Anatomie der Katze - Poul Vad


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geboren, sie war Schauspielerin gewesen und war als junges Mädchen in Heibergs Vaudevilles aufgetreten. Sie hieß Camilla und war voller Temperament. Sie brauchte eine größere Bühne als Kopenhagen, um sich entfalten zu können. Das Leben sollte jedenfalls nicht ohne Abenteuer abgebrannt werden. Das führte im Laufe von wenigen Jahren zu großem Elend. Ein Kind, das sie in Paris mit einem polnischen Violinvirtuosen zeugte, starb schnell. Sie reiste viel umher, aber irgendwie war sie von Paris eingefangen worden und kehrte immer wieder zu den dunklen Pförtnerlogen, den kalten und feuchten Wohnungen und zu der ganzen strahlenden und animierten Lebensentfaltung zurück, die so aufreizend auf ästhetische Gemüter wirkt, daß viele von ihnen lieber im größten Elend zugrunde gehen wollen, als sich unter Erhaltung eines gewissen Wohlseins in dem vertraulichen Frieden von eher stillstehenden Umgebungen durchzuschlagen.

      Nun war meine Neugierde geweckt worden, denn aus den Antworten auf meine Fragen konnte ich entnehmen, daß ich einer quicklebendigen Ausgabe der Schauspielerinnen gegenübersaß, deren phantastischen Schicksale die Geschichte der Familie illuminierten. Eine Tragödin war Camilla zwar nie gewesen, aber dafür hatte sie im wirklichen Leben mehr erlebt als die meisten. Der Höhepunkt, an den sie am liebsten zurückdachte und über den sie am liebsten sprach, waren die Schrecken, die sie in Paris während des Krieges und der Kommune erlebt hatte. Sie war vor den Nationalgardisten aufgetreten, das Pflaster der Straße war ihre Bühne, ein neues und dankbares Publikum huldigte ihr, diesem Publikum war es gleichgültig, daß ihre Kleider schon längst aus der Mode und immer wieder geflickt waren. Als der Hunger immer gräßlicher wurde, organisierte sie die Durchführung von radikalen Maßnahmen zu seiner Bekämpfung und zur Einführung von bisher nie gesehenen Gerichten auf der Tageskarte. Nachdem sie das erste Mal eine Katze gefangen, geschlachtet und zerteilt hatte, fühlte sie sich wie in eine Gemeinschaft des Elends aufgenommen, zu der Zugang zu erlangen nicht jedem gegeben war. Nun können sich die Katzen nicht mehr sicher wähnen, erklärte sie grimmig, und was euch betrifft, Kinder – so sagte sie zu den großen, halb verhungerten Mannsbildern –, so sollen meine beiden Hände euch in den nächsten paar Tagen schon Essen in eurem Bauch verschaffen.

      Während ich Camilla zuhörte, mußte ich unwillkürlich an Beatrices und meine Geschichte denken. Ich dachte an die große, geräumige Wohnung, in der Friedrich seine Tage geendigt hatte, an die Akademie, wo wir arbeiteten – und bis zu einem gewissen Grade zum Schein arbeiteten, denn niemand von uns bildete sich ein, ein großer Künstler zu sein, aber wann wurde es dann eigentlich Ernst? –, und an unsere Spaziergänge in der Stadt als Beobachter. Was für eine Rolle spielten unsere kleinen Leiden, wenn man an die Hungrigen und Verletzten von damals dachte? Wenn Camilla mit der Wirklichkeit fertig geworden war, war es dann nicht verächtlich und lächerlich von mir, aufgrund von Liebeskummer und einer zerfetzten Stoffpuppe den Untergang der Welt zu erleben? Waren das nicht alles Leiden, die nur deshalb eine so große Rolle spielen durften, weil sie von einer größeren, brutaleren, elementaren und anspruchsvollen Wirklichkeit abgetrennt waren – der Wirklichkeit, auf die Menschen im allgemeinen nun einmal angewiesen sind und die ab und zu von fürchterlichen Katastrophen in Form von Kriegen und Revolutionen getroffen wird? Ja, so verhält es sich ganz sicher, sagte ich zu mir, doch im nächsten Augenblick stieg Beatrices Bild vor mir empor, und ich wußte nicht mehr, wie es möglich sein sollte, die menschlichen Leiden zu klassifizieren – und ich weiß nicht, ob ich dabei an meine eigenen oder besonders an die ihren dachte. Doch noch heute durchfährt es mich eiskalt, wenn ich an ihr Gesicht denke, als sie mir die Reste der Stoffpuppe hinreichte, und irgend etwas in mir krümmt sich in Abscheu und Entsetzen, wenn ich daran denke, was ich an jenem Tag im Mülleimer verschwinden ließ.

      Camilla, die neben mir an die Zubereitung der enthäuteten und zerlegten Katzen dachte, gluckste vor Lachen und zeigte mir ihren zahnlosen Kiefer.

      Ja, so war das, sagte sie, aber niemand kann sich vorstellen, was ich damals erlebte.

      Die Schrecken und der Hunger in der belagerten Stadt waren unbeschreiblich, aber ich sage Ihnen, liebes Kind, da waren auch Mut und Stolz und eine Ausdauer, von der man nicht hätte träumen können. Ja, die wirklichen Schauspieler kennen das alles, das kann ich Ihnen versichern – gleichgültig, ob sie auf der Opernbühne stehen oder in dem kleinsten Kabarett, um nicht zu sagen auf der Freilichtbühne des schäbigsten Vorortviertels: Die wirklichen Schauspieler, die geborenen Gaukler, die sich dem eisernen Gesetz des Gauklerdaseins unterworfen haben – kleine Mädchen, die irgendwelche Lumpen mit Nadeln aufstecken, um wie Königinnen zu strahlen, und die die dummen Augen aller Zuschauer zwingen, diesen Strahlenglanz wirklich zu sehen –, die kennen es, weil sie an jedem Abend ihr Leben einsetzen und mehr Mut mobilisieren müssen, als ein kleines Menschenherz augenscheinlich fassen kann, doch gerade dazu ist das kleine Menschenherz ganz genau geschaffen worden. Und plötzlich waren alle Menschen imstande, den gleichen Mut zu zeigen, und die Barrikaden der Trümmer bildeten eine Szenerie, die nach Helden, wirklichen Helden rief – nicht nach Lügenmäulern, aufgeblasenen Offizieren, Advokaten oder Politikern, die von Heldenmut nur reden –, sondern nach ganz gewöhnlichen, kleinen zähen Helden, denen es schwerfällt, sich auszudrücken; denn die Szenerie war Wirklichkeit. Hier war es unmöglich zu kneifen, doch ach, wie wurde ich von dieser Wirklichkeit zerschlissen. Und entweder war ich nicht mutig genug, oder ich war einfach nur wie alle anderen auch, jedenfalls mußte ich ab und zu einen Ort finden oder irgendwo Zuflucht suchen, wo ich mich aufhalten konnte, ohne daß irgend jemand an mich Ansprüche stellte, auch ich selbst nicht.

      Eines Abends gehe ich so an der Seine entlang. Ich gehe unten am Kai entlang und denke, jetzt ist es fast so, als sei ich außer der Zeit: Hier fließt das Wasser faul vorbei und spiegelt den Abendhimmel. Hier sind keine Menschen, die um das Recht kämpfen, Atem holen zu dürfen, um das Brot und den Wein, um das Wort, um irgendwelche Grenzen – das Wasser fließt einfach vorbei, und mir ist alles egal, und ich versuche, es nachzuahmen. Eine Weile will ich alles durch mich hindurchfließen lassen, ich will wie ein Flußbett sein, durch das die Dinge einfach hindurchfließen können, und dann kommen die Sterne am Nachthimmel vielleicht auch zu mir und spiegeln sich in mir. Mit anderen Worten: Selbst inmitten des Lärms und der Katastrophe bin ich ein empfindsames Gemüt, ich brauche nur etwas Stille, nur die Einsamkeit einiger Minuten, und sofort bin ich bereit, mich solchen Träumereien hinzugeben. Aber dennoch, um die Wahrheit zu sagen – ganz hingeben konnte ich mich nicht. Irgendwo in meinem Hinterkopf schmerzte es immer weiter: Was wird morgen? Was mit meinen Freunden? Wo finde ich die Kraft, noch einen Tag zu ertragen? Wie soll ich den Glauben bewahren, und wie mache ich es, daß der Glaube und die Begeisterung in meine Beine strömen, so daß sie tanzen können? Denn es war wirklich ein Tanz für das Leben. Ich tanzte für die Verlorenen auf den Schanzen. Ich wollte tanzen, nicht, damit sie vergessen konnten – die Zerbrechlichkeit der Schanze, die Rücksichtslosigkeit der Übermacht, ihre eigene Todesangst vergessen –, sondern um sie noch mehr zum Leben zu erwecken, um den Traum in ihnen zu wecken, ihm Fleisch und Blut zu verleihen, ihn wild und unersättlich zu machen, und so ein Tanz ist vielleicht nicht der schwierigste – aber jedenfalls einer der schwierigsten überhaupt, den man auf sich nehmen kann. Sie verstehen sicher, daß das hier etwas ganz Neues für mich war, wo ich doch meist in Operetten und solchen Sachen aufgetreten war. Aber ich hatte es in mir, wenn ich das sagen darf.

      Na, das aber war also der Grund: Ich hatte mir zwar so einen freien Abend genommen und ließ meine Gedanken zur Ruhe kommen und versuchte, dieses Flußbett zu werden, das die Dinge dahinströmen läßt, ohne einen Unterschied zu machen, ohne zu verschmähen und zu verwerfen, ohne zu verurteilen, ohne mich vor ihnen zu ängstigen oder mich darüber aufzuregen, um ein so blanker und lebendiger Spiegel zu werden, wie es die Sterne nun einmal verlangen – hören Sie, bin ich nicht poetisch? So war es tatsächlich –, jedoch wollte es mir letzten Endes nicht wirklich gelingen.

      Das ist aber auch der verdammte Krieg, sagte ich zu mir. Weshalb habe ich mich nicht in Wien oder in London oder in Rom niedergelassen – irgendwo, wo kein Krieg ist. Und weshalb sitze ich hier in Paris in der Falle und tanze mir die Füße blutig für diesen verdammten Pöbel, auf ihrem harten Pflaster, statt irgendwo auf den glatten Brettern einer Bühne aufzutreten, hinter deren strahlendem Rampenlicht ich die Minister, Fürsten und Generäle des Parketts und diese Damen da ahnen kann, deren Köpfe allesamt berühmten Skulpturen ähneln, wie man sie jedes Jahr im Salon sieht, weil das Haar hochgekämmt ist und so einen Aufsatz bildet, der auf dem Kopf ruht und ihn verlängert


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