Als wäre nichts geschehen. Walther von Hollander

Als wäre nichts geschehen - Walther von Hollander


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nicht, den sie Doktor nennen. Doktor Conni. Und er malt immer wieder in Blockbuchstaben auf die schmierigen Postkarten die gleiche Adresse: Dr. Ilse Brederopp, Berlin-Wilmersdorf, Kaiserallee 12. Aber er bekommt keine Antwort. Frauen haben eben keine Phantasie. Und wenn sie gekränkt sind, werden sie grausam, dumm, blind und taub. Über die Schwerhörigkeit des Herzens hat der junge Brederopp mal einen glänzenden Artikel geschrieben. Stimmte großartig.“

      Hilla lachte freundlich. Und Brederopp winkte ab: „Lassen wir doch den alten Kohl. Kapusta auf russisch. Er ist längst gegessen, verdaut, vergessen.“

      Jetzt wurde Hilla ärgerlich: „Ich denke, Sie sind ein Psychologe? Nichts haben Sie vergessen und gar nichts verdaut. Also reden Sie schon. Eines Tages bekamen Sie doch einen Brief. Und was stand drin?“

      „Blödsinn“, fauchte Conrad.

      „Genauer: Was für ein Blödsinn?“

      „Lieber Conrad, ich gebe Dich frei für Emmy. Deine Ilse.“ Und ich habe ihr geantwortet, postwendend sozusagen, d. h. nach vierzehn Tagen: „Sehr liebenswürdig. Leider geben mich die Russen nicht frei. Übrigens: Wer ist Emmy?“

      „Na, und wer war Emmy?“ fragte Hilla lächelnd.

      „Das habe ich mich auch gefragt“, murrte Conrad, „man hat ja dort Zeit. Man kann sich immer wieder die gleichen blödsinnigen Fragen stellen. Wenn man die Äste von den Bäumen schlägt. Wenn man die Säge hin- und hergleiten läßt. Wissen Sie: zuerst habe ich immer auf die Säge gedrückt, bis ich Schwielen hatte. Aber dann habe ich es gelernt, sie elegant anzufassen, ganz zart wie ein leichtes Mädchen. Macht eigentlich Spaß, wenn die Zähne sich durchs Holz fressen. Nur ein bißchen sinnlos. Hat man ein Ende abgesägt, ist das nächste Ende dran und nach dem nächsten wieder das nächste. Zehn Stunden, zwölf Stunden, bis das ständig wachsende Soll erfüllt ist. Und zum Lohn aufgewärmte Kohlsuppe abends. Kapusta in Wasser. Oder Kascha: eine Grütze, die den Hals auszementierte. Beim Sägen: Wer ist Emmy? Beim Stämmeschleppen: Wer ist Emmy? Beim Essen: Wer ist Emmy? Wenn man nicht schlafen kann, weil die anderen schnarchen oder träumen: Wer ist Emmy?“

      „Herrgott ... das mußte doch rauszukriegen sein, wer Emmy ist“, sagte Hilla ungeduldig, „oder haben Sie die Damen bundweise verzehrt wie die Spargel?“

      „Spargel bekommen wir nicht“, lachte Conrad knabenhaft, „ich habe empfindliche Nieren. Aber schließlich habe ich’s doch rausgekriegt. Emmy war eine Patientin von mir. Eine ansehnliche Dame. Ungemein blondlockig, stupsnasig, mit flinken Mausaugen, von jenem Alter, wo’s Alter unbestimmt wird. Eine, die ungeheuer viel reden mußte. Sie konnte es sich leisten, eine Stunde, zwei Stunden im Sprechzimmer bei mir zu sitzen. Der Herr Gemahl fabrizierte Zahnpasta und zahlte gern jede Rechnung. War froh, daß er das alles nicht anhören mußte. Außerdem schrieb sie viele Briefe. Erst höfliche, dann ausführliche, dann abgründige, dann Liebesbriefe. Gehört zu meinem Beruf. Ich habe sie nachher nicht mehr gelesen. Gehört auch zu meinem Beruf. Ich denke mir, so einen Brief hat Ilse gefunden. Sie ist sehr ordentlich, und meine Anzüge wurden alle vier Wochen geklopft. Da hat der Teppichklopfer wahrscheinlich den Brief herausgeklopft. Das ist alles. Oder ich müßte im Traum mit ihr geschlafen haben.“

      Er stand mit einem Ruck auf. Er trat auf Hilla zu. „Sagen Sie selbst: ist das verzeihlich? Wegen so einem Dreck einem Mann hinter Stacheldraht so was zu schreiben?“ Damit drehte er sich um und ging ins Haus. Seufzend sah Hilla ihm nach. Verständlich ist es, dachte sie. Aber nicht verzeihlich. Und nach einer Weile: Nein, es ist auch nicht verständlich. Warum gehen die Menschen so schauderhaft miteinander um?

      In diesem Augenblick schlug die Standuhr oben im Wohnzimmer elf. Aus dem großen Atelier, abseits des Hauses, kamen Hohmanns Angestellte, von ihm „die Sklaven“ genannt. Bruhn, der erste Assistent, klein, langlockig, schmallippig, mit jenem hochmütigen Zug, den die ersten Mitarbeiter so oft haben, weil sie mehr zu können meinen als die Chefs und weil es ihnen bestimmt ist, nie ein Chef zu werden. Dahinter, klein, breit und pummelig, mit bronzebraun geschminktem Gesicht und rubinroten Lippen, Carla Pfeiffer, die Sekretärin schon aus Berliner Tagen, die unentbehrliche Kraft, kaltschnäuzig, warmherzig, unbedenklich in Worten und Taten, frech und tüchtig. Dann drei technische Zeichner ohne Gesicht und eigentlich auch ohne Namen, tüchtige, schlechtbezahlte junge Männer in weißen Kitteln, und schließlich, nur zögernd in die Sonne tretend, „die Neue“: Christina Keller, eine Gutsbesitzerstochter aus Mecklenburg, die sich hier ihr Geld zum Studium an der Kunstakademie verdiente, eine zierliche hochbeinige Frau, nein, ein Mädchen, in dessen helles, schmales Gesicht dunkle Erfahrungen eingezeichnet waren. Oder schien es Hilla nur so, weil Hannes, ihr Mann, von den trüben Kriegserlebnissen Christinas erzählt hatte? Nun — er erzählte immer etwas übertrieben. Er machte sich gern ein dramatisches Bild von Menschen, vor allem von Frauen. Hilla sah zu Christina hinüber. Sie stand abseits von den anderen, die lärmend und fröhlich schwätzten, halb abgewandt, beide Arme auf den Zaun gestützt, und starrte unbewegt auf die Baumwipfel am Abhang. Ein hübsches Bild, dachte Hilla, aber kein fröhliches.

      Oben vom Balkon rief Hannes Hohmann nach ihr. Da stand er: riesig, breit, vergnügt. Sein rötlicher Assyrerbart glänzte in der Sonne. Er trug seine neuen schokoladenfarbenen Hosen, ein silbergraues Jackett aus grobem Stoff, ein mädchenhaft-rosa Seidenhemd und ein grasgrünes Schmetterlingsschleifchen davor. Wie immer war er zu bunt, zu lustig, zu auffällig angezogen für einen Mann von fünfundvierzig Jahren, und wie immer rief er mit seiner lustigen, zu hellen Stimme: „Ich fahr’ in die Stadt, Hillachen. Nicht warten. Weiß der Deibel, wie lange es dauert. Was mitzubringen?“

      Und Hilla, die Schüssel mit den Bohnen unter dem Arm, den schönen Kopf über dem häßlichen Sommerkleid zum Balkon erhoben, antwortete: „Danke schön. Ich brauch’ nix, und beeil dich nicht mehr als nötig.“

      Hohmann beugte sich über das Balkongeländer. Er schrie ärgerlich: „Warum du wohl nie Wünsche hast? Wenn ich dir wenigstens ’n kleenen Mohren besorgen dürfte, der die Zimmer aufräumt und die blödsinnigen Bohnen schnippelt.“ Hilla lachte: „Ach ... dann hätte ich nichts mehr zu tun. Wäre gräßlich.“ In diesem Augenblick fiel es ihr ein, daß die meisten Männer unentschlossene Geschöpfe sind und daß man sie zuweilen stupsen muß, damit sie das tun, was sie sollten. Sie rief: „Du kannst doch was für mich tun. Nimm Conrad mit hinein. Du fährst doch über Wandsbek?“

      „Über Wandsbek? Nanu, was will er denn in Wandsbek?“

      „Seine Frau besuchen.“

      „Was? So plötzlich eheliche Absichten?“

      „Ja, aber ganz genau weiß er’s noch nicht. Also nimm ihn untern Arm und setz ihn in Wandsbek ab!“

      „Gemacht“, sagte Hannes, „du bist eine tolle Frau.“

      Damit verschwand er vom Balkon. Hilla hörte seine Elefantenschritte die Treppe hinunterstampfen, hörte ihn nach Conrad rufen, hörte das aufgeregte Murmeln der beiden Männer, das dröhnende Gelächter Hohmanns, hörte das Auto anspringen. Sie lief ums Haus und sah, durch den Taxusbaum verdeckt, wie das Auto abfuhr. Conrad saß steif und ablehnend neben Hannes. Hannes redete eifrig auf ihn ein.

      2

      Wandsbeker Wiedersehen

      Unmittelbar neben dem Arztschild „Dr. med. Ilse Brederopp“ hielt das Auto. Conrad stieg aus und sah zu den Geranien hinauf, die in der Herbstsonne hellrot leuchteten. Hannes beugte sich zum Wagen hinaus. Er sagte mit gedämpfter Stimme, so berlinerisch, wie er immer sprach, wenn er erzieherisch wirken wollte: „Also, Mensch, Kopp klar, Nacken steif. Und gleich, wenn de reinkommst, dreimal mit de Faust ornlich aufn Tisch jekloppt, daß de Bleistifte aus der Schale hüppen und de wohljeordneten ärztlichen Bestecke det Klappern kriegen. Männlich, männlich. Det allein imponiert den Damens.“

      Dann schnurrte das Auto davon. Conrad ging schnell ins Haus. Er wußte, daß er umkehren würde, wenn er auch nur einen Augenblick nachdachte. Denn es war doch offensichtlicher Blödsinn, was er jetzt machte. Seit Wochen schrieb er schon an einem Brief für Ilse. Einem feinabgewogenen, objektiven, außerordentlich kühlen Brief, in dem er ihr klarlegte, daß sie eigentlich nie zusammengepaßt hätten und daß „jenes


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